Françoise Lucbert: Entre le voir et le dire. La critique d'art des écrivains dans la presse symboliste en France de 1882 à 1906 (= critique d'art), Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2005, 309 S., ISBN 978-2-7535-0024-2, EUR 20,00
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Die vorliegende Publikation "Entre le voir et le dire" ist eine überarbeitete und aktualisierte Textfassung der 1999 von Françoise Lucbert erstellten Dissertation an der Universität Montréal. Die Verfasserin untersucht und analysiert Texte von 150 Autoren in 50 kleinen, französischen Kunstzeitschriften und Chroniken ("petites revues") am Ende des 19. Jahrhunderts.
Gerade in einer Zeit, in der symbolistische Bildkünste kontinuierlich größeres Interesse erwecken (um nur einige Beispiele zu geben: Ausstellung Lost Paradise. Symbolist Europe, Montreal 1995; Retrospektive Fernand Khnopff, Brüssel, Salzburg und Boston 2004; Ausstellung Roger Marx, Nancy 2006; Ausstellung Il Simbolismo, Ferrara 2007) liefert diese Publikation einen signifikanten Beitrag zur Geschichte des Symbolismus, wie die Verfasserin selbst anmerkt.
Der Ausgangspunkt der Untersuchung basiert auf der Frage, warum Kunstkritik einen solch maßgeblichen und entscheidenden Stellenwert bei den Schriftstellern in der Zeit des Symbolismus einzunehmen imstande war. Dies gilt es auf soziologischer und ästhetischer Ebene zu klären. Die Schwierigkeit, vor die sich die Verfasserin gestellt sieht, besteht vor allem in einer mehrschichtigen Komplexität. Dieser dem Thema immanenten Problematik begegnet Françoise Lucbert zuallererst mit einer klar strukturierten Gliederung und einer bestechend konzisen Evidenz in Aufbau und Inhalt. Besonders erwähnenswert sind die pointiert resümierenden Passagen, die dem Leser die Fülle der Informationen und Ergebnisse als überschaubar und verständlich erscheinen lassen.
Im ersten Kapitel werden die Medienlandschaft und die Autoren (Schriftsteller, Künstler, Kenner der Kunst, die so genannten "Connaisseurs") unterstützend durch statistische, tabellarische Übersichten klassifiziert, präsentiert und in ihrem sozialen Umfeld positioniert. Dabei adaptiert Françoise Lucbert explizit die Differenzierung von Dario Gamboni [1], der die französische Kunstkritik des 19. Jahrhunderts in ein dreipoliges Schema unterteilt, in das literarische, das wissenschaftliche und in das journalistische Element. Die Kunstkritik erfährt im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die Umwälzungen im Journalismus und in der Presselandschaft massive Veränderungen. Lucbert baut auf den bekannten Entwicklungen auf und setzt diese nun in der symbolistischen Epoche durch neue Erkenntnisse fort. Der Stellenwert der Zeitschriften wird erläutert, sind diese "petits revues" doch mit Manifesten gleichzusetzen.
Anhand von vier Einzeldarstellungen (Emile Verhaeren, Alphonse Germain, Albert Aurier, Camille Mauclaire) präsentiert die Verfasserin im zweiten Kapitel die ästhetischen symbolistischen Theorien. Durch diese induktive Vorgehensweise zeigt Lucbert, wie jeder einzelne dieser Schriftsteller einen Beitrag zum Konzept des bildnerischen Symbolismus geliefert hat. Es entsteht ein minuziöses Mosaik ästhetischer Positionen, die zusammen eine subtil facettenreiche, elaborierte Darstellung ästhetischer symbolistischer Theorien ergeben. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Beschreibung des Künstlerprofils und des Kunstlebens. Hier zeigen sich altbekannte Themen, die allgemein prägend für das 19. Jahrhundert sind: Ausstellungswesen, Salons, staatlich beaufsichtigte Kunst, Kampf gegen den Akademismus, freier Markt, Gründung der "Sociétés", ökonomische und wirtschaftliche Aspekte, Einsamkeit des Künstlers. Auf diesem Fundament konstituiert sich Lucberts Untersuchung, die zu einem dezidierten Ergebnis führt. Die "kleinen Revuen" verstehen sich als rigide Gegenbewegungen zu den großen Institutionen, die Unabhängigkeit des Künstlers ist die conditio sine qua non der symbolistischen Bewegung. Das Fazit ihrer Untersuchung konkretisiert sich wie folgt: Die "kleinen Revuen" dienen erstens der Verteidigung der "unabhängigen Kunst", zweitens der Kunstförderung, drittens als Ort der Begegnungen und der Ausstellungen und viertens als Ort der Kommunikation zwischen Publikum und Künstler.
In den beiden letzten Kapiteln findet der Leser in bemerkenswerter Manier die essenziellen Momente der Kunstkritik hinsichtlich Konzeption und Ästhetik sowie deren kreative Umsetzung. Hier geht es der Verfasserin um stilistische Eigenarten, um Kunstkritik als Legitimation einer autonomen literarisch-poetischen Form sowie um die Positionierung des Kritikers als Dichter in seiner Parteilichkeit und Subjektivität. Exponiert präsentiert sich dabei das Unterkapitel über Léon-Paul Fargue und Alfred Jarry. Françoise Lucbert demonstriert hier mittels Textpassagen eindrucksvoll die neue gestalterische Form, die die essenzielle Charakteristik der Symbolisten ist, nämlich die Suche nach einer "anderen Wirklichkeit", nach einer Art von Radikalität der Subjektivität und der Ausdrucksformen. Die Komponenten symbolistischer Ästhetik und die Nutzlosigkeit herkömmlicher, konventioneller Kunstkritik der Akademien, Journalisten und der auflagenstarken Presse wird dem Leser verdichtet vorgeführt.
Lucbert gelingt es trotz ihrer punktuell angewandten Vereinfachungen, der Gefahr von Verallgemeinerungen und Stereotypen, die in diesem Themenbereich lauern, auszuweichen. An manchen Stellen hätte man sich einerseits Verweise gewünscht, die den Wert der Aussagen im historischen Kontext akzentuiert hätten und andererseits noch einen deutlicheren Bezug zu Baudelaire, spielte seine Korrespondenz-Theorie ("Correspondances" aus den "Fleurs du mal", 1857) doch eine grundlegende Rolle in den symbolistischen Schriften.
Der Titel "Entre le voir et le dire" mag zwar hinsichtlich der inhaltlichen Stringenz sowie des reich zusammen getragenen Datenmaterials auf den ersten Blick verwundern, würde man mit ihm eher einen poetischen Inhalt assoziieren, auf den zweiten Blick ist er jedoch ein bedeutungsintensiver Träger. Er subsumiert das Interdisziplinäre, das gemeinsame Agieren von Kunstgeschichte und Literaturstudien. Der Titel transportiert eben diese Vielschichtigkeit und bildet das Konzentrat dessen, was dieser Zeitqualität immanent ist: Die Kunstkritik in der symbolistischen Presse als Produkt "zwischen Sehen und Sagen". Fernand Khnopff mit "Le silence" (1890) als Titelillustration ist interessant gewählt, weil er der erste bildende Künstler war, der als "symbolistischer Maler" von Emile Verhaeren bezeichnet wurde. Das Zusammenspiel von Titel und Bild allein schon ist selbstredend und ergibt eine raffinierte Ouvertüre für ein Buch, das sich flüssig und amüsant liest, gleichwohl es eine reichhaltige Informationsfülle aufweist.
Die Bedeutung der Malerei in der ästhetischen und poetischen Entwicklung der symbolistischen Maler im Rahmen von kunstkritischen Schriften war noch nie Gegenstand einer Untersuchung. Françoise Lucbert intendiert, wie sie expressis verbis in der Einleitung sagt, diese Lücke zu schließen. Zweifelsohne ist ihr dies gelungen. Die Publikation liefert einen wichtigen und grundlegenden Beitrag zur Geschichte der französischen Kunstkritik, die insbesondere seit den 1990er-Jahren ein zunehmendes Interesse für die Jahrhundertwende zeigt. Maßgeblich daran beteiligt sind die Veröffentlichungen von Jean-Paul Bouillon [2], in deren Kontext vorliegende Studie einzureihen ist.
Anmerkungen:
[1] Dario Gamboni: "Propositions pour l'étude de la critique d'art du XIXe siècle", in: Romantisme, 71, 1991.
[2] Jean-Paul Bouillon: La promenade du critique influent, anthologie de la critique d'art en France, 1850-1900, Paris 1990; ibid: La critique d'art en France 1850-1900, Actes du colloque de Clermont-Ferrand 1987, Saint-Etienne 1989.
Kristiane Pietsch