Rezension über:

Gesellschaft für Familienforschung in Franken e.V. / Staatsarchiv Nürnberg (Bearb.): Staatsarchiv Nürnberg. Die Judenmatrikel 1813-1861 für Mittelfranken (= Staatliche Archive Bayerns. Digitale Medien; Nr. 1), München: Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns 2003, CD-ROM, ISBN 978-3-921635-73-5, EUR 15,00
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Rezension von:
Werner K. Blessing
Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Werner K. Blessing: Rezension von: Gesellschaft für Familienforschung in Franken e.V. / Staatsarchiv Nürnberg (Bearb.): Staatsarchiv Nürnberg. Die Judenmatrikel 1813-1861 für Mittelfranken, München: Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns 2003, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 5 [15.05.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/05/9675.html


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Gesellschaft für Familienforschung in Franken e.V. / Staatsarchiv Nürnberg (Bearb.): Staatsarchiv Nürnberg. Die Judenmatrikel 1813-1861 für Mittelfranken

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Mit dem neuen Bayern, wie es Anfang des 19. Jahrhunderts im napoleonischen Umbruch entstand, kam der moderne, vom Reformabsolutismus angebahnte Staat zum Durchbruch. Weil es in diesem Montgelas-Bayern vor allem um Integration und Reform ging, war ein einheitliches Staatsvolk ein Hauptziel und seine rationale, seine systematische Erfassung ein grundlegendes Verwaltungsmittel. Ihm wurden nun auch die vorwiegend mit fränkischen und schwäbischen Territorien nach Bayern gekommenen 42 bis 43.000 Juden eingegliedert, die bisher Außenseiter in der Ständegesellschaft der christlichen Fürstenstaaten gewesen waren. Das Judenedikt von 1813 hat Listen verordnet, in denen sie jeweils lokal registriert wurden. Denn zum einen setzte das Bürgerrecht einen in der jüdischen Kultur nicht üblichen unverwechselbaren, das heißt einen neuen bürgerlichen Namen sowie den Untertaneneid voraus, die beide fixiert werden mussten. Zum andern sollte für jeden Ort die Zahl jüdischer Einwohner festgeschrieben werden, da sie noch keine Freizügigkeit erhielten. Bis 1861, als die Juden schon fast eine Gleichstellung mit den Christen erreicht hatten - voll gelang sie erst 1871 -, wurden diese Matrikeln von den Stadtmagistraten und Landgerichten für die Kreisregierungen geführt.

Nur die Regierung des Rezatkreises, wie Mittelfranken bis 1837 hieß, hat sie offenbar zu einer Kreismatrikel in fünf Bänden zusammengefasst. Diese singuläre Überlieferung hat nun das Staatsarchiv Nürnberg, das sie aufbewahrt, zusammen mit der Gesellschaft für fränkische Familienforschung auf einer CD-ROM veröffentlicht. Sie bietet eine technisch vorzügliche Gesamtreproduktion und zugleich eine dichte Erschließung durch komfortabel verlinkte Übersichten, Inhaltsverzeichnisse und Register. Das nutzt der Forschung in zweifacher Weise.

Da die Tabellen die alten (Beschneidungs-)Namen, die neuen, von den Juden gewählten Namen, Ort und Jahr der Geburt sowie Familienstand und manchmal auch Familiengröße aufführen, findet die Familienforschung eine Hauptschnittstelle zwischen der jüdischen Bevölkerung in den alten Territorien und in Staatsbayern. Menschen des 19. Jahrhunderts werden über das Familiennamenregister in ihrer Abstammung fassbar. Zum anderen ermöglichen diese Angaben sowie die über den Beruf - den "Nahrungszweig" -, zu denen häufig zusätzliche Bemerkungen kommen, der Landes- wie der Sozialgeschichte ein präzises Bild der jüdischen Bevölkerung in einem ihrer bayerischen Hauptgebiete: ein Bild sowohl der Siedlungsverteilung als auch des Wirtschafts- und Sozialgefüges. Denn dass von den anfangs 70 Orten, in denen es insgesamt 2.711 Matrikelstellen gab, davon allein 536 in Fürth, zwar nur drei der acht kreisunmittelbaren Städte waren, die übrigen jedoch - wie das Ortsnamensregister zeigt - in 24 von 30 Landgerichten und in neun von zwölf Herrschaftsgerichten lagen und das geballt im früher territorial zersplitterten Westmittelfranken, spiegelt die Streuung im Alten Reich: 1499 aus den Reichsstädten, Hochstiften und Markgraftümern vertrieben, hatten sich die Juden in den gräflichen und ritteradeligen Herrschaften konzentriert. Und die Listen dokumentieren den Wandel. In Matrikelstellen, die durch Tod oder Wegzug erledigt waren, rückten andere Menschen ein. Aber es gab durchaus auch eine Abwanderung aus den Dörfern in die Städte. Sie begann in Ansbach bereits während der preußischen Zeit, und zuletzt, als 1861 die bayerische Ortsbindung fiel, führte sie vor allem Nürnberg eine starke Welle zu.

Unter mehreren Aspekten also - genealogisch, räumlich, sozioökonomisch - lassen sich aus den Daten der Matrikel insgesamt Grundzüge der jüdischen Bevölkerung vom Anfang bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts rekonstruieren und zwar so zuverlässig wie auf keinem anderen Weg: Umfang, Strukturen, wesentliche Faktoren für die Lebensformen einer Bevölkerung, die als Randgruppe der feudal-ständischen Ordnung in den modernen Staat gekommen war und sich durch ihn fortschreitend der bürgerlichen Gesellschaft einfügen konnte, jedoch, überwiegend noch lokal gebunden, erst an der Schwelle des breiten Zuzugs in die großen Städte und des raschen Aufstiegs in das Wirtschafts- und Bildungsbürgertum stand. Noch überwogen die Dorfjuden, vor allem Viehhändler und Hausierer, bei Weitem. Aber schon wirkten Rahmenbedingungen einer oktroyierten Modernisierung, die, als ihre Chancen nach dem Ende der Matrikel-Epoche voll genutzt werden konnten, aus so manchen Söhnen und Enkeln urbane Großbürger werden ließen.

Zur Verortung der in der Matrikel erfassten jüdischen Existenz hilft die konzise Einführung von Gerhard Rechter, dem Leiter des Staatsarchivs Nürnberg. Er informiert über die Entstehung Staatsbayerns zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowie - umfassend - über die räumlichen und administrativen Veränderungen des Rezatkreises / Mittelfrankens und dessen Gliederung in unmittelbare Städte, Landgerichte und Herrschaftsgerichte samt der Lage der von Juden bewohnten Orte (mit Karten). Und er skizziert die schrittweise Verbesserung ihrer rechtlichen Lage im Zeitraum der Matrikelführung. Es ist evident, wie die zunächst spröde Quelle nicht nur statistisch in mehrfacher Hinsicht ausgeschöpft werden kann, sondern auch eine exakte Basis für die jüdische Geschichte in Franken überhaupt bietet. Staatsarchiv und Familienforscher haben sich in glücklicher Weise zu einer digitalen Publikation verbunden, die mit ihren vielfältigen Erschließungsmöglichkeiten nicht nur Recherchen enorm erleichtert; sie bietet zugleich ein überlegenes analytisches Potenzial. Daher ist sehr zu wünschen, dass dieses nun so leicht zugängliche und intensiv aufbereitete Material in seinen Dimensionen gesehen und von der Forschung rege genutzt wird.

Werner K. Blessing