Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund (= Studien zur Internationalen Geschichte; Bd. 15), München: Oldenbourg 2005, XI + 525 S., ISBN 978-3-486-57736-5, EUR 54,80
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Bei der Erforschung der internationalen Beziehungen kommen seit einigen Jahren verstärkt neue gesellschafts- und kulturgeschichtliche Konzepte zum Einsatz, und auch neue, nichtstaatliche Akteure - z. B. nationale und transnationale Vereinigungen und Verbände - rücken ins Blickfeld. Wie lohnend dieser Methoden- und Perspektivenwechsel sein kann, demonstriert Guido Müller mit seiner Aachener Habilitationsschrift. Gerade die deutsch-französischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit waren nämlich, ungeachtet wachsender nationalistischer Tendenzen beiderseits des Rheins, zugleich von einer Intensivierung wirtschaftlicher und kultureller Verflechtungen gekennzeichnet. Müller schließt sich sogar der These des Kasseler Sozial- und Geschichtswissenschaftlers Hans Manfred Bock an, dass die entsprechenden privaten Vereinigungen in der Zwischenkriegszeit "die vergleichsweise tragfähigste Grundlage für die Bemühungen um die deutsch-französische Verständigung" im vorpolitischen Raum gewesen seien (458). Zwei dieser rührigen Organisationen hat Müller zum Gegenstand einer detaillierten Untersuchung gemacht: das "Deutsch-Französische Studienkomitee" und den "Europäischen Kulturbund".
Als Quellenbasis dienten ihm eine Vielzahl von Beständen in- und ausländischer, staatlicher wie privater Archive, angefangen - um nur die wichtigsten zu nennen - vom Politischen Archiv des Auswärtigen Amts und dem Archiv der Republik in Wien über die Archives Nationales und das Archiv des Ministère des Affaires Etrangères in Paris bis zum ARBED-Archiv in Luxemburg und dem Werksarchiv der Bayer AG sowie Nachlässen von Protagonisten wie Pierre Vienot, Karl Anton Rohan und Max Clauss in verschiedenen Privatarchiven. Ergänzt wurden diese unveröffentlichten Materialien durch die Auswertung zeitgenössischer Zeitungen und Zeitschriften vom "Abendland" über die "Europäischen Gespräche" und die "Europäische Revue" bis zu "Paneuropa" und zur "Revue d'Allemagne" sowie des umfangreichen zeitgenössischen Schrifttums. Alles in allem also eine beeindruckend breite, dem Untersuchungsgegenstand und Erkenntnisziel angemessene Quellengrundlage.
Zunächst erläutert Müller die zentralen Begriffe "Verständigung" und "Bewegung", gibt einen Überblick über die verschiedenen Formen und Institutionen deutsch-französischer Kontakte, die sowohl bi- als auch multilaterale Gestalt annehmen konnten, und untersucht ausführlich die Zeitung "Germania" als Beispiel eines publizistischen Forums für solche Aktivitäten. Anschließend wendet sich der Verfasser in zwei umfangreichen Kapiteln den seiner Ansicht nach einflussreichsten Vereinigungen zu, zwischen denen eine Vielzahl von personellen, institutionellen und inhaltlichen Verbindungen bestanden.
Das "Deutsch-Französische Studienkomitee" wurde 1926 auf Initiative des luxemburgischen Stahlindustriellen Émile Mayrisch unter tatkräftiger konzeptioneller Mithilfe des französischen Publizisten und Politikers Pierre Viénot gegründet und existierte bis Ende 1938. Diese "exklusive, rein männliche Vereinigung" vertrat eine anti-idealistische, auf den jeweiligen nationalen Interessen gründende Verständigungskonzeption und setzte sich sowohl in der deutschen als auch in der französischen Gruppe "zu mehr als der Hälfte aus Großindustriellen und Wirtschaftsführern" (297) zusammen, wobei Schwerindustrielle in der Minderheit blieben. Etwa 30 Prozent der Mitglieder gehörten dem Adel an, unter den Übrigen dominierten Hochschullehrer, hohe Staatsbeamte und Intellektuelle. Um politische Komplikationen möglichst zu vermeiden, wurde ausgesprochenen Parteipolitikern, von wenigen prominenten Ausnahmen wie Franz von Papen abgesehen, die Mitgliedschaft verwehrt. Ungeachtet der industriellen Dominanz schwebte Mayrisch und Viénot eine "transnationale private Organisation mit weit über industrielle Absprachen hinausgehenden Zielen" vor - ein Anspruch, der auch verwirklicht werden konnte, wie ein Blick auf die auf den Tagungen des "Studienkomitees" behandelten Themen lehrt: Dazu zählten u. a. die Formierung und Auswahl von Eliten, ein Vergleich der wirtschaftlichen Strukturen in Deutschland und Frankreich, Agrarmarktprobleme, die Organisation der Presse oder die wirtschaftlichen Beziehungen zu Osteuropa und zur Sowjetunion. Daneben kümmerte sich das "Studienkomitee" beispielsweise auch um die Förderung und Koordinierung des Studentenaustausches zwischen Deutschland und Frankreich, wobei insbesondere die deutsche Seite Wert darauf legte, "schon aus politischen Gründen [...] nur in deutschem Sinne wirklich geeignetes, wissenschaftlich sowie pekuniär ausreichend fundiertes Studenten-Material hinüberzulassen" (148). Seine kurze Blütezeit erlebte das Komitee 1928. Nach dem Tode Mayrischs im selben Jahr und dem Ende der Stresemann-Ära in Deutschland verlor es aufgrund der zunehmenden Spannungen zwischen den beiden Ländern an Bedeutung. Von der Gleichschaltung im Dritten Reich blieb die deutsche Gruppe zwar verschont, doch erlahmten die Aktivitäten des "Studienkomitees" nach 1933 sowohl wegen des "deutschen Desinteresses" wie infolge des "politischen Drucks der Nationalsozialisten" (292), ehe es 1938 seine Selbstauflösung beschloss.
Der "Europäische Kulturbund" verdankte seine Existenz den Bestrebungen des Österreichers Karl Anton Prinz Rohan, der über den "Weg des kulturellen Austauschs nationaler Eliten die Integration des Kontinents einzuleiten" versuchte (310). Die 1924/25 gegründete Vereinigung, der Aristokraten, Intellektuelle und Wirtschaftsführer aus zahlreichen europäischen Ländern angehörten, diente vor allem europäischen Rechtsintellektuellen als "Forum zum Gedankenaustausch und Kontakt" (437). 1934 beendete sie ihre Tätigkeit, weil zahlreiche Aktivisten ins Lager des Nationalsozialismus wechselten. Der Dichter Hugo von Hofmannsthal, der in den 1920er-Jahren zu den frühen Wortführern des "Kulturbundes" gehörte, fabulierte etwa von einer "schöpferischen Restauration" in Europa im Sinne einer "politischen Aktivierung der wenigen über den Nationen verstreuten Individuen, welche zählen". Rohan begründete die Notwendigkeit einer Einigung Europas unter Hinweis auf äußere Bedrohungen durch "andere Kulturen" (320); ein rein wirtschaftlich-"technizistischer" Zusammenschluss genüge deshalb nicht. Vielmehr müsse ein "Mythos Europa" geschaffen werden, mit dessen Hilfe "die Massen begeistert und von europäischer Zusammenarbeit überzeugt" werden sollten (454). In seinen Bemühungen um die Bildung einer "Euroligarchie" (468) als Träger von Kooperations- und Integrationsprozessen auf europäischer Ebene scheiterte der "Kulturbund" am Ende indes genauso wie das "Studienkomitee".
Fazit: So dicht sind die personellen und organisatorischen Netzwerke im Dienste der deutsch-französischen Aussöhnung und der europäischen Zusammenarbeit in der Zwischenkriegszeit bislang noch nicht beschrieben worden, und darin liegt auch das Hauptverdienst dieser Studie. Kritisch anzumerken bleiben das äußerst schlampige Lektorat und zahlreiche inhaltliche Redundanzen. Bedauerlicherweise verzichtet Müller zudem darauf, seine knappen Überlegungen in der Zusammenfassung etwa über den "eigenen Rhythmus" (459) kultureller und gesellschaftlicher Beziehungen im Vergleich zur Politik, über günstige bzw. ungünstige Rahmenbedingungen für Verständigungsinitiativen, über biografische Prädispositionen für verständigungspolitische Aktivitäten oder über die Rolle von "Mittlern" aus den kleineren Nachbarstaaten Deutschlands und Frankreichs zu einer Art Theorie zivilgesellschaftlicher transnationaler Verständigungsbewegungen zu verdichten.
Werner Bührer