Burkhard Beyer: Vom Tiegelstahl zum Kruppstahl. Technik- und Unternehmensgeschichte der Gussstahlfabrik von Friedrich Krupp in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen. Schriftenreihe A: Darstellungen; Bd. 34), Essen: Klartext 2007, 623 S., ISBN 978-3-89861-506-8, EUR 44,00
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Diese aus einer Bochumer Dissertation hervorgegangene Monografie behandelt die ersten fünfzig Jahre der Essener Gussstahlfabrik Krupp, also die Zeit von der Gründung 1811 bis in die 1860er Jahre. Obwohl es bereits Arbeiten über verschiedene sozial- und unternehmensgeschichtliche Aspekte zu Krupp und zur Entwicklung der Schwerindustrie im Ruhrgebiet gibt, durchzieht ein innovativer Analyseansatz das Werk: Die Darstellung der Unternehmensgeschichte erfolgt hier explizit vor dem Hintergrund der schwer durchschaubaren technischen Funktionsweisen bei der Herstellung von so genanntem "Tiegelstahl", der zeitgenössisch "Gussstahl" genannt wurde.
Nach einleitenden Abhandlungen über die Problemstellung der Arbeit, über den Forschungsstand und die Quellenlage, folgt zunächst eine Synopse über die mit technischen und ökonomischen Risiken verbundene Markteinführung des Tiegelstahls. Da eine Darstellung der Entwicklung der Technik der Tiegelstahlherstellung immer noch aussteht, behandelt diese in Teil 1 präsentierte "Technik des Tiegelstahls" auf knappem Raum ein Desiderat der Technikgeschichte. Dabei wird klargemacht, dass es "den Tiegelstahl" nicht gibt und konsequenterweise auch nicht "den Kruppstahl". Vielmehr handelt es sich um verschiedene Arten von Stahl mit unterschiedlichen Eigenschaften hinsichtlich der Schmiedbarkeit und der Härte - notabene: Die von Krupp erzeugten Stahlarten waren meist nicht die härtesten Stähle, entgegen einem geflügelten Wort. Auch ein im 19. Jahrhundert kolportiertes "Gussstahlgeheimnis" durch geheim gehaltene Zusätze gehört zu den Legenden. Die Spezifikationen des Tiegelstahls hing vielmehr von vielen Einflüssen ab, deren spezifische Auswirkungen auf Härte und Schmiedbarkeit erst durch langwierige empirische Versuche entdeckt werden mussten. Vor diesem Hintergrund werden in Teil 3 und 4 der Arbeit die Leistungen von Friedrich und Alfred Krupp gewürdigt.
Zum Einstieg in die Unternehmensentwicklung skizziert Teil 2 knapp die Rahmendaten der Unternehmensgeschichte zu Gründung, Rechtsform, Eigentumsverhältnissen, Unternehmensfinanzierung, Betriebsergebnissen, Belegschaftsentwicklung und Produktivität bis 1860. Bereits hier werden wichtige Ergebnisse pointiert herausgestellt: über viele Jahre hinweg bewegte sich die Krupp'sche Fabrik mit ihrer Liquidität quasi auf Messers Schneide, insbesondere bei konjunkturellen Einbrüchen und bei der Finanzierung von Betriebserweiterungen. Zwar kam es anfänglich zur Einbeziehung externer Teilhaber als Financiers und Mitunternehmer, aber die Erfahrungen waren aus der Warte Krupps negativ, insbesondere bei einer Expansion des Betriebes. Letztlich war eine Kontrolle aller unternehmerischen Entscheidungen allein in den Händen der Familie Krupp erwünscht, zuerst unter Führung von Friedrich Krupp und dann von Sohn Alfred. Mehrere finanzielle Schieflagen des Unternehmens konnten letztlich nur mit Mitteln aus der wohlhabenden (Groß-) Familie bewältigt werden.
Teil 3 beschreibt anfänglich die schwierige Gründungsphase, die von Problemen technischer Art ebenso gekennzeichnet war wie vom problematischen Umgang mit Teilhabern. Die empirisch angegangene Bewältigung der (verfahrens-)technischen Probleme der Tiegelstahlherstellung zeigte, dass die verschiedenen Arten des gewonnenen Stahls eine Palette unterschiedlicher Produkte erforderten. Diese Probleme, die im Betrieb oft Liquiditätsengpässe zur Folge hatten, kennzeichneten die langsame Betriebsausweitung unter Friedrich Krupp. Die im Vergleich zu später geringe Produktionsmenge wurde teils in Barrenform verkauft, bevorzugt wurde aber die Weiterbearbeitung zu Endprodukten mit hoher Wertschöpfung und damit hohen Preisen. Typische Güter waren Gerberwerkzeuge, Feilen, Münzstempel und Walzen, die bald in fertig montierten Walzmaschinen als finanzielles Rückgrad des Unternehmens national und international vertrieben wurden. Dieses erfolgreiche Geschäftsfeld blühte aber erst unter Alfred Krupp auf, als die Produktion bestimmter Tiegelstahlarten um 1840 immer mehr verstanden worden war.
Trotz weiterer Kontrolle über die technisch-metallurgischen Eigenheiten der Tiegelstahlproduktion und eines Ausbaus der Fabrik konnte die Herstellung und der Vertrieb von Walzmaschinen auf Dauer die Existenz nicht sichern, wie in Teil 4 gezeigt wird. Auch eine Spezialisierung auf hochwertige Walzwerke für die Edelmetallbearbeitung und zur Besteckherstellung konnte wegen der begrenzten Nachfrage nach derartigen Spezialmaschinen, deren Patent ebenfalls zum Verkauf angeboten wurde, nicht die dringende Notwendigkeit zur Entwicklung anderer Tiegelstahlprodukte verdecken. Experimente in der Form der Herstellung von Stabgeläuten, Werkzeugen, Maschinenbauteilen, Federn und ersten Rüstungsprodukten wie Kürassieren zeigten aber, dass keines dieser Produkte eine nachhaltig erfolgreiche Stellung am Markt garantieren konnte. Um es in heutiger Managementterminologie zu formulieren, war keines dieser Produkte aus diesem heterogen diversifizierten Produktportfolio eine "Killer-Applikation", die trotz enormer Nachfragepotenziale nicht von konkurrierenden Anbietern bedient werden konnte.
Hier halfen ab etwa 1848 zwei allgemeine Entwicklungen: Die Militarisierung der europäischen Staaten und der Ausbau des Eisenbahnwesens. Krupp reagierte darauf nicht nur mit einer schwer zu finanzierenden Vervielfachung seiner Tiegelstahlkapazitäten in Verbindung mit einer Modernisierung des Produktionsverfahren durch den Einsatz von Puddelstahl, sondern auch mit der Entwicklung neuer Produkte, die in immer höherer Fertigungstiefe im eigenen Betrieb hergestellt wurden und für die neben dem internen Know-how durch vielfältige Experimente auch um Patentschutz nachgesucht wurde. Im Bereich des schnell expandierenden Eisenbahnwesens stieg Krupp in den Markt für Federn und Achsen ein. Als besonders Erfolg versprechend stellte sich nach den üblichen Anlaufschwierigkeiten aber die Vermarktung von selbst entwickelten und patentierten Radreifen für Eisenbahnräder beziehungsweise kompletten Eisenbahnrädern mit Radreifen heraus. Die damit vereinnahmten Mittel wurden zusammen mit anderen Kapitalien, meist aus dem Familienkreise, in einen schnellen Ausbau des Unternehmens gesteckt. Das massive Wachstum der Tiegelstahlproduktion ging dabei nicht nur einher mit einem rein quantitativen Ausbau der Metallverarbeitung zu lukrativen Endprodukten, sondern auch mit einer qualitativen Aufstockung der Metallverarbeitungskapazitäten, zum Beispiel durch immer mehr und immer größer dimensionierte Dampf-Schmiedehämmer. Damit war es möglich geworden, immer größere Produkte wie Kurbelwellen für Schiffe herzustellen.
Im Bereich der Rüstungsproduktion führte dies dazu, dass nach fehlgeschlagenen Versuchen beim Verkauf von Gewehrläufen auf die Produktion von Kanonen umgeschwenkt wurde. Der Einstieg in den Kanonenmarkt erwies sich aber als schwierig, da die von Krupp vorgeführten Experimentalkanonen aus Tiegelstahl als zu teuer angesehen wurden. Erst durch geschickte Maßnahmen auf einer öffentlich und politisch wirksamen Ebene gelang dann doch der erste große Absatz von Kanonen, die bald zum zweiten Produktionsschwerpunkt wurden.
In der Arbeit finden sich auch mehrere Abschnitte über den Umfang, die Zusammensetzung, die Rekrutierung und die Bezahlung der Belegschaft sowie über soziale Maßnahmen. Mit der Analyse der Belegschaftsentwicklung können die Probleme der Tiegelstahlherstellung nachvollzogen werden. Damit wird eine zeitweilige Schrumpfung des Betriebs ebenso klar wie die quantitativ immer mehr dominierende Anwerbung von Tagelöhnern, die als billige Arbeiter angelernt wurden und im Raum Essen dann als spezifisch geschulte Arbeiter kaum andere Arbeitsgelegenheiten fanden. Dennoch zahlte Krupp oft leicht höhere Löhne als üblich, auch um eine geschulte Arbeiterschaft an den Betrieb zu binden. Daraus ging später das Prinzip des Erhalts einer Stammbelegschaft hervor, die, oft als Träger spezifischer Produktionsgeheimnisse, unregelmäßige und den anderen Arbeitern unbekannte Zuwendungen erhielten. Für die kaufmännischen Arbeiten gab es anfangs zwar einen so genannten Faktor, aber diese Tätigkeiten gingen bald auf Familienmitglieder über. Trotz einer später starken Betriebsausdehnung übte die Familie Krupp durch diese Personalpolitik sowie durch die Politik der Innenfinanzierung immer die Kontrolle über das Unternehmen und die Erfahrungen mit der Tiegelstahltechnik aus.
In toto beeindruckt dieses fast ausschließlich auf Quellenmaterialien aus dem Hause Krupp beruhende Werk durch die innovative Verbindung von Technik-, Sozial- und Unternehmensgeschichte.
Helmut Braun