Rezension über:

Amelia Jones (ed.): A Companion to Contemporary Art since 1945, Oxford: Blackwell Publishing 2006, xx + 628 S., ISBN 978-1-4051-3542-9, GBP 24,99
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Rezension von:
Anne-Marie Bonnet
Institut für Kunstgeschichte und Archäologie, Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Gabriele Wimböck
Empfohlene Zitierweise:
Anne-Marie Bonnet: Rezension von: Amelia Jones (ed.): A Companion to Contemporary Art since 1945, Oxford: Blackwell Publishing 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 4 [15.04.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/04/11824.html


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Amelia Jones (ed.): A Companion to Contemporary Art since 1945

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Der von Amelia Jones heraus gegebene Band ist der erste einer anspruchsvollen Serie (Band 2 ist der mittelalterlichen Kunst gewidmet), die Lehrenden und Studierenden einen Überblick bieten will über Schlüsselgedanken, Diskurse und Theorien zur Kunst sowie über die Art und Weise, wie sie unterrichtet werden. Zu diesem Zweck werden heraus ragende Gelehrte gebeten, sowohl den jeweiligen Stand der Forschung als auch zukünftige Trends aufzuzeigen, auch wenn es problematisch ist, den Wissensstand chronologisch darzustellen und zugleich übergreifende Fragestellungen zu thematisieren. Der vorliegende Band widmet sich der Befragung der zeitgenössischen Kunst in England und den USA und berücksichtigt die politischen und konzeptuellen Fragestellungen, die das Schreiben der Geschichte(n) dieser Kunst impliziert. Bemerkenswert erscheint die Betonung der problematischen Beziehung zwischen zeitgenössischer Kunst und ihrem historischen Status; deshalb überschreibt die Autorin ihr Vorwort auch mit der Frage nach dem Paradoxen der Aufgabe, die Gegenwartskunst zu historisieren. Als Schwellendaten gelten 1945 und 1975, ersteres als Start einer neuen Ära moderner Kunst nach Verlagerung des "Machtzentrums" nach den USA, letzteres als Beginn einer Phase, in der in Großbritannien und USA Kurse zur Kunst nach 1945 angeboten und offenbar spezifische 'Instrumente' zu Studium und Diskurs zeitgenössischer Kunst benötigt wurden. Die Bildenden Künste haben sich als ein wesentliches kulturelles Feld zur Vermittlung, Diskussion und Infragestellung zentraler Aspekte gegenwärtiger Lebenswelten erwiesen. Angesichts dieser Komplexität entstand Bedarf für das vorgelegte Kompendium, das anders als die zahlreich vorhandenen chronologischen Darstellungen der ästhetischen und sozialen Entwicklungen in den Künsten nach 1945 eine multiperspektivische Herangehensweise und thematisch fokussierte Geschichten dazu bietet. Im Aufbau ist es geteilt in Epochen und wesentliche Themen. Um einen Überblick über die volle Bandbreite gegenwärtiger Methoden und Theorien zu gewährleisten, wurden 27 durchweg renommierte britische und nordamerikanische Autorinnen und Autoren ausgewählt.

Im ersten Schritt (Teil II: 'Decades') werden wichtige Entwicklungen eher chronologisch reflektiert, die anschließend (Teile III - VII) anhand ästhetisch, politisch, methodisch/theoretisch und zuletzt technologisch fokussierter Fragestellungen nochmals betrachtet werden. Auch die thematischen Kapitel folgen lose einer Chronologie, da die Themen/Aspekte in der Reihenfolge ihres historischen Aufkommens dargestellt werden. So kann der Band auch als eine Ideengeschichte westlicher Kultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelesen werden.

Im Abschnitt 'Decades' werden in jeweils prägnanten Darstellungen resümiert: Amerikas Übernahme der kulturellen Führung und Neubestimmung des 'Modernismus' (Gavin Butt, 50er-Jahre), die Dekonstruktion dieses Modells durch das Eindringen des Alltags und der Popkultur, der Beginn der Globalisierung (Anna Dezeuze, 60er-Jahre), die Selbstreflexion und Infragestellung sowie das Eindringen des Sozialen und Politischen (Sam Gathercole, 70er-Jahre), das Aufkommen der 'Simulations'-Theorien und Appropriationspraktiken sowie die Rolle von AIDS und kultureller Dekonstruktionstheorien (Howard Singerman, 80er-Jahre) und zuletzt die Revolutionierung visueller Kultur durch die Digitalisierung, die zunehmende Bedeutung von Identitäts- und Globalisierungsfragen sowie das Konzept des "Krieges der Kulturen" (Henry Sayre, 90er-Jahre).

Der thematische Abschnitt beginnt mit ästhetischen Fragestellungen. Amelia Jones' Aufsatz gilt der Rolle des Formalismus in der Moderne, dessen Problematisierung, Aktualität und Transformation, insbesondere im Bewusstsein einer zunehmend globalisierten Kultur. David Hopkins befragt diese formalistische Tradition aus der Perspektive von Duchamp und dessen Nachfolgern und stellt fest, dass die Hinwendung zur Ideenkunst auch als Reaktion auf die Formalismusdebatte Greenbergs und Frieds verstanden werden kann. Margarete Morgan verfolgt die verschiedenen 'Renaissancen' des Schönheitsdiskurses zwischen den 60er- und 90er-Jahren, und man ist verblüfft, wie oft er immer wieder aktuell wurde!

Die Beiträge zum Themenbereich 'Politics' zeigen, dass sich die Bildenden Künste mitnichten dem reinen 'l'art pour l'art' verschrieben, sondern politische Themen durchaus grundlegende Impulse gaben. Johanne Lamoureux prüft das problematische Konzept der 'Avantgarde' von den 'anti-bürgerlichen' Anfängen durch alle Transformationen in den 40er-, 60er- bis 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts hindurch. Es erweist sich als ambivalent, diente es doch sowohl zur Marginalisierung bestimmter Praktiken (z.B. Kunst von Frauen) als auch zur Förderung betont politischer Formen der Kunst. Solchen Formen gilt Jennifer Gonzalez' und Adrienne Posners Aufmerksamkeit, die aktivistische Kunstformen in den USA seit den 50er-Jahren bis hin zu den AIDS- und Internet-Aktivisten verfolgen. Die heftigen Auseinandersetzungen zwischen Künstlern und Institutionen in den 80ern in den USA analysiert Jonathan Katz, der insbesondere die starke Homophobie rechter Kreise mit deren Versuch nachweist, Bildende Kunst allgemein als homosexuell moralisch zu diskreditieren. Als letzter Aspekt des Politischen werden 'Kunst im öffentlichen Raum' und die Praxis des 'Sponsoring' betrachtet. Grant Kester stellt fest, dass sich die Vernetzung mit der öffentlichen Sphäre immer komplexer darstellt und es immer schwieriger wurde, kritische Interventionen zu realisieren.

Der Themenbereich 'Identität/Subjektivität' wird bestimmt vom postkolonialen Bewusstsein und den Identitätsfragen seit den 60er-Jahren. Diese Fragen kennzeichnen fast alle gegenwärtigen Praktiken, insbesondere ab den 70er-Jahren mit ihrer Problematisierung des Subjekts und des Körpers. Zu Recht beginnt dieser Abschnitt damit, dass Carol Mavor die Wandlungen im Konzept des Autors vom Modernismus bis zur Postmoderne betrachtet; er betont, die ausschlaggebende Neuerung sei die Öffnung des Textes zum Interpreten. Die Verlagerung der Autorschaft kann als die Innovation der 60er-Jahre verstanden werden. Während Steven Nelson die eurozentrische Sicht anhand von künstlerischen Praktiken aus der Diaspora hinterfragt, belegt Laura Meyer Rolle und Bedeutung feministischer Diskurse, Theorien und Kunstpraktiken seit den 70er-Jahren für die Identitätsdebatten. Besonders bemerkenswert ist ihr Vergleich zwischen britischen und nordamerikanischen Vorgehensweisen. Jennifer Doyle resümiert den Stand der 'Queer-Studies', die wie auch die Reflexion der Implikationen rassischer Zugehörigkeit (insbesondere des Schwarz-Seins) zu den Kernbereichen amerikanischer kulturwissenschaftlicher Studien gehören, wie Pauline de Souza zeigt. Der Nachweis, dass Fragen zum Verständnis von 'Körper' in den Künsten wie in der Lebenswirklichkeit seit den 60er-Jahren bis hin zu den 'Cyborg'-Visionen eine zentrale Rolle spielen, gelingt Christine Ross in ihrem diesen Abschnitt abschließenden Essay.

Das Kapitel 'Methoden/Theorien' trägt der Tatsache Rechnung, dass in Moderne und Gegenwart die künstlerischen und theoretischen Praktiken einander beeinflussen; die Wandlungen dieser Wechselwirkung verfolgen die verschiedenen Beiträge. Eingangs untersuchen Neil Cummings und Marysia Lewandowska anhand eines konkreten Beispiels die Rolle marxistischer Theorien für Theorie und Praxis der Künste bis heute, insbesondere bei der Analyse des Warencharakters der Kunstproduktion. Als nächstes einflussreiches Denkmodell untersucht Sarah Wilson den Poststrukturalismus im Zusammenhang mit Semiotik, Lacan sowie Feminismus und stellt fest, dass man sich zwar für diese Theorien aus Frankreich interessierte, aber nicht für die dortige Kunst. Mark Crinson analysiert anhand konkreter Beispiele den Einfluss des Postkolonialismus' auf die Bildenden Künste ab den 1980er-Jahren, gleichsam als Vorbereitung zu Marquand Smith' Betrachtung der Auflösung der Grenzen zwischen den Disziplinen im Konzept der 'cultural and visual studies' nebst dessen Einfluss' auf die traditionelle Kunstgeschichte und reale Praktiken in den Bildenden Künsten.

Der (letzte) Abschnitt 'Technologie' gilt den Veränderungen der Bild-Konzepte seit dem Aufkommen der so genannten 'Neuen Medien' und der modernen Reproduktionstechniken, also Fragen der Unterscheidung zwischen Alltags- und Hochkultur von Warhol bis Negri Hardts' 'Empire' (Nick Mirzöff) wie auch zum Einsatz fotografischer Techniken in den Bildenden Künsten seit den 60er-Jahren (Liz Kotz). Das Verhältnis zwischen dem, was Debord als "Kultur des Spektakels" diagnostizierte, und der zunehmenden Digitalisierung, der Massenkultur und performativen Praktiken in der Fluxus-Nachfolge sowie Rolle und Bedeutung des 'Bildschirms' dabei, ist Gegenstand von Dore Bowens aufschlussreichem Aufsatz. Im letzten Essay des Bandes geht Maria Fernandez der Wechselwirkung zwischen Kunst und Wissenschaft in aktuellen künstlerischen Praktiken nach, die künstliches Leben befragen und sich Technologien der genetischen Forschung und Cybertechnologien bedienen, um die Grenzen des Lebens auszuloten.

Abschließend wird zur Frage, was zeitgenössische Kunst sei, festgestellt, dass man sie nur multiperspektivisch darstellen könne und die multiplen Erscheinungsformen allein dadurch verbunden seien, dass sie konsequent immer wieder unsere Vorstellungen und Erwartungen an sie unterliefen bzw. in Frage stellten. Sie öffneten unsere Augen für alles, was gesehen werden könne. Das Buch versteht sich als Hilfsmittel, die Fülle von Fragen, die dies hervorruft, besser zu verstehen.

Das Werk gibt den Stand der Dinge sehr aktuell wieder, ist aber - wie eingangs betont - auf die Entwicklungen in Großbritannien und den USA fokussiert. Bis auf Beiträge z.B. zu 'politics', die spezifisch US-amerikanische Verhältnisse meinen, lässt sich vieles auf Europa übertragen. Da der Band chronologische Darstellungen ergänzen will, empfiehlt sich ausreichendes Vorwissen. Also ist er zwar nicht für Anfänger, aber für Fortgeschrittene als schnelle und doch profunde Einführung und Nachschlagewerk zur Orientierung über den Stand der Diskurse und Praktiken am Beginn des 21. Jahrhunderts durchaus empfehlenswert.

Anne-Marie Bonnet