Pierre Fröhlich / Christel Müller: Citoyenneté et participation a la basse époque hellénistique (= Hautes Études du Monde Gréco-Romain; 35), Genève: Droz 2005, 310 S., ISBN 978-2-600-01052-8, CHF 90,00
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Louis Robert hat in Wort und Schrift wiederholt die Ansicht vertreten, dass der späte Hellenismus eine distinkte Phase in der Entwicklung der griechischen Polis vom Bürgerstaat zur Provinzstadt markiere, und sein Schüler Philippe Gauthier hat diese Auffassung in seinem grundlegenden Werk "Les cités grecques et leur bienfaiteurs" (Paris 1985) systematisch entfaltet und begründet. Diesem Modell zufolge zeichnet sich die Entwicklung der griechischen Polis zwischen der klassischen und der frühhellenistischen Zeit durch ein hohes Maß an Kontinuität aus; der demokratische Bürgerstaat sei über die vermeintliche Epochenschwelle hinweg im wesentlichen intakt geblieben. Denn die entscheidenden Veränderungen hätten sich nicht schon im späten 4., sondern erst im Laufe des 2. Jahrhunderts v. Chr. vollzogen: Erst als die griechische Staatenwelt, die zuvor durch die Konkurrenz von Königreichen, Bundes- und Stadtstaaten geprägt war, sich auf ein einziges Zentrum, Rom, ausrichtete, habe sich im Inneren der Städte eine Klasse von Notabeln etablieren können, die als Wohltäter der Stadt weit über ihren Mitbürgern rangierten und das politische Leben effektiv dominierten. Im Zuge dieser Entwicklung sei die politische Partizipation der Bürgerschaft erlahmt und die demokratische Kontrolle der Amtsträger der Polis zur bloßen Formalität geworden, zumal der Euergetismus immer weniger an die Übernahme öffentlicher Funktionen gebunden gewesen sei. Dieses Modell hat Zustimmung, aber auch Widerspruch gefunden; einerseits gilt die Schlacht von Chaironeia vor allem dort, wo die Polis der archaischen und klassischen Zeit im Zentrum des Interesses steht, noch immer als Epochenwende, andererseits aber betonen auch hervorragende Kenner der hellenistischen Geschichte wie Christian Habicht oder Angelos Chaniotis eher die Kontinuität in der Entwicklung der griechischen Polis zwischen Alexander und Actium.
Der hier zu besprechende Sammelband steht fest in der von Robert und Gauthier begründeten Forschungstradition. Er versammelt neben einer kurzen Einführung von Gauthier selbst und einer "conclusion générale" aus der Feder von Claude Vial insgesamt 12 Beiträge, die das Verhältnis von Bürgerrecht und politischer Partizipation im späten Hellenismus von verschiedenen Seiten aus beleuchten. Alle zwölf sind lesenswert, viele fußen auf umfassenden Materialsammlungen und/ oder bringen wertvolle Einzelinterpretationen und nicht wenige leisten einen weiterführenden Beitrag zur Debatte über den Charakter der späthellenistischen Polis. Wer sich ernsthaft für die hellenistische Polis interessiert, muss sich mit diesem Sammelband auseinandersetzen, gleichgültig, wie er selbst in dieser Diskussion Position bezieht.
Leider können die einzelnen Beiträge im folgenden nur summarisch charakterisiert werden: I. Savalli-Lestrade untersucht anhand dreier Beispiele, Toriaion, Aphrodisias und Antiocheia am Pyramos, das Verhältnis zwischen lokalen Eliten und überregionalen Gewalten bei der Entstehung neuer Poleis (9-37). Ihrer Deutung zufolge spielten sie in allen drei Fällen eine mehr (Toriaion, Aphrodisias) oder weniger (Antiocheia am Pyramos) aktive Rolle und begründeten dadurch bereits bei der Stadtgründung eine dauerhafte Führungsstellung. Priene, Pergamon und Ephesos dienen J.-M. Bertrand als Beispiele für die Stellung der Paroikoi in kleinasiatischen Städten (34-49). J.-L. Ferrary (51-75) unterzieht die traditionelle Auffassung, die großzügige Verleihung des römischen Bürgerrechts an die Notabeln griechischer Städte habe mit Caesar begonnen, einer überzeugenden Revision. Ferrary weist nach, dass das römische Bürgerrecht für diesen Personenkreis erst attraktiv wurde, als es im Jahre 42 durch eine lex Munatia Plancia mit der Zugehörigkeit zu einer Polis kompatibel gemacht wurde und sich dadurch aus einem Partizipationsrecht in einen Statusindikator verwandelte. Die massenhafte Verleihung an griechische Notabeln aber wurde erst möglich, nachdem Augustus entschieden hatte, dass der Besitz des römischen Bürgerrechts nicht von den Leistungspflichten gegenüber der eigenen Heimatstadt befreie. Ph. Gauthier (79-93) bringt drei bislang verkannte Beispiele dafür bei, dass die Beschlussfassung späthellenistischer Poleis nach wie vor durch gewöhnliche Bürger initiiert werden konnte. Ch. Müller (95-119) betont auf der Grundlage eingehender chronologischer Untersuchungen gegen P. Roesch, dass die boiotischen Poleis auch nach 171 aufgrund individueller Anträge Beschlüsse gefasst hätten; es habe keine lineare Entwicklung vom individuellen zum anonymen Antrag gegeben. Dagegen weise der Ersatz des terminus Boule durch Synhedrion und vor allem die Aufnahme der Archontes in die Beschlussformel auf einen Bedeutungsverlust der Bürgerversammlung hin. Für die übergeordnete Fragestellung besonders ergebnisreich ist die subtile und differenzierte Studie, die P. Hamon der Entwicklung des demokratischen Rats frühhellenistischer Bürgerstaaten zum Standesorgan kaiserzeitlicher Städte gewidmet hat (121-144). Ohne die freilich nicht genauer zu bestimmende Einwirkung der Römer in Abrede zu stellen, weist Hamon nach, dass die Ratsmitgliedschaft im späten Hellenismus zu einer Prominenzrolle wurde, weil die städtischen Wohltäter die Ratsmitglieder als Gremium zu Festlichkeiten einluden und umgekehrt auch selbst die Ehrenmitgliedschaft im Rat erhielten. M. Wörrle (145-161) stellt eine Urkunde aus claudischer Zeit, in welcher die Bürgerschaft von Maroneia den Notabeln der Stadt dauerhaft das Recht überträgt, ohne die Autorisation durch einen Volksbeschluss im Namen und zum Nutzen der Stadt Gesandtschaften an den Kaiser zu übernehmen, in den Kontext einer im späten Hellenismus zunehmenden Abhängigkeit der Städte von Personen, die aufgrund ihres Reichtums, ihrer Bildung und ihrer Beziehungen allein noch in der Lage waren, städtische Interessen gegenüber der römischen Supermacht zu vertreten. A. Avram (163-82) inventarisiert die verfügbaren, wenig aussagekräftigen Nachrichten über militärische Aktivitäten und Institutionen der pontischen Städte in hellenistischer Zeit und formuliert die Hypothese, dass es in dieser vom Kampf gegen die umwohnenden "Barbaren" geprägten Region zwar überall städtische Streitkräfte gegeben habe, diese jedoch eher Polizeifunktionen erfüllt hätten, als echte Bürgerarmeen zu sein. A. S. Chankowski (185-200) betont nachhaltig die Schwierigkeit, von Veränderungen im Formular von Dekreten auf den Wandel sozialer Praktiken zu schließen und argumentiert gegen A. Chaniotis, dass sich Beschreibungen von Prozessionen und Empfangszeremonien in späthellenistischen Dekreten nicht deswegen häuften, weil die Prozessionen damals wichtiger geworden seien, sondern deswegen, weil man in einer Zeit, in der die Polis als Bürgerstaat in eine Krise geraten sei, versucht habe, überkommene Formen der Geselligkeit zu konservieren. Dieser "bürgerliche Konservatismus" sei dafür verantwortlich, dass reale Veränderungen im Formular der Dekrete nur ausnahmsweise Ausdruck fanden. É. Chiricat (227-223) behandelt einerseits frühe, aus dem dritten Jahrhundert stammende Beispiele für Bestattungen im Gymnasion und andererseits ein augusteisches Ehrendekret von Kyzikos, in welchem eine lokale Euergeten-Familie greifbar wird. Das Verhältnis von öffentlichen Ausgaben und bürgerlichem Euergetismus im späthellenistischen Priene bildet den Gegenstand einer sehr gehaltvollen Studie von P. Fröhlich (225-256). Fröhlich weist nach, dass die Stadt ihren Amtsträgern nach wie vor Mittel für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben zur Verfügung stellte, und schließt daraus, dass Wohltäter aus freien Stücken darauf verzichtet hätten, diese Mittel auch einzusetzen. Auch kann er zeigen, dass die Notablen sich für die klassischen Ämter keineswegs zu schade waren, sondern diese vielmehr regelmäßig, aber niemals gleichzeitig übernahmen. Die entscheidende Veränderung sei nicht institutioneller, sondern mentaler Art gewesen: das Aufkommen eines neuen Ideals bürgerlichen Verhaltens, dem nur diejenigen noch nachstreben konnten, die über die nötigen Mittel verfügten, um ihren Mitbürgern kostspielige Wohltaten zu erweisen; Fröhlich nennt es Munifizenz. M. Sève (257-273) schließlich stellt die spärlichen Belege für Notabeln im späthellenistischen Makedonien zusammen und erklärt ihre geringe Zahl einleuchtend mit dem Aderlass, den das Land durch die Deportation seines Adels nach dem Ende des Perseuskrieges hinzunehmen hatte.
Hans-Ulrich Wiemer