Werner Daum: Oszillationen des Gemeingeistes. Öffentlichkeit, Buchhandel und Kommunikation in der Revolution des Königreichs beider Sizilien 1820/21 (= Italien in der Moderne; Bd. 12), Köln: SH-Verlag 2005, 569 S., ISBN 978-3-89498-146-4, EUR 68,00
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Am 2. Juli 1820 wurde vom Geheimbund der Carboneria in Süditalien eine Revolution ausgelöst, die später auch auf Sizilien übergriff. Sie war Teil einer umfassenden konstitutionellen Bewegung im südeuropäischen Raum. Das Eingreifen österreichischer Truppen im März 1821 beendete diese Revolution. Während der vorausgehenden neun Monate konnte sich zwar die neu geschaffene konstitutionelle Ordnung kaum entfalten, aber in dem bestehenden Machtvakuum entwickelte sich in eine politische Öffentlichkeit, die im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung steht. Die Risorgimento-Forschung hat dieser Revolution bisher wenig Beachtung geschenkt und sie aufgrund ihrer Konzentration auf den zielgerichteten Prozess der Nationalstaatsbildung als flüchtige Regung abgewertet. Dieses Desiderat möchte Werner Daum mit seiner rund 500 Seiten umfassenden Dissertation gründlich beheben. Wie der Untertitel des Buches angibt, geht es um die öffentliche Diskurse, die Entwicklung des Buchhandels und der Kommunikation während der revolutionären Phase der Sommers 1820 und des Frühlings 1821. Daum verwendet dabei in seiner Arbeit einen sehr weit gefassten Öffentlichkeitsbegriff. Es geht ihm nicht allein um die diskursiven Produkte einer adlig-bürgerlichen Öffentlichkeit, die sich im Besitz der Deutungshoheit wähnte, sondern er bezieht in seine Analyse auch die Meinungsäußerungen der elementaren Revolution, also der nicht alphabetisierten Mehrheit der süditalienischen Bevölkerung mit ein. Diese umfasste immerhin zwei Drittel der Einwohner des Königreichs beider Sizilien. Neu ist dieser Ansatz nicht. Kulturgeschichtliche Forschungen zur Französischen Revolution (genannt sei hier nur Rolf Reichardt) und zu den Revolution 1848/49 gingen ähnlich vor. [1]
Zudem arbeitet der Autor komparatistisch, indem er sich nicht auf das Festland beschränkt, sondern neben Neapel und auch noch Messina und Palermo in seine Untersuchung einbezieht. Dieser Vergleich ist deshalb besonders fruchtbar, weil Sizilien und das Festland eine unterschiedliche Geschichte und voneinander abweichende ökonomische und politische Traditionen aufweisen.
Um die fragmentierten Teilöffentlichkeiten zu untersuchen, hat Daum äußerst umfangreiches Quellenmaterial gesichtet: darunter Flugblätter, Broschüren, Zeitschriften und Zeitungen, die nicht ausschließlich in süditalienischen Archiven überliefert sind. Auf der Grundlage des beachtlichen Quellenkorpus geht Daum den Voraussetzungen des Produktionsprozesses nach. Ihn interessieren die materiellen Bedingungen der öffentlichen Kommunikation. Wer waren die Akteure, die Produzenten und Rezipienten, wobei man bei der letzten Gruppe häufig im Spekulativen bleibt bzw. bleiben muss. Welche Möglichkeiten gab es für die Druckpresse, wobei sich hier in Neapel traditionell viel bessere Chancen eröffneten als in Palermo, sowohl was Produktion als auch Distribution anbelangte. Obwohl Daum einen sehr weiten Öffentlichkeits- und Kommunikationsbegriff anwendet, vernachlässigt er die Akteure der "großen" Politik keineswegs. Der Autor bietet Sozialprofile der provisorischen Regierungsjunta, der Abgeordneten des Parlaments sowie der provisorischen Regierung in Neapel. Weiterhin thematisiert er die Sozialstrukturen der Carboneria und stellt das Personal der Drucker, Journalisten und Buchhändler vor.
Die präsentierten Ergebnisse dieser äußerst gründlich recherchierten Studie überzeugen weitestgehend. Die Produzenten und Rezipienten der elitären adligen und bürgerlichen Öffentlichkeit sahen sich selbst als die Vertreter der einzig maßgeblichen "pubblica opinione", die politischen und sozialen Meinungsäußerungen des "Volkes" blendeten sie entweder aus oder bezeichneten sie diffus als "spirito pubblico". Dennoch nahm die Publizistik die Äußerungen der elementaren Revolution aufmerksam wahr und versuchte sie - zumindest in Neapel - nach Möglichkeit zu entschärfen oder zu verharmlosen. Darüber hinaus versuchten die Publizisten mittels ihrer Veröffentlichungen wiederum, auf den "spirito pubblico" Einfluss zu nehmen, wobei sich bei diesen Prozessen für Neapel und Sizilien signifikante Unterschiede herausstellen. In Neapel gelang es den moderat-konstitutionellen Eliten zumindest vorübergehend, die Unterschichten durch traditionelle Vermittlungspraktiken von Kirche und Hof (u.a. durch politische Katechismen, gemeinschaftliches Tedeum und eindrucksvolle Zeremonien) in eine Art säkularer Verfassungsreligion einzubinden. Zudem gewährten hier Pressefreiheit und öffentliche Parlamentsdebatten Chancen, ein offeneres Diskussionsklima zu gestalten. In Sizilien verfochten die politischen Eliten hingegen gleich einen dezidierten Separatismus. An der Ausbildung einer diskursiven Öffentlichkeit bestand auf der Insel wenig Interesse.
Wenn Werner Daum davon ausgeht, dass im Königreich beider Sizilien letztendlich ein Kommunikationsdefizit zwischen Publizistik und politischen Institutionen einerseits und der populären Unterschicht andererseits eine Lösung der revolutionären Probleme behinderten, so scheint dies überzogen. Es waren doch wohl eher die fundamentalen Gegensätze der Ziele: auf der einen Seite politische Eliten, die Partizipation oder Separation anstrebten, auf der anderen die Unterschichten, für die die Lösung ihrer massiven sozialen Probleme im Vordergrund stand, was Daum auch einräumt, aber anscheinend für zweitrangig hält. Absolut überzeugend ist hingegen der Befund, dass die süditalienischen Politiker noch keine gesamtsstaatlichen Nationsprojekte verfolgten. Doch würde ich auch hier gerade für die 1820er Jahre noch nicht von einem grundlegenden Unterschied zum deutschen Nationalismus ausgehen. Nationalistisches Gedankengut wurde auch nördlich der Alpen allenfalls von kleinen Gruppen meist in Preußen lebender Intellektueller geteilt, aber wohl kaum von den politischen Eliten Münchens, Dresdens, Hamburg, Hannovers und Kölns. Nicht nur für den italienischen Fall sollte man - wie es Werner Daum überzeugend getan hat - eine zielgerichtete "longue durée" des Risorgimento-Konzeptes der Nationalgeschichtsschreibung überprüfen. Dem vorliegenden Buch ist eine breite Rezeption und Öffentlichkeit vor allem auch in Italien nur zu wünschen. Ein kritischer Punkt sei schließlich dennoch angemerkt: Weniger wäre mehr gewesen. Seine immensen Recherchen haben den Autor anscheinend dazu verleitet, sein Material sehr ausführlich zu präsentieren und gelegentlich redundant zu schreiben. So ist etwa eine Einleitung von rund 55 Seiten einfach zu lang.
Anmerkung:
[1] Vgl. Rolf Reichardt: Das Blut der Freiheit: Französische Revolution und politische Kultur. Frankfurt/M. 1998.
Gabriele B. Clemens