Henning Türk: Die Europapolitik der Großen Koalition 1966-1969 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Bd. 93), München: Oldenbourg 2006, 255 S., ISBN 978-3-486-58088-4, EUR 24,80
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Veronika Heyde: Frankreich im KSZE-Prozess. Diplomatie im Namen der europäischen Sicherheit 1969-1983, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017
Morten Rasmussen / Ann-Christina Lauring-Knudsen (eds.): The Road to a United Europe. Interpretations of the Process of European Integration, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2009
Verglichen mit der intensiven Erforschung der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland in der Adenauer-Zeit und zur Zeit der sozial-liberalen Koalition gilt die Mitte der 1960er-Jahre, insbesondere die Zeit der Großen Koalition, als wenig bewegend. Zwar gibt es Einzelne grundlegende Studien, etwa von Klaus Hildebrand oder Rainer Marcowitz [1], die sich mit den Außenbeziehungen beschäftigten, die Europapolitik spielte hier aber immer nur als Teilaspekt eine Rolle. Die europapolitische Leistung der Großen Koalition sei es gewesen, so resümierte Klaus Hildebrand, dass sie "Schlimmeres verhütet habe". [2] Das bezog sich auf die Krise der EWG zwischen 1965 und 1969.
Die Essener Dissertation von Henning Türk strebt eine systematische und umfassende Darstellung der bundesdeutschen Europapolitik zwischen 1966 und 1969 an. Methodisch orientiert sich die Arbeit an der klassischen Politikgeschichte. Sie ist, entgegen dem in den vergangenen Jahren einsetzenden Trend zur Erforschung der europäischen Integrationsgeschichte aus multilateraler Perspektive, ausschließlich auf die Entscheidungsprozesse innerhalb der Bundesregierung konzentriert. Türk rechtfertigt dies mit dem Hinweis darauf, dass erst die vertiefte Analyse der nationalen Perspektiven die Voraussetzung für die multilaterale Erforschung geben kann. Dies ist völlig richtig, aber die Arbeit von Türk leistet mehr als eine Grundlage für weitere Forschungen.
Die Arbeit ist chronologisch in fünf Kapitel gegliedert. Kapitel I beschäftigt sich mit den Voraussetzungen der Europapolitik für die neue Bundesregierung, die nicht sehr gut waren. Die institutionelle Krise der EWG, die blockierte Erweiterung und das gestörte Verhältnis zu Frankreich waren die Hauptprobleme. Dennoch ging die Bundesregierung mit Elan daran, die Krise zu überwinden. Die bereits eingeleitete Kennedy Runde des GATT wurde erfolgreich zu Ende gebracht und die Fusion der Gemeinschaften realisiert. Für Letzteres musste die Bundesregierung zwar Walter Hallstein als Präsidenten der EWG-Kommission "opfern", erhoffte sich aber vergeblich im Gegenzug Kompromissbereitschaft des französischen Staatspräsidenten de Gaulle in der Erweiterungsfrage. Die gegensätzlichen Interessen zwischen der französischen Regierung einerseits und der britischen andererseits bestimmten dann auch die Politik der Bundesregierung. Türk kann zeigen, dass Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger gemeinsam mit de Gaulle die Meinung vertrat, dass der britische Beitritt für die EWG zu früh käme. Dagegen tendierten das Auswärtige Amt und Außenminister Willy Brandt dazu, Großbritannien aus wirtschaftlichen und politischen Gründen so bald als möglich aufzunehmen. Ob dies "Inkongruenzen" in der deutschen Politik waren (78) mag dahin gestellt bleiben, man könnte auch sagen, dass die Bundesregierung durch diese Konstellation für beide Seiten offen blieb, was auch Vorteile hatte.
Gleichwohl entstand in Bonn nach der Vollendung der Zollunion im Rahmen der EWG und der mit hohen Erwartungen verknüpften Ratspräsidentschaft das Gefühl des Scheiterns der Europapolitik (Kapitel III). Die selbst gesetzten Ziele der Erweiterung und Vertiefung schienen angesichts des tiefen französisch-britischen Gegensatzes in weite Ferne gerückt. Angesichts der innenpolitischen Probleme (Erstarken der NPD bei Landtagswahlen, Höhepunkt der studentischen Proteste) erschien es den Bonner Verantwortlichen schon als positiv, dass die EWG nicht auseinanderbrach.
Überhaupt schätzte die Bundesregierung ihre außen- und europapolitischen Möglichkeiten angesichts der selbst wahrgenommen Schwäche als sehr gering ein (Kapitel IV). Vor allem die Beziehungen zu Frankreich verschlechterten sich angesichts der unterschiedlichen Reaktionen auf die Niederschlagung des "Prager Frühlings" und der Kontaktaufnahme de Gaulles mit Großbritannien über die deutsche Bundesregierung hinweg. Beinahe resigniert stellte Ministerialdirektor Paul Frank fest, dass "die deutsche Europa-Konzeption [...] sich nicht inspirieren lassen [darf] von dem Wunsch, dass Deutschland wieder eine machtpolitische Rolle in Europa spielen möge" (204). Dem stand jedoch entgegen, dass der Bundesrepublik auf dem wirtschafts- und währungspolitischen Sektor sehr wohl eine Großmachtrolle zugewachsen war, deren Bedeutung für die Europapolitik den Verantwortlichen offenbar noch nicht ganz klar geworden war.
Insgesamt arbeitet Türk überzeugend heraus, dass sich in der Großen Koalition zwei verschiedene europapolitische Konzeptionen gegenüberstanden: Zum einen das vom Bundeskanzleramt favorisierte Konzept einer europäischen politischen Gemeinschaft mit einer gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik insbesondere als Reaktion auf die Bedrohung durch die Sowjetunion, zum anderen die vom Auswärtigen Amt verfolgte Strategie einer Erweiterung insbesondere in ökonomischer Hinsicht. Diese verschiedenen europapolitischen Ansätze aber, so der Autor weiter, wurden nie diskutiert, sie existierten vielmehr unvermittelt nebeneinander. Dies sei die große Schwäche der bundesrepublikanischen Europapolitik zwischen 1966 und 1969 gewesen.
Die Studie von Henning Türk stellt zum ersten Mal die Europapolitik der Großen Koalition in einer gründlichen Analyse in den Mittelpunkt. Die Arbeit überzeugt zudem durch die dank sorgfältiger Recherche breite Quellenbasis und die solide und nüchterne Interpretation. Sie zeigt, wie unsicher die Bundesrepublik Deutschland noch in der Mitte der 1960er-Jahre auf europäischer Ebene agierte. Doch liegen gerade hierin auch die Grenzen der Arbeit: Während sich die Bundesregierung selbst als kleinere Macht in Europa einschätzte, wurde sie insbesondere in Frankreich und Großbritannien als europäische Großmacht angesehen, vor der man vor allem wegen des überragenden wirtschaftlichen Gewichtes zunehmen Respekt, bisweilen Angst bekam. Diese Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, die vielleicht entscheidend für das Verständnis der Geschichte der europäischen Integration in dieser Phase ist, konnte Henning Türk aufgrund seiner Fragestellung und Quellenauswahl nicht thematisieren. Dies wird die Aufgabe von multiperspektivischen Darstellungen sein.
Anmerkungen:
[1] Rainer Marcowitz: Option für Paris? Unionsparteien, SPD und Charles de Gaulle 1958-1963, München 1996.
[2] Klaus Hildebrand: Von Erhard zur Großen Koalition 1963-1969, Stuttgart 1984, 318.
Guido Thiemeyer