Jutta Müller-Tamm: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne (= Rombach Wissenschaften. Litterae; Bd. 124), Freiburg/Brsg.: Rombach 2005, 426 S., ISBN 978-3-7930-9393-0, EUR 52,00
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"Abstraktion als Einfühlung"? Da muss man erst mal stutzig werden. Hieß es nicht in Wilhelm Worringers berühmter Dissertation von 1907 "Abstraktion und Einfühlung"? Und verwies das "und" nicht eher auf einen Gegensatz als auf Identität? Einfühlung als realitätsgenießendes Sich-hinein-Versetzen, Abstraktion als wirklichkeitsbannende Form der Angstbewältigung?
Müller-Tamm zielt mit der vorliegenden Studie darauf ab, das Paradigma der "Einfühlung", genauer genommen das der "Projektion" zu einem der grundlegenden der Philosophie, Psychologie und Ästhetik des 19. Jahrhunderts zu erklären. "In der Tat ist die Figur der Projektion ein Bindeglied, anhand dessen sich die Vernetzung von Physiologie, Erkenntniskritik, Ästhetik und Kulturgeschichte im späteren 19. Jahrhundert verfolgen lässt." (146) Und überzeugend arbeitet die Verfasserin heraus, dass auch Worringer eigentlich keine Polarität formuliert, sondern wenigstens implizit auch die Abstraktion als einen Akt der Projektion definiert (v. a. 12ff. und 249ff.). Dabei ist seine einflussreiche Analyse Zielpunkt einer Entwicklung, die Müller-Tamm auf der Basis breitester Quellenkenntnis aus der Wissenschaftstheorie und anderen Disziplinen seit der anthropologischen Wende der Aufklärung ableitet.
Zentrales Konzept ist das der "neurophysiologischen Abgeschlossenheit". Gemeint ist damit die eigentlich bis heute in den diversen Spielarten des Konstruktivismus gültige Beobachtung, dass der Mensch nie die Außenwelt als solche in den Blick bekommt, sondern immer nur das, was ihm seine Sinnesorgane davon vermitteln. "Die wahrgenommene Welt ist das projizierte Bild einer subjektiven Reizkonfiguration" (12). Jonathan Crary hatte diese fundamentale, die Modernität im Kern berührende Tatsache in seinem viel zitierten "Techniques of the observer: on vision and modernity in the nineteenth century " (1991) analysiert. Müller-Tamm schließt hier an. Sie beobachtet die geradezu universelle Präsenz der Projektionsmetapher vor allem bei den Hauptvertretern der sich entwickelnden wissenschaftlichen Psychologie und kennzeichnet damit ein Wahrnehmungsverständnis, das eher als aktivistische Wirklichkeitsproduktion denn als passivistische Wirklichkeitsnachahmung zu verstehen ist. Gewährsleute hierfür sind in der Frühzeit vor allem Georg Christoph Lichtenberg, Johannes Müller und Jan Evangelista Purkinje, später dann Hermann von Helmholtz, Friedrich Nietzsche, Wilhelm Wundt und Sigmund Freud.
Die Auswirkungen wissenschaftstheoretischer Überlegungen auf die Ästhetik könnten nicht durchgreifender sein. Vor allem am Beispiel der Einfühlungsästhetik eines Robert Vischer oder Johannes Volkelt zeigt Müller-Tamm, wie die Vorstellung von einer leibhaften Projektion das Nachdenken über künstlerische Produktion wie die Wahrnehmung von Kunst bestimmt (214ff.). Noch Heinrich Wölfflins frühe Schriften sind von diesem Paradigma bis in den Kern hinein geprägt gewesen. Dass es hochproduktive Wirkung vor allem auch dort entfalten konnte, wo es um die Entstehung der abstrakten Kunst ging, liegt auf der Hand. Und auch Alois Riegls "Kunstwollen" erscheint nunmehr in einem neuen Licht.
Die Bedeutung der Projektionsvorstellung kann Müller-Tamm vor allem dadurch klären, dass sie auf ihre Präsenz in den verschiedensten Diskursen verweist. Das schließt nicht aus, dass man auch darüber noch hinausgreift und z.B. ihre Relevanz in der Mythentheorie des 19. Jahrhunderts reflektiert. Es dürfte sich erweisen, dass hier noch signifikanteste Ergebnisse zu erwarten sind, und dass davon ausgehend auch tief gehende Einsichten in die Spezifik der künstlerischen Mythenverarbeitung im 19. Jahrhundert zu erwarten sind. Es sei hier nur im Vorgriff auf eine eigene Untersuchung auf Arnold Böcklins anthropomorphistische Mythenvisionen verwiesen, für die mir in der Projektionstheorie geradezu ein Schlüssel vorzuliegen scheint.
Die germanistische Habilitationsschrift Müller-Tamms ist auf einem atemberaubenden intellektuellen Niveau verfasst. Souverän zieht die Autorin alle Register differenziertester Analysetechniken und betreibt eine vergleichende Betrachtung von Kunst- und Wissenschaftstheorie, wie sie auch in der Kunstgeschichte zum Vorbild einer diskursgeschichtlich orientierten Betrachtung werden kann.
Hubertus Kohle