Peter Alter: Winston Churchill (1874-1965). Leben und Überleben, Stuttgart: W. Kohlhammer 2006, 326 S., ISBN 978-3-17-018786-3, EUR 19,00
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"Seine Ernennung", vertraute sein langjähriger Privatsekretär John Colville am 10. Mai 1940 seinem Tagebuch an, als Winston Churchill an die Spitze einer Kriegskoalition trat, "würde die Gefahr tollkühner und spektakulärer Unternehmungen heraufbeschwören. Ich kann mich der Furcht nicht erwehren, dass er unser Land in die gefährlichste Situation hineinmanövrieren könnte, in der es sich je befunden hat" (135). Für seinen späteren Nachfolger Harold Macmillan blieb Churchill auch noch im hohen Alter "so etwas wie ein enfant terrible" (11). Diese ebenso komplexe und facettenreiche wie exzentrische und faszinierende Persönlichkeit hat schon zu Lebzeiten die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen intensiv auf sich gezogen, zwischen glühenden Anhängern und schroffen Gegnern polarisiert. Freilich ist einer der bedeutendsten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts den Deutschen "auf eigentümliche Weise fremd geblieben" (285). Während Abhandlungen über seinen schärfsten, dabei doch grundverschiedenen Kontrahenten, Hitler, den deutschen Büchermarkt überschwemmen, ist die Literatur über Churchill hier eher dünn gesät. Herausragend ist bis heute Sebastian Haffners Essay "Winston Churchill mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten" (17. Auflage 2001).
Kaum jemand dürfte qualifizierter sein, diese Lücke auf dem deutschen Markt zu schließen, als Peter Alter. Denn er ist in beiden Welten, der britischen wie der deutschen, beheimatet. An der Universität Duisburg-Essen hat er Neuere Geschichte und Zeitgeschichte gelehrt, davor lange Zeit erfolgreich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in London gewirkt. So verbindet er in seiner eindrucksvollen Churchill-Biografie eine enge Vertrautheit mit Geschichte und Kultur Großbritanniens mit dem geschärften Blick kritischer Distanz von außen.
Churchills politischer Lebensweg als Unterhausmitglied (1900-1964) und als Inhaber eigentlich aller klassischen Ministerien bis hinauf zum Premier (1940-1945, 1951-1955) umspannte vom ausgehenden Victorianismus bis zur Neuordnung Europas und zum "Kalten Krieg" nach 1945 mehr als sechs Jahrzehnte eines Jahrhunderts, das an Dramatik und Zerstörungskraft nicht seinesgleichen finden dürfte. Jeden einzelnen Abschnitt dieser Dekaden - die Vorkriegszeit, den Ersten Weltkrieg, die Zwischenkriegszeit, den Zweiten Weltkrieg und die Zeit danach - leuchtet der Autor kenntnisreich und quellennah aus. Dadurch gewinnt die Biografie Churchills ihre notwendige politisch-historische und kulturgeschichtliche Tiefenschärfe. Frei nach Haffner, dem er sich ausdrücklich verpflichtet fühlt, schüttet Alter nicht "einfach seine Zettelkästen über den Leser" aus (285). Es geht ihm um das Wesentliche und um die großen Entwicklungslinien. Über den engeren Kreis der Fachwissenschaft hinaus gelingt es ihm, auch dem historisch interessierten Laien auf gesichertem wissenschaftlichem Niveau eine farbenreiche Persönlichkeit lebendig und unterhaltsam zu präsentieren.
Sicher ist das Leben Winston Churchills nicht zuletzt durch die achtbändige "offizielle" Biografie seines Sohnes Randolph und Martin Gilberts inzwischen bis ins Detail durchforscht. Aber es lohnt sich doch gerade auch aus deutscher Sicht, die Akzente zu verfolgen, die Alter setzt. Churchill war, wie der Verfasser immer wieder an Beispielen deutlich macht, nie bequem, immer für eine Überraschung und Provokation gut, beherrschte bis ins hohe Alter die Schlagzeilen der Weltpresse und verstand etwas von moderner öffentlicher Symbolpolitik und Imagepflege. Dies veranschaulicht Alter gleich in seinem geschickt komponierten Einleitungskapitel "Eine Preisverleihung in Aachen". Hier entfaltet er bereits zentrale Perspektiven für seine folgende Darstellung. Auf dem feierlichen Festakt aus Anlass der 6. Verleihung des Aachener Karlspreises im Kreise der Politikprominenz mit Theodor Heuss an der Spitze am 10. Mai 1956 provozierte Churchill unter Bezugnahme auf die Entthronung Stalins durch Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahr vorher als unbequemer Visionär fast einen politischen Skandal. "Wir müssen einsehen, wie tief und aufrichtig die russischen Befürchtungen wegen der Sicherung ihrer Heimat gegen eine Invasion von außen sind. In einer wahren Einheit Europas muss Russland eine Rolle erhalten"(9). "Man muss den Russen ihre Furcht nehmen" (10), setzte der Gast beim abendlichen Bankett noch einmal nach. In London und vor allem bei Adenauer in Bonn schrillten die Alarmglocken. Plädierte Churchill hier nicht mehr oder minder unverhohlen für eine Einbeziehung der Sowjetunion in die militärische und politische Integration des Westens, und dies genau ein Jahr nach der Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO, das Bollwerk gegen Moskaus Expansionismus?
Differenziert und kritisch gegenüber Historikern, "die es eigentlich besser wissen müssten" (232), setzt sich Alter auch mit dem Klischee des "Kalten Kriegers" Churchill auseinander. Als Beleg für seine angebliche Rolle als antikommunistischer Scharfmacher hat inzwischen seine berühmte "Fulton Speech" vom 5. März 1946 in den USA in Anwesenheit Trumans mit seiner Beschwörung des "Eisernen Vorhanges" quer durch Europa bereits Eingang in die Schulbücher gefunden. Seine Mahnungen zu effektiver Gegenwehr des Westens gegen die sowjetische Gefahr waren zweifellos unüberhörbar. "Aber eine Kampfansage an die Sowjetunion war die Rede nicht, eher ein versöhnliches Angebot an die Führung in Moskau, in den anstehenden großen Fragen der Weltpolitik mit den beiden angelsächsischen Mächten zusammenzuarbeiten, so wie im Krieg" (230). Churchills Bemühen um eine Wiederbelebung der "Gipfeldiplomatie" der Kriegszeit Anfang der 50er-Jahre entsprang sicher mit seinem Ehrgeiz, in die Geschichte nicht nur als erfolgreicher Kriegspremier, sondern auch als globaler Friedensstifter und Makler einzugehen. Ob er damit zum Propheten der späteren Entspannungspolitik geworden ist, mag umstritten bleiben. Doch hier kommt Alter aus der Deckung distanzierter Beobachtung mit harscher politischer Kritik heraus: "Möglicherweise verfügte Churchill selbst noch im hohen Alter über mehr politische Fantasie als seine Amtskollegen in Washington und Bonn, als die Funktionäre in Moskau und die Beamten in den Londoner Amtsstuben. Illusionen hin und her, zurück bleibt ein Stachel" (260).
Der Verfasser stellt mit großem Einfühlungsvermögen alle Seiten dieser vielschichtigen Persönlichkeit dar: nicht nur den zupackenden und charismatischen Staatsmann, auch den privilegierten Spross der britischen Hocharistokratie mit sozialem Gespür, den Abenteuerlustigen in Kuba, Indien und Südafrika, den Hobby-Maler mit seiner Vorliebe für mediterranes Flair, den brillanten und außerordentlich fruchtbaren Journalisten und historischen Schriftsteller mit ausgeprägtem Organisationstalent für seine schriftstellerische Produktion, der es nicht verwand, 1953 nicht den Friedensnobelpreis, sondern "nur" den Nobelpreis für Literatur erhalten zu haben, den sensiblen Privatmann und Familienvater und auch seinen tiefen politischen Fall 1915 nach dem Gallipoli - Abenteuer und 1929 nach der Wahlniederlage der Konservativen. Lloyd George hat es 1934 auf den Punkt gebracht: "eines der bemerkenswertesten und verwirrendsten Rätsel unserer Zeit" (15).
In einem äußerlich unscheinbaren Taschenbuch verbirgt sich eine Biografie, die zu den deutschen Standardwerken über Churchill gehören dürfte.
Bernd-Jürgen Wendt