Rezension über:

Marie-Christine Heinze: Weiblichkeit und öffentlicher Raum im Jemen (= Bonner islamwissenschaftliche Hefte; Heft 1), Schenefeld: EB-Verlag 2006, 70 S., ISBN 978-3-936912-51-7, EUR 16,50
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Rezension von:
Jasmin Khosravie
Toronto
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Conermann
Empfohlene Zitierweise:
Jasmin Khosravie: Rezension von: Marie-Christine Heinze: Weiblichkeit und öffentlicher Raum im Jemen, Schenefeld: EB-Verlag 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 7/8 [15.07.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/07/13489.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Islamische Welten" in Ausgabe 7 (2007), Nr. 7/8

Marie-Christine Heinze: Weiblichkeit und öffentlicher Raum im Jemen

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In ihrer Untersuchung von Weiblichkeitskonzepten im Jemen fragt Marie Heinze, wie diese den individuellen Handlungsspielraum jemenitischer Frauen auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen prägen und welche Strategien sie im Umgang hiermit entwickelt haben. Die divergierenden Machtstrukturen des noch relativ jungen Staatsgebildes Jemen und die unstete Positionierung der eigenen Politik sowohl auf regionaler als auch auf globaler Ebene tragen dazu bei, dass der Weg zu einem "modernen" Jemen kontrovers diskutiert wird. In diesem sich fortwährend entwickelnden Staatsbildungsprozess wirken vorherrschende Konzepte von Weiblichkeit entscheidend auf die Definition der Rollen von Frauen und Männern. Inwieweit jemenitische Frauen dabei selbst in diesen Prozess involviert sind, wird in der vorliegenden Arbeit aufgezeigt. Damit leistet Heinze sowohl für die aktuelle Jemenforschung als auch für die islamwissenschaftlichen gender studies einen signifikanten Beitrag durch überzeugende Methodik und analytische Genauigkeit.

Der Herausforderung einer theoretischen Basis in der Geschlechterforschung - insbesondere für eine islamwissenschaftliche Arbeit - ist sich die Autorin durchaus bewusst (12). Heinze wählt aus der mittlerweile kaum noch überschaubaren Theoriendebatte zwischen Differenztheorie und Butlerschem Dekonstruktivismus einen der (feministischen) Anthropologie entstammenden Ansatz, den sie selbst um eine Analyseebene ergänzt. Zentrale Kriterien sind hierbei insbesondere, wie sich Öffentlichkeit und Privatheit im muslimischen (bzw. jemenitischen) Raum abhängig von den sozio-kulturellen Gegebenheiten gestalten sowie die Darstellung sozialer Ganzheiten in Abgrenzung zu dichotomischen Ansätzen, die nicht ohne Weiteres auf muslimische Gesellschaften übertragen werden können.

Das dreistufige Analysemodell ist maßgebend für den Aufbau der Arbeit. Nach einer Einleitung folgt zunächst eine kompakte Verortung der historisch-politischen, gesellschaftlich-sozialen und religiösen Hintergründe des Jemen. Im dritten Kapitel geht es darum Weiblichkeitskonstruktionen basierend auf jemenitischen Traditionen von Status und Ehre, sowie Strukturen von Ungleichheit und die sich daraus ergebenden Handlungsmöglichkeiten von Frauen auf der "Mikroebene" (12) darzulegen. "Mikro" bezeichnet dabei einen Raum, der im Groben den persönlichen Familien- und Bekanntenkreis umfasst. Kapitel 4 erweitert diese Analyse auf die "Makroebene", d.h. eine Ebene, "auf welcher durch Medien und andere Formen der Meinungsbildung Einfluss auf einen breiteren gesellschaftlichen Diskurs genommen werden kann" (12). Ein resümierendes fünftes Kapitel, ein Anhang (Auswahl von Zeitungsartikeln) und die Bibliographie beschließen die Arbeit. Als Quellen wurden insbesondere die jemenitische Presse der Jahre 2000-2004, Presseorgane des Dachverbands von Frauenorganisationen und der Ḥizb al-I ṣ lā ḥ sowie Interviews mit Jemen-Experten der GTZ und FES sowie einer jemenitischen Dozentin ausgewertet.

Die ausführliche Darstellung der jemenitischen Rahmenbedingungen in Kapitel 2 ist grundlegende Basis für jegliches Verständnis der ihr folgenden Analyseteile. Konzepte von Weiblichkeit können nur vor dem Hintergrund der enormen Pluralität des Landes, geprägt von höchst unterschiedlichen geographisch-ökologischen Regionen mit ihrer jeweils eigenen Geschichte und traditionellen Bevölkerungsgruppen bewertet werden. Die Legitimität ihrer Aussagen sieht die Autorin allerdings in der "traditionellen Sozialstruktur des Großteils der jemenitischen Bevölkerung" (14) begründet, wobei sie die Gefahr von Verallgemeinerungen in Bezug auf Charakteristika einzelner Gebiete des Jemen (wie etwa der Insel Sokotra) durchaus sieht. Dieses Problem stellt sich jedoch grundsätzlich bei der Untersuchung konstruierter postkolonialer Staatsgebilde und erscheint insbesondere im Hinblick auf die traditionellen gesellschaftlichen Hierarchien im Jemen nicht als ein Manko der Vorgehensweise.

Die Autorin schlägt hier einen Bogen von den beiden Revolutionen zu Beginn der 1960er Jahre über die Vereinigung von Norden und Süden 1990 und den Bürgerkrieg 1994 bis hin zu den aktuellen Machtdynamiken von Patrimonialismus, Tribalismus und Institutionalismus. Die Bedeutung und Manifestation tribaler Zugehörigkeit in der jemenitischen Gesellschaft sowie die Hierarchie innerhalb non-tribaler Elemente und deren Abhängigkeitsverhältnis mit- und untereinander werden hier eingängig aufgezeigt. Zentraler Punkt in diesem Kapitel ist dabei zum einen, dass neue Merkmale wie materieller Besitz und Bildung bestimmend sein können für eine soziale Verortung, was zur Herausbildung einer "neue(n) Mittelschicht" (21) im Jemen geführt hat. Zum anderen ist die enorme Bedeutung ethischer Werte zu beachten, die Vorbildfunktion innerhalb aller Segmente der Gesellschaft haben und insbesondere wichtige Leitlinien für den Faktor gender darstellen: Reinheit, Frömmigkeit und Ehre.

Die nächste Analysestufe der "Mikroebene" konzentriert sich auf Weiblichkeitskonzepte und die damit verbundenen Handlungsoptionen einer Frau. Die Autorin geht hier zunächst auf die traditionelle Mutter- und Ehefrauenrolle sowie deren Gestaltung innerhalb der verschiedenen sozialen Gruppen ein. Grundsätzlich herrscht das Bild der Gebärerin und Hüterin einer neuen Generation vor, allerdings gestalten sich die Handlungsspielräume jeweils unterschiedlich aus. Im nächsten Schritt stellt sie die interessante Frage, was Öffentlichkeit auf dieser "Mikroebene" eigentlich bedeutet, und kommt dabei zu einer räumlichen Zuteilung, in der sich das dualistische Modell von Privatheit/Öffentlichkeit auflöst ausgehend vom männlichen bzw. weiblichen Standpunkt.

Heinzes Ausführungen zur tafrī ṭa, dem traditionellen get-together jemenitischer Frauen heterogener Herkunft, legen dar, dass auch in häuslicher Sphäre durchaus öffentlicher Raum weiblicher Sozialisation entstehen kann. Die Bestimmung der Sphären ist komplex und ihre Bewertung relativ zu sehen, je nach Perspektive und Umstand. Besonders positiv hervorzuheben ist die kritische Auseinandersetzung mit der spezifisch jemenitischen Symbolik und Ideologie zur Verschleierung von Frauen. Der Autorin gelingt es hier, die komplexen Konzepte von Ehre und weiblicher Körperlichkeit sowie deren Abhängigkeit von sozialem Status detailliert und dennoch kompakt darzulegen.

Im letzten analytischen Kapitel über Handlungsstrategien jemenitischer Frauen auf der "Makroebene" der Öffentlichkeit zeichnet Heinze drei "Wege" (43) weiblicher Partizipation am politischen und zivilgesellschaftlichen Diskurs nach: den staatlichen, den islamistischen und den autonomen Weg. Die Standpunkte, Hintergründe und Einschränkungen der jeweiligen Richtungen werden hinlänglich dargestellt und bewertet. Aktive Frauen auf der Makroebene (vornehmlich der "neuen Mittelschicht" entstammend) tragen die traditionellen Weiblichkeitskonzepte in ihren Grundsätzen mit, propagieren diese teils sogar explizit (islamistischer Weg) und engagieren sich für eine Verbesserung der Lebenssituation der Frauen. Die Gestaltung der Moderne im Staatsbildungsprozess geschieht demnach unter der Integration weiblicher Stimmen, wobei der Anschluss an bereits vorhandene Diskurse (staatlich oder islamistisch) eine häufigere Variante ist als die Ausnahmeerscheinung des initiativen Alleingangs.

Auffallend lang gestalten sich die Fußnoten (v.a. "Religiöse Hintergründe", 21-24, oder "Der autonome Weg", 52-56), anhand derer man sich zwar von der ausgewogenen wissenschaftlichen Arbeitsweise der Autorin überzeugen kann, zum anderen aber auch auf Information stößt, die zuweilen beinahe zu umfangreich erscheint. Für Studienbeginner oder den fachfremden Leser andererseits kann dies zum Vorteil sein.

Ein Manko der Arbeit ist der Nachlässigkeit des Lektorats anzulasten, das neben einigen übersehenen Rechtschreibfehlern ein Inhaltsverzeichnis in den Druck gegeben hat, in dem keine einzige Seitenzahl korrekt ist. Bei diesem Umstand kommt dem Leser nur zugute, dass es sich hier nicht um einen dicken Wälzer handelt, so dass man sich ungeachtet dieses Fehler recht schnell zurechtfinden kann. Des Weiteren bleibt der Sinn und Zweck des Anhangs mit dem Verzeichnis der Zeitungsartikel etwas unklar, da Heinze ihn weder erklärt noch irgendwo auf ihn verweist.

Die vorliegende Arbeit ist eine durchweg gelungene Untersuchung jemenitischer Weiblichkeitsvorstellungen, weiblicher Lebenssituationen und "feministischem" Aktivismus im Jemen. Das detaillierte zweite Kapitel ermöglicht zudem auch jedem Nichtkenner des Jemen ein tieferes Verständnis der Materie. Dabei liegt der Beitrag Marie Heinzes unter anderem darin, eine theorien- und methodenstarke Basis geschaffen zu haben - ein bedauerlicherweise rarer Umstand in der noch jungen Gender-Sektion der Islamwissenschaft.

Jasmin Khosravie