Rezension über:

Verena Postel (Hg.): Arbeit im Mittelalter. Vorstellungen und Wirklichkeiten, Berlin: Akademie Verlag 2006, 277 S., ISBN 978-3-05-004098-1, EUR 59,80
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Rezension von:
Uta Kleine
FernUniversität Hagen
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Uta Kleine: Rezension von: Verena Postel (Hg.): Arbeit im Mittelalter. Vorstellungen und Wirklichkeiten, Berlin: Akademie Verlag 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 3 [15.03.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/03/8436.html


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Verena Postel (Hg.): Arbeit im Mittelalter

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Arbeit, verstanden als Unterhalt stiftendes Tun, ist eine Grundbedingung menschlicher Existenz. Ein sozialgeschichtlicher Forschungsgegenstand par excellence also, der aber bislang nur in der französischen Mediävistik fest etabliert ist. Es ist das Verdienst der Herausgeberin, mit dem anzuzeigenden Band zur "Arbeit im Mittelalter" dem Thema auch hierzulande einen Platz einzuräumen. Die teilweise grundlegenden Beiträge wurden erstmals auf einer interdisziplinären Tagung vorgestellt, die im Jahr 2002 unter dem Titel: "Arbeit in der Wahrnehmung des Mittelalters" bei Marburg stattfand. 13 Autorinnen und Autoren aus der historischen Mediävistik, aus Altertumswissenschaften, Rechts-, Kunst-, Technik-, Medizingeschichte und Musikwissenschaft geben aus höchst unterschiedlicher Warte Einblicke in Vorstellungs- und Lebenswelten von 'Arbeit' zwischen Antike und Spätmittelalter.

Eine solche Vielfalt von Perspektiven eröffnet Chancen, birgt allerdings auch das Risiko einer gewissen Beliebigkeit der Themen und Ansätze. Dies umso mehr, als die Herausgeberin auf eine systematische, begriffliche und sachliche Selbstverständigung über den Untersuchungsgegenstand und seine modernen bzw. vormodernen Sinngehalte verzichtet hat. Gleichwohl liegt es auf der Hand, dass mit der 'Arbeit' kein gleich bleibender Gegenstand ins Visier der Forschung gerät, sondern streng genommen ein modernes Sozialkonstrukt, für das weder Antike noch Mittelalter ein treffendes Synonym kannten. Während 'Arbeit' im heutigen Sprachgebrauch als positiv konnotierter Kollektivsingular für alle Formen marktvermittelter, berufsmäßig ausgeübter und entlohnter Erwerbstätigkeit steht, verwischen sich in der Vormoderne ihre Spuren. Begrifflichkeit, Sozialformen und Bewertungsmuster - nur Weniges hiervon entspricht dem uns Vertrauten. Menschliches Unterhaltshandeln war in andere als ökonomische Strukturen eingebettet.

Immerhin hat sich die Herausgeberin in ihrer Einleitung (7-20) auf zwei grundsätzliche methodisch-konzeptionelle Entscheidungen festgelegt, die im folgenden Beitrag von Hans-Werner Goetz noch einmal vertiefend dargelegt werden (21-34): Postel stellt die wahrnehmungsgeschichtliche Perspektive in den Mittelpunkt des Interesses und möchte zugleich Le Goffs prominente These von der Aufwertung ('valorisation') der Arbeit im Hochmittelalter relativieren. Ziel ist es, "den komplexen Deutungshintergrund von Arbeit im Mittelalter" auszuleuchten, "der durch die Bibel und die antike Philosophie, aber auch durch die spätantike Praxis der Arbeitsverhältnisse geprägt war" und nachzuweisen, dass "hier lediglich Bedeutungsformen fortgesetzt [wurden], die seit der Spätantike [...] eingeführt waren" (10).

Im Folgenden sollen vor allem diejenigen Aufsätze besprochen werden, die sich in dieses Programm fügen. Die Beiträge zur Arbeitspraxis (Dietrich Lohrmann über die Einführung der archimedischen Schraube in der Frühen Neuzeit, 171-186, und Horst Kranz zum Verhältnis von Arbeit und Kapital im Lütticher Steinkohlenbergbau, 187-202) müssen ebenso außen vor bleiben wie diejenigen, die einen modernistischen Arbeitsbegriff zugrunde legen (Laurenz Lütteken zum Arbeitsverständnis in der Musik, 211-220 und Kay-Peter Jankrift zur Heilkunst, 203-210).

Mit den antiken, jüdisch-christlichen und paganen Bedeutungstraditionen befassen sich die Beiträge von Bernhard Lang (35-56) und Johannes Engels (57-78). Engels überträgt 'Arbeit' ins antike Begriffsfeld von Mühsal (ponos/labor), Werk (ergon/opus) und Können (techne/ars) und verortet sie im Kontext einer nach gesellschaftlicher Tugend (arete/virtus) und produktiver Muße (otium/schole) strebenden Gesellschaftsspitze, die sich zur Hervorbringung des Lebensnotwendigen in erster Linie fremder, als abhängig verachteter Arbeit bediente. Doch ein genauerer Blick auf die philosophischen Schriften modifiziert das verbreitete, aber statusgebundene Bild von der antiken Ächtung körperlicher Arbeit, das in erster Linie auf die Standpunkte von Sokratikern und Peripatetikern zurückgeht. Bei Sophisten, Stoikern und Kynikern hingegen finden sich durchaus positive Bewertungen körperlicher Arbeit als Weg zur sittlichen Selbsterziehung. Mit der christlichen Arbeitsethik stehen sie allerdings in keiner direkten Verbindung; hierfür stellte seit der Spätantike vielmehr das ambivalente Arbeitsverständnis der Bibel den zentralen Bezugsrahmen dar (Lang). 'Arbeit' ist zum einen die leidvolle Folge des menschlichen Sündenfalls (und zugleich das Mittel seiner Überwindung), und zum anderen die Nachahmung des göttlichen Schöpfungswerkes - ein Bewertungskonflikt, der seine Fortsetzung im Neuen Testament findet, wo dem paulinischen Handwerker-Ethos ("Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen") das wirtschafts-, arbeits- und weltfremde Verhalten des charismatischen Wanderpredigers Jesus von Nazareth gegenübersteht (53).

Diese Ambivalenz durchzieht auch das mittelalterliche Begriffsfeld von labor und ar(e)beit, das Thomas Haye (anhand von lateinischen Sprichwörtern, 79-90) und Wolfgang Haubrichs (anhand der mittelhochdeutschen Dichtung, 91-106) entfalten. Allerdings kommt es im Hochmittelalter zu einer folgenreichen Umwertung: Neben der Hand- und Landarbeit werden nun auch geistige Tätigkeiten (sacerdotium non est otium, 86) und höfische Beschäftigungen (Minnedienst, Kampf und ritterliche aventiure als arbeit umbe êre, 99) zunehmend als 'Arbeiten' im Sinne einer mühseligen und zugleich produktiven Bußanstrengung verstanden.

Mit der normativen Ordnung von Arbeit zwischen Früh- und Spätmittelalter befassen sich die Beiträge von Gerhard Dilcher (107-132) und Klaus Schreiner (133-170). Dilcher untersucht Rechts- und Sozialformen von Arbeit im Spiegel von ländlichen und städtischen Rechtsordnungen und beschreibt ihren Wandel vom Status zum Kontrakt. Die ländliche Arbeit im Früh- und Hochmittelalters (Volksrechte, Kapitularien, Urbare, Hofrechte) blieb eingebunden in die "natürliche" Sozialordnung, die vom familiären Rechtsmodell der patria potestas und von der herrschaftlichen Idee des servitiums bestimmt war. Aus ihrem Schatten traten seit dem 12. Jahrhundert zunehmend freie, vertraglich gebundene Dienst- und Arbeitsverhältnisse, insbesondere im städtischen Handwerk und im Bergbau. Vor dem Hintergrund neuer Lebens- und Wirtschaftsformen und befördert durch die Rezeption des römischen Rechts, wandelte sich die Unfreiheit und Mühsal der ländlichen 'Arbeit' zur Würde des städtischen 'Amtes'. Es steht zu vermuten, dass diese Entwicklungen für das moderne Arbeitsverständnis mindestens ebenso folgenreich waren wie das von Weber, Foucault und anderen so gerne in Anspruch genommene Arbeitsethos des abendländischen Mönchtums. Anhand einer Durchsicht von hoch- und spätmittelalterlichen Ordensregeln relativiert Schreiner den Topos von der kultur- und zivilisationsbildenden Reichweite der benediktinischen Lebens- und Arbeitsformen. Bereits bei den hochmittelalterlichen Reformorden stand nicht die Arbeit selbst im Vordergrund, sondern ihre liturgische Inszenierung (144); und das zisterziensische Ideal einer wirtschaftlichen Autarkie durch herrschaftsfreien labor proprius scheiterte bekanntlich ebenso wie das franziskanische Ideal des Broterwerbs durch Lohnarbeit. Stattdessen ersetzten alle großen Orden langfristig die körperliche Arbeit durch geistige Tätigkeiten (Schreiben und Lesen, Gebet und Predigt) (169f.).

Wichtige Ergänzungen zu diesem historisch orientierten Panorama bieten die kunst- bzw. bildgeschichtlichen Beiträge von Ute Dercks zur Darstellung der Monatsarbeiten in der oberitalienischen Portalskulptur des beginnenden 13. Jahrhunderts (221-244) und von Gerhard Jaritz zur Verbildlichung der Arbeit im religiösen Bildgut des Spätmittelalters (245-264). Auch in der Ikonografie ist die Tendenz zur Verdeutlichung körperlicher Arbeit im Hoch und Spätmittelalter unübersehbar. Gleichzeitig zeigt sich hier wie auch andernorts die Zunahme des moralisierenden Diskurses um und über die rechten Formen des Arbeitens.

Fazit: Dies ist ein Band, der neugierig macht auf ein von der deutschen Mediävistik bislang sträflich vernachlässigtes, gleichwohl elementares und zugleich hochaktuelles Forschungsfeld. Hier erste Anstöße und zugleich substantielle Beiträge geliefert zu haben, ist das Verdienst der Autorinnen und Autoren sowie der Herausgeberin. Doch was die Tragfähigkeit der Eingangshypothese angeht, sind Zweifel angebracht: Die These Le Goffs konnte auch dieser Band nicht überzeugend ausräumen. Auch im Lichte der hier versammelten Untersuchungen erweist sich das Hochmittelalter, insbesondere das 12. und 13. Jahrhundert, als Zeit entscheidender Neubestimmungen und Differenzierungen im Bereich der Arbeit: begrifflich, ideologisch, aber auch der Sache nach. Hätte man wirtschaftliche Aspekte hinzugenommen, hätte sich ein weiterer Aspekt der "Valorisierung" aufgetan: die zunehmende Ökonomisierung der Arbeit, oder genauer, der Arbeitsresultate, in Form des 'gerechten Preises'.

Uta Kleine