Stefanie Muhr: Der Effekt des Realen. Die historische Genremalerei des 19. Jahrhunderts (= Europäische Geschichtsdarstellungen; Bd. 11), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, 445 S., 48 Abb., ISBN 978-3-412-32105-5, EUR 64,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Hans-Werner Schmidt / Jan Nicolaisen / Martin Schieder (Hgg.): Eugène Delacroix & Paul Delaroche. Geschichte als Sensation, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2015
Roger Diederen / Davy Depelchin: Orientalismus in Europa. Von Delacroix bis Kandinsky, München: Hirmer 2010
Herbert W. Rott / Renate Poggendorf / Elisabeth Stürmer: Carl Rottmann. Die Landschaften Griechenlands, Ostfildern: Hatje Cantz 2007
Obschon seit den 1980er-Jahren in der Kunstgeschichte ein Paradigmenwechsel spürbar ist und die so genannte "akademische" Malerei des 19. Jahrhunderts in neueren Untersuchungen nicht mehr pauschal als kitschig oder anti-modernistisch abgelehnt wird, sind Studien, die Künstler und Bildwerke länderübergreifend analysieren, noch immer vergleichsweise selten. Vor diesem Hintergrund scheint die im Rahmen des Graduiertenkollegs "Europäische Geschichtsdarstellungen" der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf entstandene Arbeit von Muhr eine willkommene Ergänzung, eine Erwartung, die leider enttäuscht wird.
Die 62-seitige Einleitung ist der wohl stärkste Teil der Untersuchung. Hier werden die heterogenen Forschungsdiskurse seit ca. 1980 in einem soliden Überblick präsentiert. Muhr untersucht französische, belgische, deutsche und englische, in der Regel nach 1830 entstandene Gemälde unter dem Gesichtpunkt der Vermischung und daher Infragestellung der tradierten Bildgattungen sowie in Hinblick auf ihren Umgang mit Vergangenheit. Der Einfluss gewandelter Sehgewohnheiten infolge der Popularisierung von Panoramen, Dioramen, Theaterinszenierungen und Wachsfigurenkabinetten kommt im zweiten Kapitel der Arbeit zur Sprache. Die gestiegene Bedeutung der zeitgenössischen Geschichtsschreibung und des historischen Romans, anhand derer die Verbindung von Historie und Dichtung untersucht werden, sind Thema des dritten Kapitels. Die Etablierung der "historischen Genremalerei" und ihre Diskussion werden im folgenden Teil zur Debatte gestellt. Erst in den Kapiteln fünf, sechs und sieben werden Bildbeispiele verhandelt. Im Zentrum stehen dabei Delaroche, die belgische Malerei der 1840er-Jahre, Meissonier und Gérôme, sowie Laurens, Delaunay, Bastien-Lepage und einzelne Präraffaeliten. Antikenrezeption und religiöse Malerei werden hier besonders berücksichtigt.
Der Titel der Arbeit verdankt sich einer Studie von Roland Barthes, die hier nur in deutscher Übersetzung nach dem Internet nachgewiesen ist (38, FN 87). Die Autorin irrt jedoch, wenn sie ausführt, Barthes exemplifiziere den effet de réel an Michelets Histoire de France (258). In der ersten Prägung des Begriffs ging es dem französischen Theoretiker vielmehr vor allem um Flaubert. In der Bibliografie sucht man - trotz der Angabe von vier Titeln des Autors (424) - den mittlerweile klassischen, 1968 erstmals veröffentlichten und im zweiten Band von Barthes' Œuvres complèts 1994 erneut publizierten Aufsatz L'effet de réel vergebens.
Kaum eine Epoche hat so viele kunstkritische Texte hervorgebracht wie das 19. Jahrhundert; folgerichtig gibt es in dieser Arbeit nur wenige Passagen ohne zeitgenössische Äußerungen. In der Bibliografie jedoch erscheinen nur 19 vor 1900 veröffentlichte sowie einige in modernen Editionen publizierte Quellen. Wie ist diese Diskrepanz zu erklären? Die meisten Zitate übernimmt Muhr aus der Literatur, inklusive Auslassungen, unvollständigen Belegen, Fehlern usw. Bislang nicht von der Forschung ausgewertete Quellen werden kaum berücksichtigt. Dass der über den Themenkomplex Informierte also nichts Neues erfährt, kann vor diesem Hintergrund nicht erstaunen. Die Forschungen ihrer Vorgänger verbindet Muhr, unbestritten souverän, zu einem flüssigen Text. Jedoch stellt ihr Vorgehen den Wert der gesamten Untersuchung in Frage. Dies macht hier weniger eine Rezension, als vielmehr eine methodologische Reflexion notwendig.
Das Zusammenstellen von Kunstkritiken aus unterschiedlichen Arbeiten führt zunächst zu formalen Diskrepanzen in den Fußnoten: z.B. gibt Fußnote 91, Seite 232, an "Kunstblatt 1836, zit. nach SITT ..." [Auslassung von der Rezensentin], Fußnote 107, S. 234, ist da genauer: "Deutsches Kunstblatt 51 (1850), S. 405, zit. nach GUROCK, S. 54." Gewiss, nicht jedes Zitat, vor allem aus älterer Literatur, lässt sich zweifelsfrei nachweisen und nicht immer ist das Gesuchte zu beschaffen. Jedoch sollten solche Zitatreihungen die Ausnahme sein und nicht, wie hier, die Regel. Sie bergen nämlich ein bisweilen unüberschaubares Fehlerpotenzial: So zitiert Muhr Friedrich Pechts wunderbaren, gegen überbordende Detailtreue in der "Historien"-Malerei gerichteten Ausspruch "Mit dem Mikroskop untersucht man Läuse, aber keine Helden." Die Fußnote dazu (202, FN 101) erläutert: "Deutsche AZ 88/14.4.1867, S. 716, zit. nach BRINGMANN (1987), S. 241". Nun beginnt eine herausfordernde Schnitzeljagd: Michael Bringmanns Aufsatz Tod und Verklärung. Zum Dilemma realistischer Historienmalerei am Beispiel von Pilotys "Seni vor der Leiche Wallensteins" findet sich nämlich nicht, wie in der Bibliografie angegeben, in dem Kölner Ausstellungskatalog Triumph und Tod des Helden von 1987. Fündig wird man hingegen in dem 1990 von Ekkehard Mai herausgegebenen Sammelband Historienmalerei in Europa. Glücklicherweise stimmt die Seitenangabe, so lokalisiert man das Zitat korrekt, wenn auch in einem anderen Buch, auf Seite 241. Konsultiert man die dazugehörige Fußnote 46, findet man zwar Angaben zu Pecht - allerdings nicht die von Muhr genannten, die nämlich gehören zu Bringmanns Fußnote 45 und einem anderen Pecht-Zitat! Die Rezensentin hat zur Sicherheit Pechts Originalbesprechung eingesehen - die erschien, wie bei Bringmann richtig angegeben, in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 19. April 1867. Unbestritten, Fehler können passieren, aber die Befolgung des alten Leitsatzes "Traue keiner Quelle, außer du prüfst sie selbst" hilft, solche einzuschränken.
Dieses Vorgehen der Autorin führt nicht nur zu Fehlern, sondern auch zu Irritationen: So wird Franz Kuglers Sendschreiben an Herrn Dr. Ernst Förster von 1843 ein Mal nach Schoch (Städel-Jb 7, 1979), wenig später nach Hagers Studie Geschichte in Bildern von 1989 zitiert (279, FN 332 und 335). Rätselhaft bleibt FN 68, Seite 227, ein langes Zitat nach Léon Rosenthals 1987 wieder aufgelegtem Klassiker Du Romantisme au Réalisme - allerdings auf Englisch! Stammt es vielleicht aus dem abschließend ebenfalls aufgeführten Buch von Rosen und Zerner, Romanticism and Realism?
Muhrs "Sekundärzitieren" macht auch vor "Klassikern" nicht halt, die in modernen Editionen vorliegen: Warum Aristoteles' Poetik nach dem von Detlef Hoffmann herausgegebenen Band Das Leben der Historie vor und nach ihrem Tode von 2000 zitieren (183, FN 2)? Victor Hugos Vorwort zum Cromwell, einer der Haupttexte für die Erforschung des 19. Jahrhunderts, gar nach Vana Greissenegger-Georgilas Aufsatz Die Bühne als lebende Historienmalerei (102, FN 204), der seinerseits das Zitat Beckers Aufsatz Die Couleur locale als Stilkategorie der Oper von 1976 entnimmt? Warum A.W. Schlegels Ueber Zeichnungen zu Gedichten und John Flaxman's Umrisse (obschon versehentlich gleich zwei Mal in der Bibliografie) lediglich nach Zintzens Studie Von Pompeji nach Troja von 1998 (162, FN 213)? Alles wird anscheinend ungeprüft übernommen.
Auch der Umgang mit der wissenschaftlichen Literatur selbst ist - interessant: Eine nach Christiane Zintzen zitierte Quelle (mit allen dortigen Auslassungen) in Hinblick auf die Bedeutung der Antichità di Erculano wird mit dem Satz eingeleitet "Die Briefe des neapolitanischen Gesandtschaftssekretärs in Paris, Fernando Galiani, zeugen von der enormen Wirkung der dort abgebildeten Funde auf Zeitgenossen und Bilddenken:" (162, es folgt Galianis Brief, erst dort der Verweis auf Zintzen). Bei Zintzen heißt es: "Von der enormen Wirkung der hier abgebildeten pompejianischen respektive herkulaneischen Funde auf Zeitgenossen und Bilddenken zeugen die Briefe des neapolitanischen Gesandtschaftssekretärs in Paris, Fernando Galiani, die Carl Justi übersetzt und in seiner Winckelmann-Biographie abgedruckt hat:" (93, nun folgt das identische Zitat).
Ein zweites Beispiel. Muhr: "Hatte Flaxman aus den zeichnerischen Elementen des Dekors etruskischer und pompejanischer Vasen das 'Wesen' griechischer Linearität destilliert und damit der Vorstellung des 18. Jahrhunderts von einer weißen Antike wertvolle Bilderdienste erwiesen, so waren es dieselben Funde, die die ersten Eindrücke von der Farbenwelt vermittelten, lange bevor in der Öffentlichkeit der berühmte Streit um die antike Polychromie ausbrach." (164, in FN 234: "Vgl. ZINTZEN, S. 111").
Zintzen: "Hatte John Flaxman aus den zeichnerischen Elementen des Dekors etruskischer und pompejanischer Vasen das Wesen griechischer Linearität destilliert und damit der Vorstellung des 18. Jahrhunderts von einer weißen Antike wertvolle Bilderdienste erwiesen, so sind es dieselben pompejanischen und etruskischen Funde, die die ersten Eindrücke von der Farbenwelt vermittelten, lange bevor in der (Fach-)Öffentlichkeit der berühmte Streit um die antike Polychromie ausbricht." (111)
Das Fehlen von Anführungszeichen suggeriert, dass Zintzen lediglich Ähnliches feststellt, dabei handelt es sich tatsächlich um nur geringfügig modifizierte Zitate, selbst Zintzens Hervorhebungen werden beibehalten. In diesem Stil ließen sich viele weitere Beispiele ergänzen.
Aus Ute Daniels Aufsatz Ein einziges großes Gemählde (Geschichte in Wiss. und Unterricht 1, 1996) übernimmt Muhr, so scheint es, ein Zitat des Historikers Johann Christoph Gatterer mit entsprechenden Auslassungen, ohne auf Daniel zu verweisen. Zwischen den beiden zitierten Sätzen Gatterers liegt jedoch fast eine ganze Seite, wie ein Blick in Gatterers Ursprungstext in der von Daniel herangezogenen von Blanke/Fleischer herausgegebenen Quellenedition Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie zeigt (1990, bei Muhr wird daraus in FN 64, Seite 130 "Theoretiker der deutschen Aufklärung", in der Bibliografie korrekt); dies macht eine zufällige Übereinstimmung höchst unwahrscheinlich. Eingeleitet wird das Zitat bei Muhr im Übrigen mit dem Satz: "Bereits 1767 forderte Johann Christoph Gatterer (1727-1799) mit Nachdruck einen neuen historischen Schreibstil, der mehr Anschaulichkeit versprach:" (130, Zitat folgt ohne Verweis auf Daniel). Bei Daniel heißt es: "Schon 1767 forderte Johann Christoph Gatterer nachdrücklich einen neuen historischen Schreibstil:" (7, es folgt das Zitat).
Was bringt die Lektüre eines Buches, das auch in den Bildanalysen allenfalls eine geschickte Kompilation der Forschungsergebnisse der letzten beiden Jahrzehnte bietet, wenn keine Aussage ungeprüft hingenommen werden kann? Der interessierte Leser, der sich ein eigenes Bild von der faszinierenden und die etablierten Hierarchien akademischer Kunst nachhaltig erschütternden Malerei des 19. Jahrhunderts machen möchte, sei verwiesen auf die erkenntnisreichen und wissenschaftlich makellosen Arbeiten von Bann, Bringmann, Chaudonneret, Genge, Germer, Gurock, Kemp oder Wright, um nur einige wenige, in Muhrs Buch immer wieder genutzte Autoren zu nennen.
Ekaterini Kepetzis