Andreas Dix / Ernst Langthaler (Hgg.): Grüne Revolutionen. Agrarsysteme und Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert (= Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes; 2006), Innsbruck: StudienVerlag 2006, 256 S., ISBN 978-3-7065-4235-7, EUR 29,90
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Der Sammelband fasst Vorträge einer 2004 vom Arbeitskreis für Agrargeschichte veranstalteten Tagung in Göttingen zusammen. [1] Angereichert durch weitere Beiträge, präsentiert er neue Erkenntnisse zur Umweltgeschichte der Landwirtschaft in Deutschland, Österreich, der Schweiz und anderen Ländern im 19. und 20. Jahrhundert. Zugrunde liegt der Gedanke, dass "Grüne Revolutionen" - die Einbindung des Agrarsektors in den Industrialisierungsprozess sowie die damit verknüpfte landwirtschaftliche Produktionssteigerung - "das Ergebnis eines komplexen Wechselspiels von Innovationen [sind]; daher erscheint es im Hinblick auf die ökologischen Folgen der industrialisierten Landwirtschaft notwendig, wichtige Einflussfaktoren in historischer Perspektive zu untersuchen." Bindeglied ist "der Begriff der 'Agrarsysteme' [..., der] naturale und soziale Faktoren sowie umwelt- und agrarhistorische Forschungsstränge konzeptionell zueinander in Beziehung" setzt. (8) Entsprechend liegen zwölf agrar-, umwelt- und wissenschaftsgeschichtliche Aufsätze vor, die "Grüne Revolutionen" in drei größeren Blöcken behandeln, die jedoch nicht dem Aufbau des Bandes entsprechen. Dies verwundert, da die Struktur methodisch-inhaltlich sinnvoll gewesen wäre, zumal der Mitherausgeber Andreas Dix diese Zuordnung einleitend auch bereits vornimmt.
Agrarsysteme und Akteure:
Ernst Langthaler spricht sich für eine stärkere Hinwendung zur akteurszentrierten Forschung aus, um damit menschliche Handlungsfaktoren, -spielräume und -praktiken in historischen Agrarsystemen offen legen zu können. Er stellt die Frage, wie ein solches Agrarsystem-Modell jenseits von Intentionalismus und Funktionalismus modelliert sein müsste. Verena Winiwarter analysiert sozialökologische Versuche einer "totalen Kolonisierung der Natur", wozu ihr die Beispiele der neuzeitlichen Glas- und Gewächshausschwärmerei sowie das Biosphere 2-Experiment der 1990er-Jahre dienen. Die Sondierung der Grenzen und Möglichkeiten einer kontrollierten Systemsteuerung zeigt, dass der Grad der Kolonisierungsintensität für die Auswirkungen auf Umwelt und soziale, gesellschaftliche Strukturen bestimmend ist. Fridolin Krausmann beschäftigt sich mit der Modernisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft Österreichs aus sozialökologischer und biophysischer Perspektive. Hintergrund ist dabei der Wechsel der Agrargesellschaft vom Regime kontrollierter Solarenergieflüsse zum fossilen Energiesystem der Industrialisierung. Die politische Funktion der Landwirtschaft als Symbol staatlicher Handlungsfähigkeit ist Thema der Analyse von Gloria Sanz Lafuente zur spanischen Aufforstungspolitik der Franco-Zeit. Arnd Bauerkämper prüft in einem agrargeschichtlichen Vergleich die industrialisierte Landwirtschaft der BRD und der DDR sowie deren spezifischen Umweltfolgen.
Agrarexperten und Fachwissen:
Wie sich Innovationen in der Debatte von Agrarexperten und Landwirten etablierten und durchsetzten, untersucht Frank Uekötter in einer Wissensgeschichte zur Mineraldüngung des 20. Jahrhunderts. Rita Gudermann stellt am Beispiel von Hans Stubbe, einem der führenden Agrarwissenschaftler der Nachkriegszeit, das Verhältnis von Agrarwissenschaften und Naturschutz sowie von Wissenschaft und Herrschaftspraxis in der DDR dar. Die Arbeit von Peter Moser dokumentiert, dass die Agrarwissenschaften ein wesentliches Moment der "Grünen Revolutionen" sind. Seine Institutionengeschichte prüft charakteristische Handlungsweisen, -spielräume und -motive des schweizerischen Saatgutwesens im 20. Jahrhundert im Spannungsdreieck von Behörden, Wissenschaft und landwirtschaftlichen Praktikern.
Agrarproduktion und Umweltrisiken:
Jürgen Büschenfeld setzt sich mit dem sozialen und politischen Kontext der Chemisierung der westdeutschen Landwirtschaft ab 1945 auseinander und behandelt zudem den wechselhaften Wissensbildungs- und Akzeptanzprozess zum chemischen Pflanzenschutz bis in die 1960er-Jahre. Frank Oberholzner beschreibt die Genese der bayerischen Hagelschlagversicherung im Spiegel privater wie staatlicher Initiativen des 19. Jahrhunderts. Anhand der ökonomischen Bedingungen des frühen Hagelversicherungsmarktes werden die Impulse und Entscheidungsfindungsprozesse skizziert, die zur Gründung der bayerischen Landeshagelversicherungsanstalt im Jahr 1884 führten.
Der Erkenntniswert der Beiträge schwankt erheblich. So vermag Langthalers Ansatz eines Agrarsystem-Modells, das die "Zeitlichkeit der Akteurspraxis" (234) wiedergeben muss, zahlreiche Impulse zu geben und zu überzeugen. Die Untersuchung Büschenfelds liefert erstaunliche Ergebnisse, etwa dass sich der wirtschaftliche Erfolg vieler Chemiepräparate letztlich von deren unzureichender Wirkung herleitete. Uekötters Wissensgeschichte der Intensivlandwirtschaft stellt eine fundierte methodische Grundlage für weitere umweltgeschichtliche Studien dar. Seine Arbeit, die stärker auf die "Wissensgrundlage der landwirtschaftlichen Produktion" (102) abzielt, belegt, dass nicht nur ökonomische und soziale Mechanismen, sondern auch die Evolution des landwirtschaftlichen Wissenssystems im 20. Jahrhundert "Grenzen des Denkbaren und Sagbaren und damit auch [...] des landwirtschaftlich Möglichen" (103) festsetzten. Daran knüpften letztlich auch die Umweltauswirkungen im Agrarbereich an. Hierbei macht Uekötter den Ersten Weltkrieg als zentrale Wasserscheide und Katalysator aus und skizziert das erste Drittel des 20. Jahrhunderts im Sinne Reinhart Kosellecks als "Sattelzeit" entscheidender Veränderungen im landwirtschaftlichen Wissenskanon. Die Ausführungen Winiwarters brillieren in ihrer Anlage, Beweisführung und Darstellung. Sie kommt zum Ergebnis, dass sich "kolonisierende Eingriffe [...] über die Arbeit, die sie machen, und über die Entscheidungsfragen, die sich auf der Metaebene der Kolonisierung stellen, auf gesellschaftliche Strukturen entscheidend aus[wirken]" (213).
Kritik lässt sich an einigen wenigen inhaltlichen Punkten anbringen. Obwohl Bauerkämper den "Agrarmodernismus als wirkungsmächtige Leitvorstellung" (152) seiner Studie herausstreicht, wird eine typisierende Modellbildung als Ausgangspunkt seines Vergleichs bzw. ein Vergleichsraster nicht deutlich. Die durchweg profunden Bestandsaufnahmen der Agrar- und Umweltentwicklung beider deutscher Staaten werden quantitativ wie qualitativ nebeneinander gestellt. Dies erweist sich als problematisch, wenn man die u. a. als Ergebnisse präsentierten Systemunterschiede betrachtet (Rechtsstaatlichkeit, Eigentumsverhältnisse, Möglichkeit zur öffentlichen Kritik etc.). Der Beitrag Sanz Lafuentes kann nicht einlösen, was der Titel "Natur, Wirtschaft und Nationalismus" verspricht. Die Erkenntnis leitende Fragestellung nach den politischen wie ökonomischen Funktionen der Aufforstungspolitik, deren Umweltauswirkungen sowie den Vorstellungswelten und Handlungsspielräumen der spanischen Forstingenieure ist erkennbar. Die sprunghafte Darlegung, die teilweise auch der Übersetzung geschuldet ist, schwächt die Argumentationskraft erheblich.
Insgesamt erschließt der Band neue Forschungsbereiche zur Umweltgeschichte der Landwirtschaft und benennt zentrale Felder und Desiderate. Methodisch sind verschiedene der hier eingebrachten Ansätze ein Gewinn - nicht nur für eine Umweltagrargeschichte. Es überrascht, dass der Akteursansatz bisher nicht stärker berücksichtigt wurde, denn die hier versammelten Überlegungen zeigen dessen beträchtliches Potenzial auf.
Anmerkung:
[1] Zum Tagungsprogramm s. URL: http://www.uni-bielefeld.de/geschichte/ak_agrargeschichte/tagu/tag2004.html
Thorsten Schulz