D'Arcy Jonathan Dacre Boulton / Jan R. Veenstra (eds.): The Ideology of Burgundy. The Promotion of National Consciousness, 1364-1565 (= Brill's Studies in Intellectual History; Vol. 145), Leiden / Boston: Brill 2006, xviii + 300 S., ISBN 978-90-04-15359-2, EUR 103,00
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Als historischer Gegenstand genießt das Burgund der Herzöge aus dem französischen Königshaus der Valois seit geraumer Zeit einen beinahe "mythischen" Status. Obschon der beeindruckende Territorienkomplex, der von Brügge bis Mâcon reichte, im Gegensatz zu anderen Herrschaften keinen modernen nationalstaatlichen Nachfolger fand, ergaben sich zwar auch im Sinne nationaler Geschichtsschreibung Bezüge, vor allem aus belgischer Warte. Insgesamt konzentrierte sich die Forschung aber lange auf den Reichtum der künstlerischen Produktion und auf die Pracht des burgundischen Hofes. Einschlägige ältere Arbeiten, wie etwa jene Johan Huizingas oder Otto Cartellieris, wurden in den letzten Jahrzehnten u.a. durch die Forschungen im Umfeld Werner Paravicinis kräftig korrigiert und präzisiert. Zahlreiche Studien zu Detailfragen der Hoforganisation, der Prosopographie und dem herrschaftlichen Handeln wurden vorgelegt, die nunmehr, so scheint es, die Grundlage für stärker theoriegeleitet-synthetisierende Zugriffe bieten können. Burgund wird damit aufs Neue zu einem spannenden Untersuchungsobjekt, das gerade durch sein Scheitern auf dem Weg zur staatlichen Organisation interessiert. [1]
Die Beiträge des vorliegenden Bandes entwickeln dabei aber zurecht einen positiven Zugriff, wenngleich auch ihnen das Scheitern immer wieder in den Blick gerät: Sie analysieren unter Einbezug jüngerer Ansätze u.a. aus der Soziologie und der Ritualforschung Strategien und Mechanismen im Umfeld der burgundischen Herzöge, die - zum Teil bewusst eingesetzt, zum Teil unbewusst verfolgt - der Sicherung und dauerhaften Stabilisierung der prekären Herrschaft hätten dienen sollen. Der im Titel prominent aufscheinende Begriff der Ideologie wird damit weniger in seiner politisch aufgeladenen Variante interpretiert, sondern fasst vielmehr ein breites Bündel von Phänomenen, die in ihrer Gesamtheit in die "soziale Konstruktion der burgundischen Wirklichkeit" einflossen.
Die Materialien und Perspektiven der einzelnen Beiträge könnten dabei unterschiedlicher kaum sein: Bei der Lektüre lernt der Leser die Kombination eines prosopographischen Zugriffs mit der Analyse politischer Theoriebildung (Jan Dumolyn, The State Ideology of the Councillors of the Burgundian Dukes, 1-20) ebenso kennen, wie die detaillierte Rekonstruktion der Kompilation und des Einsatzes eines Chroniktextes, der Chronique des royz, der zur Untermauerung burgundischer Ansprüche auf einen Königsthron dienen konnte (Graeme Small, Of Burgundian Dukes, Counts, Saints and Kings, 151-194, mit Anhang zur handschriftlichen Überlieferung und frühen Drucken). Das Phänomen der Ideologie wird damit einerseits im Sinne eines explizit legitimierenden Diskurses fassbar, den zum Teil juristisch geschulte Experten entwickelten. Andererseits wurden zentrale Leitbilder und Motive, wie etwa jenes des altehrwürdigen Königreichs Burgund, auch in literarischen Formen konstruiert, welche die politische Nutzbarkeit nicht auf den ersten Blick erkennen lassen. Die von Small untersuchte kleine Chronik ist aber durch ihre Entstehung und weite Verbreitung deutlich in den Strategien zu verorten, mit denen man den burgundischen Anspruch auf königlichen Rang behauptete.
Dass dieses Streben immer wieder in den hier versammelten Beiträgen aufscheint, kann kaum überraschen, zählte doch der Erwerb einer Krone für die burgundischen Herzöge, die ihrem Anspruch nach auf Augenhöhe mit den europäischen Monarchen ihrer Zeit operierten, zu den bedeutenden strategischen Orientierungspunkten. Der Königstitel musste ihnen als beste, wenn nicht gar einzig erfolgversprechende Möglichkeit erscheinen, ihre Territorien vereinheitlichend zu fassen und ihre Herrschaft auf Dauer durchzusetzen und zu legitimieren. [2] Der potientielle Name für das anzustrebende Reich blieb dabei zweitrangig - sicher spielte die Orientierung am alten Königreich Burgund und an Lothringen eine wichtige Rolle [3], aber man wahrte eine gewisse Flexibilität. Auch eher unwahrscheinlich wirkende Lösungen waren nicht ausgeschlossen: Obschon die Herrschaft über Friesland niemals effektiv durchgesetzt wurde, entwickelte man recht intensive Bezüge, die unter anderem im Medium fiktionaler Texte ausgeführt wurden (s. zu dieser Textgattung auch den Beitrag von David J. Wrisley, Burgundian Ideologies and Jehan Wauquelin's Prose Translations, 131-150). Zwar stand Friesland nur bei einem Text im Zentrum, dem Livre du roy Rambaux de Frise, der zudem auch nur in einer Handschrift überliefert ist - dieser liefert aber dennoch einen Baustein zur Rekonstruktion eines ideologischen Gebäudes und der memorialen Bezüge (Jan R. Veenstra, Literature and Ideology of Burgundian Self-Determination, 195-221).
Wie schon der Beitrag Veenstras zeigt, tut man gut daran, abseitig oder vernachlässigbar scheinende Phänomene nicht vorschnell aus dem Blick zu verlieren. Erst die detaillierte und umfassende Analyse lässt etwa die Zusammenhänge deutlich werden, die zwischen zunächst rein rhetorisch schmuckvoll wirkenden Reden und ritualisierten Handlungsverläufen bestehen. Am Beispiel Guillaume Fillastres führt dies Malte Prietzel vor (Rhetoric, Politics and Propaganda, 117-129), der das Ineinandergreifen von Rhetorik und Ritual klar macht. Bereits die Tatsache, über einen fähigen Redner zu verfügen, ist als symbolischer Ausdruck eines Geltungsanspruchs zu verstehen...
Die Verquickung der Ebenen demonstrieren eindrücklich die Beiträge zum Orden vom Goldenen Vlies (D'Arcy J. D. Boulton, The Order of the Golden Fleece and the Creation of Burgundian National Identity, 21-97, und Bernhard Sterchi, The Importance of Reputation in the Theory and Practice of Burgundian Chivalry, 99-115), die materialgesättigt und kenntnisreich die bekannte Neubewertung dieses burgundischen Ordens [4] als effizientes Instrument der Herrschaftsausübung und -repräsentation der Herzöge untermauern. Insbesondere Boultons Übersicht zur Nutzung der Ordensinsignien in visuellen Strategien der Repräsentation (im Bereich heraldischer Praktiken, der Siegelführung und des Devisengebrauchs) bietet in ihrer enzyklopädischen Anlage eine wertvolle Basis für weitere Arbeiten.
Zum Abschluss legt Robert Stein mit seiner Untersuchung des symbolischen Gehalts der Zahl "17" den zeitlich und inhaltlich am weitesten ausgreifenden Beitrag vor (Seventeen. The Multiplicity of a Unity in the Low Countries, 223-285). Mit Blick auf die exegetische Tradition seit dem frühen Mittelalter wie auf (im Anhang reproduzierte) bildliche Zeugnisse des 15.-17. Jhs. kann er demonstrieren, dass die Frage danach, welche 17 Provinzen genau die Niederlande der frühen Neuzeit bildeten, an der Sache vorbei geht: Stattdessen weist er die Zahl als Chiffre einer sakral aufgeladenen Einheit aus, als welche bereits die Valois-Herzöge von Burgund ihre Territorien zu stilisieren versuchten - eine Perspektive, die erneut auf den Beitrag Smalls zurückverweist.
Gesamthaft bietet der Band, der durch ein Register erschlossen wird, faszinierende Einblicke in die Konstruktion legitimierender Ideologien für ein junges Herrschaftsgebilde, deren Nachwirkungen über das Ende der regierenden Dynastie hinaus zu verfolgen sind. Bedauernd angemerkt sei lediglich, dass an der einen oder anderen Stelle auch einschlägige deutschsprachige Publikationen jüngeren Datums hätten gesichtet werden können. Zudem hat die lange Frist zwischen dem ursprünglichen Kolloquium im Jahr 2000 und der Publikation nicht immer zur Aktualität der Literaturverweise beigetragen. Dies tut freilich dem Wert der originelleren unter den Aufsätzen keinen Abbruch, die wertvolles neues Material für die Forschung erschließen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. jüngst den epochenübergreifenden Überblick von Hermann Kamp: Burgund. Geschichte und Kultur, München 2007; für eine breitere Sichtung jüngerer Beiträge bis 2005 s.a. Klaus Oschema: Repräsentation im spätmittelalterlichen Burgund - Experimentierfeld, Modell, Vollendung?, in: Zeitschrift für Historische Forschung 32 (2005), 71-99.
[2] Vgl. aber Heribert Müller: Warum nicht einmal die Herzöge von Burgund das Königtum erlangen wollten und konnten, in: Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, hg. v. Bernhard Jussen, München 2005, 255-274.
[3] Erinnert sei hier an den Beitrag von Yvon Lacaze: Le rôle des traditions dans la genèse d'un sentiment national au XVe siècle. La Bourgogne de Philippe le Bon, in: Bibliothèque de l'École des Chartes 129 (1971), 303-385.
[4] Aufschlussreich insbesondere der Katalogband L'ordre de la Toison d'or, de Philippe le Bon à Philippe le Beau (1430-1505): idéal ou reflet d'une société?, hg. v. Pierre Cockshaw/Christiane van den Bergen-Pantens, Bruxelles 1996; s. jüngst Sonja Dünnebeil: Innen und Außen. Die Feste des Ordens vom Goldenen Vlies unter den Herzögen von Burgund, in: Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter, hg. v. Elisabeth Vavra, Berlin 2005, 239-257.
Klaus Oschema