Christian Hesse: Amtsträger der Fürsten im spätmittelalterlichen Reich. Die Funktionseliten der lokalen Verwaltung in Bayern-Landshut, Hessen, Sachsen und Württemberg 1350-1515 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; Bd. 70), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 976 S., 8 Tab., 3 Graf., 13 Karten, ISBN 978-3-525-36063-7, EUR 129,00
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Dieses etwa 1,5 Kilogramm wiegende Buch ist im übertragenen Sinne auch dann gewichtig, wenn man es um seine rund die Hälfte des Gesamtumfangs ausmachenden Beleg- und erschließenden Teile reduziert (deren Ausgliederung vorbehaltlich des dann wohl höheren Preises dem Benutzer sehr entgegengekommen wäre). Zwar relativiert der Untertitel sofort die spontane Erwartung, hier könnte schlechthin "der" deutsche Amtmann (resp. dessen Äquivalente) seine überfällige Analyse erfahren. Sobald man sich die territoriale Vielgestaltigkeit des deutschen Spätmittelalters mit ihren jeweils individuellen Ausgangsbedingungen in Erinnerung ruft, kann diese Erwartung auch dann nichts anderes sein als eine Wunschvorstellung, wenn die lang gestreckten Prozesse letztlich doch ähnliche Ergebnisse hervorgebracht haben. Hybrid, das muss man klar sagen, war bis zum Erscheinen dieser Untersuchung schon die Hoffnung, ein Einzelner könnte fern der gängigen Praxis über ein einziges Territorium hinaus komparatistisch mehrere Territorien in den Blick nehmen, deren Vergleichbarkeit er erst einmal herstellen müsste. Dieses durch ein gleichermaßen vielgestaltiges wie sprödes und von ihm um ca. 6000 Biogramme lokaler und zentraler Amtsträger (483-859) weiter vermehrtes Quellenmaterial [1] noch gesteigerte Wagnis hat Hesse gleich für vier sehr unterschiedlich strukturierte weltliche Fürstentümer unternommen, und dies auch noch für einen ausgesprochen langen historischen Zeitraum. Es hat sich in zweifacher Hinsicht gelohnt. Erstens fächert Hesse nach der im ersten Teil erfolgten Vorstellung der Bildung von Amtsbezirken und der darin entstehenden Verwaltungsfunktionen (wie Rentmeister, Schösser, Vogt oder auch Mautner und Geleitsmann, Rent- und Gegenschreiber) seinen institutionengeschichtlich-prosopografischen Ansatz derart überzeugend auf, dass man von einer paradigmatischen Grundlegung sprechen wird. Und zumal er sich in der Durchführung weder methodisch noch analytisch irgendeine Blöße gibt, weisen seine zahllosen Ergebnisse zweitens weit über den Einzelfall hinaus auf die reichsstrukturelle Gesamtebene. An ihnen hat sich die weitere Beschäftigung mit territorialer Lokalverwaltung, hat sich das künftige Streben nach dem Idealtyp "des" Amtmannes und damit nach dem konkreten Werden des die Frühe Neuzeit dominierenden Fürstenstaats zu orientieren.
Indem der Verfasser im zweiten Teil der Arbeit die maßgebliche Rolle diagnostiziert, die aufstrebende Teile des Bürgertums der landesherrlichen Städte im "Treibhaus des modernen Verwaltungsstaats" (Wilhelm Ebel) gespielt haben, widerspricht er weder der Theorie der parallel wirkenden Wurzelböden Fürst und Hof, Stadt und Kirche etc., wie sie etwa Dietmar Willoweit in der "Deutschen Verwaltungsgeschichte" vertritt, noch stimmt er der auf eine über hundert Jahre alte These Georg von Belows zurückgehenden, zuletzt von Ernst Schubert verfochtenen "Vorbild-Theorie" einfach zu, derzufolge "fürstliche Herrschaft [...] erst dann zum Staat werden [konnte], als sie von den Städten lernte". [2] Denn statt Vorbildern sieht er den Motor der Veränderungen in der Ämterorganisation und Funktionszuweisung in ökonomischen Prozessen und in dem durch diese verursachten sozialen Wandel. Nur dort, wo vermögende Bürger der landesfürstlichen Städte ("Notabeln") und deren Personenverbände sowie Netzwerke bei Verdrängung der bis dahin dominierenden niederadeligen Positionsinhaber als kreditgebende "Mitunternehmer" in die Finanz- und Gerichtsverwaltung eindrangen - wie in Württemberg schon in der ersten, in Hessen und Sachsen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts -, schritt die bis dahin stattgehabte Institutionalisierung fort (476) und griff schließlich zu Beginn der Neuzeit eine Hierarchisierung der Funktionen Platz. Bei diesen ziemlich genau klassifizierten Bürgergeschlechtern handelte es sich gerade nicht um Angehörige der alten Ratsgeschlechter, sondern um neue Familien, die z. B. im Bergbau reich geworden waren (478). Zur Erlangung einer administrativen Funktionsstelle durch Bürgerliche war deren Finanzkraft noch ein ungleich wichtigeres Qualifikationsmerkmal als eine universitäre (Aus-)Bildung, wenngleich das bereits zunehmende Eindringen von Absolventen der Artistenfakultät in Verwaltungsfunktionen - am spätesten in Bayern - anzeigt, dass ein Studium immer weniger eine bloße "Empfehlung" blieb. [3] Nur dort, wo eine vermögende städtische Bürgerschaft existierte und diese in Konkurrenz zum landsässigen Niederadel treten konnte, gelang es den bürgerlichen Amtsträgern, ihren Aufgabenbereich auszudehnen und sich dauerhaft zu etablieren. Nur dort, wo diese Verdrängung des Adels gelang, konnte die Ämterbildung, d. h. die Bündelung der Fiskal- und Gerichtsrechte in der Hand eines (bürgerlichen) Rentmeisters, Kellers (Kellervogts) o. ä. abgeschlossen werden.
Somit gilt fortan: Das Ausmaß der Verdichtung mittelalterlicher Rechte zum frühmodernen Fürstenstaat war direkt abhängig von der Anzahl territorialer "Amtsstädte" und der Qualität des städtischen Bürgertums. Indem die zu Amtsträgerfamilien gewordenen kaufmännischen und gewerblichen Familien der jeweiligen Territorialstädte zur Verfestigung der fürstlichen Herrschaft beitrugen, hatten sie wesentlichen Anteil an dem "Staatsbildungsprozeß", welcher mithin keineswegs allein durch den Fürsten und seinen Rat, d. h. "von oben", sondern stark durch die in der Verwaltung tätigen Personen städtischer Herkunft geprägt und gefördert wurde.
Anmerkungen:
[1] Unverständlich, warum diese vier Verzeichnisse nach dem Vornamenprinzip organisiert sind, sodass der nach einem ihn interessierenden Probanden Suchende den Umweg über das Personenregister nehmen muss, welches zu seinem Glück akzeptiert, dass die Familiennamen in Hesses Untersuchungszeitraum längst verfestigt waren.
[2] Ernst Schubert: Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 35), München 1996, 76.
[3] Die Thematik des Kapitels III.5 "Der Universitätsbesuch der Amtsträger" (356-378) hatte Hesse schon in einem 2002 erschienenen Tagungsband angesprochen, s. Christian Hesse: Qualifikation durch Studium? Die Bedeutung des Universitätsbesuchs in der lokalen Verwaltung spätmittelalterlicher Territorien im Alten Reich", in: Günther Schulz (Hg.): Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit (= Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit, 25), München 2002, 243-268.
Paul-Joachim Heinig