Rezension über:

Jürgen Osterhammel / Dieter Langewiesche / Paul Nolte (Hgg.): Wege der Gesellschaftsgeschichte (= Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft; 22), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 294 S., ISBN 978-3-525-36422-2, EUR 39,90
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Rezension von:
Nils Freytag
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Nils Freytag: Rezension von: Jürgen Osterhammel / Dieter Langewiesche / Paul Nolte (Hgg.): Wege der Gesellschaftsgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 9 [15.09.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/09/11590.html


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Jürgen Osterhammel / Dieter Langewiesche / Paul Nolte (Hgg.): Wege der Gesellschaftsgeschichte

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Diese Festschrift hat zwei Anlässe: Den 75. Geburtstag Hans-Ulrich Wehlers (2006) und das 30-jährige Jubiläum der Zeitschrift "Geschichte und Gesellschaft" (2005). Die sich an das kurze Vorwort anschließenden 14 Aufsätze stammen aus der Feder aktueller und früherer Herausgeber des sozial- und gesellschaftsgeschichtlichen 'Zentralorgans'. Sie sollen hier nicht alle ihrer Reihenfolge nach im Einzelnen diskutiert, sondern vielmehr insgesamt drei Schwerpunkten zugeordnet werden.

Ein erster, deutlich erkennbarer Akzent des Bandes liegt auf der Geschichte der Bundesrepublik. Eine zentrale Rolle in den entsprechenden Beiträgen spielen dabei die von Wehler zur gesellschaftsgeschichtlichen Leitdimension erhobene soziale Ungleichheit als menschliche Grunderfahrung sowie die damit eng verknüpften wirtschaftsgeschichtlichen Aspekte, die wohl auch mit Blick auf den noch ausstehenden fünften Band seiner 'Gesellschaftsgeschichte' akzentuiert werden. So plädiert etwa Klaus Tenfelde für eine runderneuerte kritische Analyse sozialer Ungleichheit nach 1945 und entwirft bezogen auf das Ruhrgebiet ein Forschungsprogramm, das den Werdegängen vor allem sozialdemokratischer Aufstiegsbürger ebenso auf den Grund gehen soll wie den Ursachen von neuen proletarischen Existenzformen in dieser schwerindustriellen Wirtschaftsregion. Mit Blick auf die Wirtschaftsgeschichte der Moderne weist Richard H. Tilly die Idee eines typischen deutschen Wirtschaftsmodells seit dem 19. Jahrhundert zurück und macht als Entwicklungsgrundlage vielmehr eine pfadabhängige Mischung aus staatlichen, korporatistischen und marktwirtschaftlichen Elementen aus, die seit dem vergleichsweise unbefriedigenden Wachstum der 1990er-Jahre (und der sich damit verschärfenden öffentlichen Finanzmisere) auf dem Prüfstand steht. Eine zentrale Ursache der aktuellen finanziellen Schwierigkeiten der öffentlichen Haushalte identifiziert Hans-Peter Ullmann in den Folgen der finanzpolitischen Maßnahmen der 1960er- und 1970er-Jahre. Mit den von einem "breiten Konsens heterogener Kräfte" (267) getragenen Weichenstellungen dieser Jahre zu mehr Staat sowie höheren öffentlichen Schulden und Sozialabgaben greift er dabei Grundüberlegungen seiner Monografie über die Geschichten der öffentlichen Finanzen auf. [1]

Zweitens finden sich verschiedene methodische und theoretisch angelegte Beiträge. So plädiert etwa Jürgen Osterhammel für einen theorieorientierten Dialog zwischen einer Gesellschaftsgeschichte transnationalen Zuschnitts und der historischen Soziologie. In seiner anregenden Skizze erkennt der Mitherausgeber einen besonderen - auch begrifflichen - Theoriebedarf dieser jüngeren Forschungsrichtung, da für diese auf Wechselwirkungen angelegte, erneuerte Gesellschaftsgeschichte der räumliche und zeitliche Bezugsrahmen nicht mehr so selbstverständlich sein soll: der Nationalstaat. Die seit Lutz Raphaels Analyse [2] zum Standardrepertoire zählenden Klagen über die nationale Fixiertheit der Historischen Sozialwissenschaften im Allgemeinen und von 'Geschichte und Gesellschaft' im Besonderen finden sich wiederholt in dem Band, aber lediglich Ulrike Freitag nimmt mit dem Vorderen Orient konkret einen nicht europäisch-atlantischen Raum in den Blick und fragt danach, inwiefern das europäisch-sozialhistorische Vokabular sich eignet, um moderne nahöstliche Vergesellschaftungsprozesse zu analysieren. Damit stellt sie zugleich die angebliche Fremdartigkeit der durch den Islam geprägten Gesellschaften produktiv infrage. Auch Gisela Bock kritisiert den Eurozentrismus in der älteren Frauen- und Geschlechterforschung, führt aber zugleich neuere Studien der 1990er-Jahre vor Augen, die sich mit diskursanalytischen Methoden bereits kolonialen sowie transnationalen Frage- und Problemstellungen zugewandt haben. Zudem hätten diese Studien zu Debatten beigetragen, die zentrale Begriffe wie 'gender' pluralisierten und damit auch nochmals problematisierten.

Mit Christoph Conrads Ausführungen zu so genannten Wenden sind wir beim dritten und innovativsten Akzent, den der Band setzt, denn sie lassen sich sowohl als erfrischender methodischer Beitrag als auch als ein Historisierungsversuch lesen. Conrad relativiert den Stellenwert immer wieder beschworener Paradigmenwechsel erheblich, indem er sie etwa in internationale Zusammenhänge einbettet. Vielmehr legen aus Datenbanken ermittelte Begriffskonjunkturen, Verlaufsmuster und autobiografische Zeugnisse nahe, eher von Knoten statt von geschichtswissenschaftlichen Wenden zu sprechen; dies ist ein Gedanke, der es lohnte, ihn ausführlich zu vertiefen. Den Rückblick auf ein erfolgreiches Forschungsprogramm, dessen Vertreter nun beginnen, sich selbst zu historisieren, unternimmt auch Jürgen Kocka am Berliner Beispiel. Er stellt mit seinen Überlegungen eine sozialgeschichtlich inspirierte Berliner Richtung gleichrangig neben die so genannte Bielefelder Schule. Insgesamt betont er die vielfältigen Strömungen, die zu den sozialgeschichtlichen Anfängen in der Bundesrepublik beitrugen, und unterstreicht zu Recht Gerhard A. Ritters herausragende Bedeutung in diesem Zusammenhang. Anregend und am konsequentesten historisiert Dieter Langewiesche die Sozialgeschichte, weshalb sein Beitrag hier am Ende stehen soll. Indem er das sozialgeschichtliche "Umschreiben" der Historie (Koselleck) als geschichtstherapeutische Kur der 1960er- und frühen 1970er-Jahre verstanden wissen will, deutet er die Sonderwegsthese als "wissenschaftlich nobilitierten vergangenheitspolitischen Grundkonsens der Bundesrepublik" jener Ära (73), da es mit ihr zumindest zeitweise gelang, ein Geschichtsbild salonfähig zu machen, das zuvor in oppositionellen Milieus - allen voran im sozialdemokratischen - beheimatet war.

Fazit: Eine insgesamt anregende Festschrift, die freilich vom "geschätzten 'agonalen Prinzip'" (10) des Geehrten nur wenig erahnen lässt.


Anmerkungen:

[1] Hans-Peter Ullmann: Der deutsche Steuerstaat. Geschichte der öffentlichen Finanzen vom 18. Jahrhundert bis heute, München 2005.

[2] Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003. Vgl. hierzu die Rezensionen im FORUM der sehepunkte 5 (2005), Nr. 1; URL: http://www.sehepunkte.de/2005/01/index.html

Nils Freytag