Paola von Wyss-Giacosa: Religionsbilder der frühen Aufklärung. Bernard Picarts Tafeln für die Cérémonies et Coutumes religieuses de tous les Peuples du Monde, Zürich: Benteli 2006, 355 S., ISBN 978-3-7165-1421-4, EUR 49,80
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Das in den Jahren 1723 bis 1737 in Amsterdam in sieben Foliobänden erschienene Werk "Cérémonies et Coutumes religieuses de tous les Peuples du Monde" war trotz seines hohen Preises und seines unhandlichen Formats ein Bestseller der Aufklärungszeit. Innerhalb weniger Jahre erschienen Neuauflagen sowie Übersetzungen ins Holländische, Englische und Deutsche, 1741 auch eine Konkurrenz-Ausgabe in Französisch. Die erste französische Auflage umfasste 1200 Exemplare, die deutsche Übersetzung, herausgegeben von David Herrliberger 350 Exemplare. In den namhaften Publikationsorganen der Zeit wurde das Werk ausführlich und wohlwollend rezensiert; in vielen Bibliotheken prominenter Zeitgenossen ist es nachweisbar. Um so erstaunlicher ist, dass es in der Forschung bislang noch kaum zur Geltung gebracht worden ist. Die Untersuchung Wyss-Giacosas, die 2005 als Dissertation in Zürich eingereicht wurde, nutzt nun erstmals die hier gegebenen Möglichkeiten.
Thema der "Cérémonies" sind die Zeremonien und kultischen Ausdrucksformen sämtlicher bekannter Religionen: Nicht nur die den Europäern unmittelbar bekannten Religionen, also das Judentum, die verschiedenen christlichen Konfessionen und der Islam, sondern auch die Religionen Amerikas, Afrikas und Asiens sollten mit ihren Ritualen und Praktiken vorgestellt werden. Das umfangreiche Werk kam damit dem Bedürfnis der Zeit nach enzyklopädischen Überblickswerken ebenso entgegen wie dem wachsenden Interesse der aufgeklärten Gebildeten an den "exotischen" außereuropäischen Kulturen. Herausgeber war Jean Frédéric Bernard, der als hugenottischer Literat und Buchhändler im aufklärerischen Milieu Amsterdams zu Hause war und sich als Verleger von Reiseberichten und kulturkritischen Werken einen Namen gemacht hatte.
In den einführenden Texten entwickelt Bernard ein bemerkenswertes religionstheoretisches Konzept: Religion ist für ihn primär ein gesellschaftliches Phänomen. In ihrem wesentlichen Kern stimmten alle Religionen überein, lediglich in ihren Ausdrucksformen seien sie unterschiedlich. In den diversen Bräuchen und Formen fänden die je eigenen religiösen Vorstellungen der Menschen ihren Ausdruck; dahinter liege jedoch das im Wesen des Menschen ganz allgemein begründete Bedürfnis nach Zeremonien überhaupt. Ebenfalls anthropologisch konstant sei der Wunsch, bestimmte Zeiten und Aspekte des Menschseins wie Geburt und Tod durch religiöse Rituale zu deuten, aber auch der Versuch durch Gebete Zugang zum Göttlichen zu schaffen. Diese anthropologischen Voraussetzungen machten - so Bernard - den interkulturellen Vergleich verschiedener Religionen möglich. Bernard selbst verband diese Analyse mit einer deutlichen Kritik an den Ritualen. Diese seien zu verurteilen, weil sie vom ursprünglichen Inhalt der reinen Religion losgelöst seien. Im Sinne der Aufklärung müsse demgegenüber verdeutlicht werden, was das eigentlich Grundlegende und Wesentliche der Religion sei. Diesem Zweck sollten auch die "Cérémonies" dienen. Mit ihnen "wurde eine sorgfältig selektionierte Sammlung von Materialien präsentiert, welche als Grundlage zu einer wissenschaftlichen Diskussion über das menschliche Bedürfnis nach einem immanenten Ausdruck von Glauben und über die von Bernard in seiner Ritualkritik thematisierten damit verbundenen Gefahren dienen sollte" (11).
Das Besondere und Wirkmächtige der "Cérémonies" waren allerdings nicht die von Bernard verfassten Texte, sondern die zahlreichen Illustrationen, die einen konkreten Eindruck von den Zeremonien, Ritualen und Gebräuchen der fremden Religionen geben sollten. Sie stammten aus der Werkstatt des Amsterdamer Kupferstechers Bernard Picart (1673-1733), dessen Name von Anfang an - nicht zuletzt durch die Nennung auf dem Titelblatt - mit dem Gesamtwerk verbunden wurde. Picart verfolgte mit den Illustrationen ein ethnografisch-visuelles Konzept "an der Schnittstelle von Ethnologie und Kunstgeschichte", das er an anderer Stelle, in einer Schrift mit dem Titel "Discours sur les préjugez de certains curieux touchant la gravûre" (Amsterdam 1734) auch theoretisch begründete, eine "piktorale Ethnographie" (12), mit der die gesamte bekannte Welt visuell erfasst werden sollte. Picart verstand seine Illustrationen als Beitrag zu einer wissenschaftlichen Erkundung der verschiedenen Religionen und gehört damit zu den Vorläufern einer religionsphänomenologischen Komparatistik. Nur für den kleinsten Teil, nämlich das protestantische Christentum und das Judentum, konnte er sich dabei auf die unmittelbare eigene Erfahrung stützen - im Sinne einer "Feldforschung" durch "teilnehmende Beobachtung" (12). Für den weitaus größten Teil seiner Illustrationen verließ er sich, da er die Niederlande nie verlassen hatte, auf Informationen aus zweiter Hand, auf Erzählungen und vor allem auf gedruckte Reiseberichte, die in diesen Jahren eine Hochkonjunktur erlebten.
Im Zentrum der Analyse Wyss-Giacosas steht ein thematischer Teilbereich des Werkes, die indische Religion. Darüber hinaus liefert Wyss-Giacosa aber auch die methodischen und sachlichen Grundlagen, die weitere Forschungen auf den Weg bringen könnten. In ihrem Hauptteil (117-315) widmet sie sich den Illustrationen Picarts zu Indien, untersucht deren Quellen, ihre Funktion, ihre Deutung und Weiterverarbeitung durch die Zeitgenossen. Vorangestellt sind drei Kapitel, die auf profunde Weise den Gesamtzusammenhang verdeutlichen: zunächst Leben und Werk Bernard Picarts, dann die Konzeption der "Cérémonies" als Buchprojekt der Frühaufklärung, wobei auch die Bedeutung des Herausgebers Jean Frédéric Bernard herausgestellt wird, und schließlich unter dem Titel "Bilder von Religion" das Verhältnis von "Bild und Wort" in den "Cérémonies" und die Frage nach Picarts Quellen. Die Indien-Illustrationen zeigen Gottheiten und ihre Verehrung sowie Asketen und ihre Praktiken, außerdem religiöse Rituale, Feste und Prozessionen. Ihre Analyse ist nicht nur kulturgeschichtlich und ethnografisch aufschlussreich, indem der Blick der aufgeklärten Europäer im 18. Jahrhundert auf die indische Religion herausgearbeitet wird, sondern verweist darüber hinaus auf die Möglichkeiten und Grenzen, die überhaupt mit der Illustration von unbekannten oder fremden Phänomenen gegeben sind. Die Darstellungen Picarts - ohne eigene Anschauung angefertigt, gestützt auf Berichte aus zweiter Hand - wurden für lange Zeit mitbestimmend für das europäische Indien-Bild, unabhängig davon, wie weit diese Darstellungen tatsächlich den Realitäten entsprachen. Indem also Picarts Illustrationen in der Folgezeit in Bildanthologien immer wieder reproduziert wurden, "fanden bestimmte Sujets Eingang in einen übergeordneten Vorstellungskanon zu außereuropäischen Kulturen und wurden über längere Zeit zu festen und einflussreichen Bestandteilen desselben" (317). Wie prägend dieser Einfluss war, zeigt sich auch in Wyss-Giacosas Schlusskapitel zur weitreichenden Wirkungsgeschichte von Picarts "Cérémonies".
Die Texte Bernards und die Illustrationen Picarts sind Zeugnisse einer frühen Religionswissenschaft. Sie ordnen sich ein in den Diskurs des 18. Jahrhunderts über Religion im Allgemeinen und die "wahre" Religion im Besonderen und bereiten den Weg für die Entwicklung von Religionssoziologie und Religionsphänomenologie. Zugleich öffnen sie den Blick für die anthropologischen Bedingungen von Religion und bieten so auch eine frühe "visuelle Anthropologie" im Sinne der Aufklärung.
Die Untersuchung Wyss-Giacosas zeigt exemplarisch an der Religion Indiens die konzeptionelle und inhaltliche Vielschichtigkeit dieses Werkes und lädt Religions- und Kulturwissenschaftler dazu ein, den damit gewiesenen Wegen weiter nachzugehen.
Anne Conrad