Maria Wurm: Musik in der Migration. Beobachtungen zur kulturellen Artikulation türkischer Jugendlicher in Deutschland, Bielefeld: transcript 2006, 248 S., ISBN 978-3-89942-511-6, EUR 25,80
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Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit der Bedeutung von Musik im Leben von Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergund. Es fragt gewissermaßen nach dem Soundtrack deutsch-türkischer Migrationsbiographien. Empirische Basis des Buches, das auf Maria Wurms Doktorarbeit im Fach Kulturanthropologie basiert, ist qualitative Feldforschung der Autorin.
Jeder, der am Leben von türkischen Migranten teilhat, weiß, dass Musik in ihrer Welt eine wichtige Rolle spielt; sie begleitet Menschen bei der Arbeit, die Autofahrt von Familien, darf auf keiner Feier fehlen und ist fest eingebunden in den Alltag. Doch was genau wissen wir über den Musikkonsum türkischer Jugendlicher außer, dass es ihn gibt? Und welche Bedeutung kommt Musik als kultureller Artikulation dieser Gruppe zu? Was bedeutet ihnen ihre Musik?
Ausgangspunkt des Buches ist die Frage nach der von der Autorin beobachteten hohen Bedeutung türkischer Musik für viele Migranteninnen und Migranten aus dem studentischen Milieu. Diese Gruppe ist dabei aus mehreren Gründen interessant: Ihr Konsum türkischer Musik kann nicht einfach als Abschottung und als Ablehnung der deutschen 'Leitkultur' betrachtet werden, denn zum einen haben sie an der deutschen Gesellschaft teil und zum anderen ist türkische Musik bei ihnen nur eine rezipierte Musikrichtung unter anderen. Dies wirft die Frage nach der spezifischen Funktion und dem Gebrauch türkischer Musik in dieser Gruppe auf, die Maria Wurm kulturanthropologisch zu ergründen verspricht. Dabei sollte dem Leser vielleicht von Anfang an bewusst sein, dass Musik von der Autorin als Bestandteil des alltäglichen Lebens verstanden wird und ein großer Teil des Buches dem Leben und den Einstellungen dieser Gruppe gewidmet ist. Wir erfahren also über das Leben dieser, in der Forschung wenig beachteten Gruppe, weit mehr als lediglich ihren Musikkonsum. Und bezüglich des Musikkonsums können auch nicht alle Fragen erschöpfend geklärt werden.
Da Konsum von Popmusik ein Jugendphänomen ist und in dem hier analysierten Fall unter den Bedingungen von Migration stattfindet, steht das erste Kapitel im Zeichen der Erarbeitung eines griffigen theoretischen Rahmens, der nach der Bedeutung und Funktion populärer Musik in der Jugendkultur fragt, die Terminologie festlegt und einen wichtigen Abschnitt zur Entstehung des relativ jungen Phänomens der türkischen Popmusik und zur Geschichte türkischer Medien und Musik in Deutschland gibt. Berührungspunkte des Untersuchungsgegenstandes mit der Medienforschung, der Migrations-, Transnationalismus- und Lebensstilforschung werden dargelegt.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den Befragten selbst. Hier offenbart die Arbeit ihre Originalität, indem sie stark von den Schwerpunkten der Migrationsforschung abweicht, die sich oft auf die 'Problemfälle' konzentriert. Die Autorin beschäftigt sich ausdrücklich mit den 'unauffälligen', sozial erfolgreichen Jugendlichen, die sowohl sprachlich als auch hinsichtlich ihrer formalen Bildung als integriert gelten können. Für diejenigen, die nicht mit der Arbeitsweise der Kulturanthropologie vertraut sind, werden die Auswahlkriterien der Befragten, auf knapp zwei Seiten (73, 74) nicht umfassend erklärt.
Die allgemeine Vorstellung der Befragten liefert biographische Grunddaten zu Herkunft, Bildung und Wohnsituation dieser für die Migrationsforschung eher untypischen Gruppe. Hier ist beispielsweise interessant, dass die Mehrzahl der weiblichen Interviewten außerhalb des Elternhauses lebt. In diesem Teil erhält der Leser Einblick in die Ansichten der Befragten zu Familie, zur Funktionsweise innerfamiliärer Prozesse wie das Aushandeln von Freiheiten sowie in die gelebte Praxis von Bilingualität für Jugendliche, für die Deutsch die am besten beherrschte Sprache ist.
Das dritte Kapitel wendet sich der Praxisebene zu, d.h. dem individuellen Musikkonsum. Auffällig ist, dass es wenige allgemeingültige Muster der individuellen musikalischen Sozialisation sowie der gegenwärtigen Nutzung von Popmusik gibt. Die Befunde erweisen sich als durchweg heterogen, generell ist für alle Interviewten festzustellen, dass sie in beiden Musikwelten, also der westlichen wie der türkischen, zuhause sind und ihre eigenen individuellen Auswahlkriterien für die Musikwahl haben. Hier hätte auf Parallelen zu Jugendlichen ohne Migrationshintergrund bei der Auswahl ihres eigenen Mixes hingewiesen werden können.
Sehr aufschlussreich ist die Darstellung der Möglichkeiten des öffentlichen Konsums türkischer Popmusik. Maria Wurm gibt Einblick in die ethnisch recht homogene türkische Club- und Diskoszene, ihre Geschichte und die sozialen Codes, denen sie unterliegt. Interessant ist, dass die Befragten 'deutsche' Diskotheken insgesamt häufiger besuchen und mit steigendem Alter die Bedeutung türkischer Diskotheken abnimmt, wenngleich die türkische Disko auch dann noch eine wichtige Bedeutung hat. Ob es aber nur die Musik ist, die diese attraktiv macht oder vielleicht primär das Gefühl, als Türke hinsichtlich Sprache, Tanzstil und Musik ausdrückliche Zielgruppe zu sein, bleibt in den Interviews offen.
Das vierte Kapitel bildet den Schwerpunkt des Buches, da der Leser nun Einblick in die individuelle Bedeutungsebene der Musik bekommt. Bedeutung bezieht sich hierbei auf die Texte der Musik, aber auch auf den Stellenwert der Musik im Alltag. Wie für das studentische Publikum zu erwarten, gibt es eine grundsätzlich kritische Haltung zur Idealisierung von Interpreten. Interessant für die politische Sozialisation ist die Bedeutung von Protestmusik, die im türkischen studentischen Milieu ein wichtiger Bestandteil des Lebensstils ist und bei einigen Interviewten viel zu einer kritischen Betrachtung der Türkei beiträgt. Die Vorbildfunktion türkischer Studenten in der Türkei für den Musikgeschmack wird mehrfach angerissen, sie taugen als Vorbilder für einen Lebensstil, der denen der Befragten nahe kommt.
Die entscheidende Bedeutung der türkischen Musik zeigt sich jedoch in ihrer emotionalen Qualität. Musik wird allgemein als Stimmungsmittel gewählt, um bestehende Emotionen zu verstärken oder aber auch von ihnen abzulenken. Der türkischen Musik wird von den Befragten also eine spezifische Qualität zugesprochen: Sie setzen diese als Stimulus für bestimmte Gefühle ein, Emotionen wie Trauer und Liebe werden von dieser Musik durch Text, Melodie oder Videoclips hervorgerufen. Ausgehend von der These, dass Gefühle gelernt werden und spezifische Verpackungen zur Evotion brauchen (167 f.), verdeutlicht die Autorin, warum die türkische Musik in der Lage ist, diese bestimmten Gefühle bei den Interviewten hervorzurufen. Türkisch als Sprache der Familie, als Sprache des Landes, des Sommerurlaubs sowie als Sprache im Freundeskreis ist für die Interviewten eindeutig positiv konnotiert. Der deutsch- und englischsprachige Kontext ist indes mit der Welt der Schule und des Berufs verbunden. Anstelle von Geborgenheit und Sicherheit finden sich in dieser Sprachebene auch Ablehnungserfahrungen, die alle Interviewten erfahren haben. Der deutschen Gesellschaft werden Arbeit, Fleiß und Pünktlichkeit als gute Charaktereigenschaften zugesprochen, das Emotionale ist aber in der türkischen Gesellschaft zuhause. Dabei wird die türkische Gesellschaft durchaus für Unorganisiertheit und Unzuverlässigkeit kritisiert. Die emotional positive Konnotierung des Türkischen lädt türkische Musik emotional auf, sie wird grundsätzlich anders erlebt und emotional anders genutzt.
Das fünfte Kapitel setzt den Musikkonsum in Beziehung zum Leben der Befragten und fragt nach der eigenen Verortung in der deutschen Gesellschaft. Die Jugendlichen sehen sich selbst als Produkt einer türkischen und deutschen Sozialisation. Hierbei blicken sie kritisch auf beide Seiten und suchen zwischen verschiedenen Orientierungsmöglichkeiten aus. In der Selbstvorortung steht das Problem, 'anders zu sein', im Vordergrund. Alarmierend ist die Erkenntnis, dass die Mehrzahl der Interviewten sich trotz ihrer formalen Integration als zur deutschen Gesellschaft nicht dazugehörig empfunden sieht (189-200). Sie rechnen sich selbst zwar dazu, fühlen sich aber nicht angenommen. Insgesamt ist bei den Befragten eine sehr differenzierte Haltung gegenüber einfachen Modellen von Identität zu beobachten. Dies macht sie gleichermaßen kritisch gegenüber einem türkischen Identitätsmodell wie dem einer deutschen 'Leitkultur'.
Zusammenfassend ist trotz sehr unterschiedlicher Lebensentwürfe der Interviewten festzustellen, dass das Hören der türkischen Musik ein Mittel der Wahl darstellt, bestimmte Lebensbereiche mit positiven Gefühlen zu füllen, die aus den angesprochenen Gründen mit dieser Musik verbunden sind. Dies hat bei ihnen nichts mit einer Ablehnung Deutschlands oder der Idealisierung der Türkei zu tun. In ihren Biographien und im täglichen Leben ist das Türkische enthalten, manchmal selbst gewählt, manchmal von außen attribuiert.
Insgesamt ist das Buch durch den engen Praxisbezug sehr gut lesbar und nicht nur für ein Fachpublikum geeignet. Es ist eine Momentaufnahme der Befindlichkeiten einer Generation und aus diesem Grund eine Wegmarke, die folgende Arbeiten berücksichtigen müssen. Das Fazit des Buches wirft neue Fragen auf, an die die weitere Forschung anschließen kann, z.B. mit Blick auf die Funktionsweise von Sprache und ästhetischen Codes in der Musik zur Evotion von Gefühlen. Auch könnte der Ansatz auf solche Jugendlichen angewandt werden, die in der intensiven Beschäftigung mit dem Islam eine Möglichkeit emotionaler Verstärkung finden. Am Ende wird deutlich, dass das Leben der Interviewten einen Soundtrack hat, in welchem passend zur Biographie das Leben mal mit türkischer, mal mit westlicher Musik unterlegt wird. Die wichtige Erkenntnis der Arbeit für die Integrationspolitik ist, dass allein der Konsum von türkischer Musik nicht integrationshinderlich ist und dass Bildung allein nicht der viel beschworene Schlüssel zur Integration ist. Die Integrationsbemühungen müssen auch von der deutschen Gesellschaft angenommen werden.
Bekim Agai