Stephanie Braukmann: Die 'jüdische Frage' in der sozialistischen Frauenbewegung 1890-1914 (= Campus Forschung; Bd. 904), Frankfurt/M.: Campus 2007, 314 S., ISBN 978-3-593-38184-8, EUR 37,90
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Die Dissertation von Stephanie Braukmann (Universität Frankfurt, 2003) ordnet sich auf den ersten Blick in die Erforschung der Frauenbewegung ein. Dafür sprechen Titel, finanzielle Förderung im Rahmen des DFG-Graduierten-Kollegs "Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse" und nicht zuletzt die berufliche Verortung der Autorin: Sie ist Mitarbeiterin am gemeinsamen Frauenforschungszentrum der Hessischen Fachhochschulen. In ihrer diskursanalytischen Arbeit wertet sie vor allem die Debatten in der Zeitschrift "Die Gleichheit" (Jahrgänge 1892-1914) aus, die durch ihren Untertitel als "Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen" näher gekennzeichnet ist. Braukmann analysiert "Die Gleichheit" vor allem entlang dreier Fragestellungen:
1. Das Verhältnis der sozialistischen Frauenbewegung zu antisemitischen Vereinigungen und Parteien. Ergebnis: Weitgehend klare Abgrenzung. Jedoch sind nicht die genuin antisemitischen Positionen Grund für die Abgrenzung, sondern die antifeministische und antisozialistische Ausrichtung der antisemitischen Organisationen.
2. Der Wortgebrauch antijüdisch konnotierter Begriffe wie "Schacher", "Wucher" und anderer. Ergebnis: Antijüdisch konnotierte Begriffe werden - bemerkenswerterweise - auch in der Zeitschrift "Gleichheit" verwendet. Jedoch ist dies nur ein metaphorischer Wortgebrauch, der nie gegen Juden als Personen gerichtet ist, sodass man diese Ausdrucksweise nicht mit dem Antisemitismus rechter Organisationen vergleichen kann.
3. Das Verhältnis der "Gleichheit" zum russischen Judentum. Ambivalentes Ergebnis: Auf der einen Seite geißelt die "Gleichheit" das zaristische Unterdrückungssystem mit seinen dem reaktionären Geiste entsprungenen Pogromen. Auf der anderen Seite ist "Die Gleichheit" auch nicht frei von antijüdischen Positionen, wie sie allerdings schon die Aufklärung vertreten hatte: Die jüdische Religion wurde in der Aufklärung - und später auch in der "Gleichheit" - häufig als mittelalterlich rückständig, dogmatisch, unvernünftig, d. h. schlechterdings unaufgeklärt und unmodern charakterisiert. Dies übrigens ganz im Gegensatz zum Antisemitismus der Rechten, für die der Jude häufig für die negativen Folgen der Moderne, für Kapitalismus und für die Zerstörung vormoderner, traditioneller Lebensverhältnisse, steht. (Den Unterschied zwischen reaktionärem und aufgeklärtem Antisemitismus stellt Braukmann auch gebührend heraus.)
Was jedoch auf den ersten Blick nur als ein Beitrag zur Erforschung der Frauengeschichte erscheint, ist weit mehr: nämlich ein wichtiger Baustein zur Antisemitismusforschung. Die sehr stark theoriegeleitete Arbeit setzt sich nicht nur mit Theoremen der Frauenforschung intensiv auseinander, sondern ganz zentral mit Shulamit Volkovs (mit Modifizierungen versehener) These vom Antisemitismus als "kulturellem Code", der geteilt wird von allen antimodernen, antisozialistischen, antidemokratischen, antiliberalen (und natürlich auch antifeministischen) Strömungen. Dieser reaktionären Kultur des Kaiserreiches steht die andere Kultur des Fortschritts und der Emanzipation dichotomisch gegenüber. Und dann die Ergebnisse von Braukmann, die Fragen aufwerfen, ob die Kaiserreichsgesellschaft nach Volkovs Theorie vom Antisemitismus als kulturellem Code so eindeutig in zwei Kulturen geteilt werden kann, die sich scheiden, je nachdem, wie sie sich zum Antisemitismus und zur Judenemanzipation verhalten. Denn Braukmann muss feststellen: Auch die Debatten der sozialistischen Frauenbewegung, die doch so eindeutig dem Lager des Fortschritts zuzuordnen ist, waren "keineswegs frei von antijüdischen Stereotypen in Bezug auf jüdische Kultur und Religion" (Umschlagtext). Dies waren übrigens die Debatten innerhalb der Sozialdemokratie auch nicht, was Braukmann beiläufig im Anhang durch vier aussagekräftige Karikaturen aus dem "Wahren Jacob" leider mehr illustriert als thematisiert. Nach der Lektüre von Braukmann muss man konstatieren, so einfach lässt sich die Gesellschaft des Kaiserreiches mit Antisemitismus oder Judenfeindschaft als Scheidemarke nicht in zwei Kulturen aufteilen. Da sind zumindest in Hinblick auf die sozialistische Frauenbewegung die Differenzierungen angebracht, die Braukmann macht.
Die Arbeit ist theorieorientiert und gleichzeitig sind die Ergebnisse sorgfältig mit Quellen belegt, die Argumentation ist durchweg differenzierend und sehr vorsichtig abwägend. Ihre Ergebnisse können leicht über das Inhaltsverzeichnis und die Kapitelzusammenfassungen erschlossen werden. Nur der für eine Dissertation nicht untypische Wissenschaftsjargon - schade - und die etwas lang geratene "Theoretische und methodische Vorbemerkung" (50 Seiten) erschwert die Rezeption über den engen Kreis der Fachleute hinaus. Doch: Braukmanns Arbeit über die jüdische Frage in der sozialistischen Frauenbewegung ist eine breite Rezeption zu wünschen, nicht zuletzt weil sie unabhängig von allen vorhandenen Verdiensten für die Frauenforschung ein wertvoller Baustein zur Nuancierung der antisemitischen Positionen in der Gesellschaft des Kaiserreiches ist. Man darf auf die Aufnahme gespannt sein, nicht nur in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit.
Manfred Hanisch