Hans-Ulrich Wiemer (Hg.): Staatlichkeit und politisches Handeln in der römischen Kaiserzeit (= Bd. 10), Berlin: De Gruyter 2006, VIII + 291 S., ISBN 978-3-11-019101-1, EUR 78,00
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Das Bild, das in der Alten Geschichte bezüglich des Handelns des römischen Kaisers herrscht, ist seit nunmehr 30 Jahren durch die wegweisende Studie "The Emperor in the Roman World", die F. Millar im Jahr 1977 publiziert hat, geprägt. [1] Darin hatte dieser das Bild eines passiven Kaisers gezeichnet, der nur dann tätig geworden sei, wenn Probleme an ihn herangetragen worden seien, aber nicht selbst agiert habe und dieses Bild mit dem Schlagwort "petition and response" belegt. [2] Diese Vorstellung begründete er mit dem geringen Ausmaß an Information und Verarbeitungskapazität, die dem Kaiser zu Verfügung gestanden habe. Nur mit Blick auf einige wenige Themenfelder - wie etwa der Außenpolitik - und unter einigen wenigen Kaisern - wie etwa Augustus - habe es Ausnahmen von dieser Regel gegeben.
Der vorliegende Band, der aus einem Kolloquium zu Ehren von M. Erringtons 65. Geburtstag heraus entstand, setzt sich erneut mit den Thesen Millars auseinander und hat zum Ziel, "das Verhältnis von intentionalem Handeln und politischen Strukturen im Römischen Kaiserreich an konkreten Beispielen zu erhellen." (27)
In seiner Einführung "Staatlichkeit und politisches Handeln in der römischen Kaiserzeit - Einleitende Bemerkungen" (1-39) geht H.-U. Wiemer zunächst auf die These Millars und ihre Rezeption in der Alten Geschichte ein, wobei er besonders auf die Differenzen in der Bewertung kaiserlichen Handelns für frühe und hohe Kaiserzeit auf der einen und die Spätantike auf der anderen Seite verweist. Während laut Wiemer für den Principat F. Millars Modell weithin akzeptiert sei, herrsche für die Spätantike das Bild eines umfassenden Regelungsanspruches des Staates vor. Diese unterschiedliche Rezeption führt Wiemer in einer breiten forschungsgeschichtlichen Einordnung bis auf Th. Mommsens Unterscheidung von Principat und Dominat zurück.
Es folgen fünf Beiträge, die sich auf unterschiedlichste Art mit dem Regierungsstil römischer Kaiser in der hohen Kaiserzeit auseinandersetzen: K. Buraselis untersucht an den Beispielen der Entwässerung des Kopaisbeckens, der Regelung des Wirtschaftslebens in Athen, der Gründung von Antinoopolis und derjenigen des Panhellenion das Regierungshandeln Hadrians (41-54).
M. Heil widmet sich dem Konflikt zwischen Septimius Severus und Clodius Albinus und dem Bürgerkrieg des Jahres 197 n.Chr. (55-85). Mit Hilfe akribischer Untersuchungen zur Chronologie der Jahre 195/6 n.Chr., insbesondere zur Verleihung des mater castrorum Titels an Iulia Domna, gelingt es ihm zu zeigen, dass die beiden Akteure erst seit einer nicht genau rekonstruierbaren Provokation des Albinus Ende des Jahres 195 n.Chr. aktiv auf den Bürgerkrieg zusteuerten. Dabei geht es ihm mit Blick auf die übergeordnete Fragestellung des Sammelbandes darum, die durch fehlende rechtliche Fixierung bedingte Möglichkeit einzelner Kaiser, das Kaisertum selbst stets neu zu definieren, aufzuzeigen. A. Jördens analysiert das Handeln des ägyptischen Statthalters (87-106) und fragt nach Motivation und Begründung seines Eingreifens, ausgehend von der Vermutung, dass sich daraus "Rückschlüsse auf die Form und das Selbstverständnis von Herrschaft und Regierung im Römischen Reich allgemein" ziehen ließen (87). Die Zollorganisation des kaiserzeitlichen Lykien wird durch Chr. Marek auf der Grundlage zweier inschriftlich überlieferter Regelungen aus Kaunos und Myra untersucht (107-121): Dieser kann zeigen, wie durch die bestehenden Regelungen der Kaiser auf den Aufbau einer eigenen Zollverwaltung in der Provinz Lycia verzichtet werden konnte. Den ersten Teil des Bandes beschließt K. Ruffing mit einer Analyse der Funktion der Emporia im hellenistisch-römischen Kleinasien (123-150), wobei die Frage einer möglichen "Wirtschaftspolitik" im Mittelpunkt der Untersuchung steht.
Der zweite Teil des Bandes ist entsprechend der von Wiemer in der Einleitung betonten unterschiedlichen Wahrnehmung kaiserlichen Handelns und der damit verbundenen unterschiedlichen Rezeption Millars für die Geschichte des Principats und der Spätantike dieser Epoche gewidmet. M. Dreher geht dabei zunächst der Frage nach der Rolle des Kaisers bei Entstehung und Institutionalisierung des Kirchenasyls nach (151-174). Er betrachtet dabei vor allem die Konstitution CTh 9,45,4 und zeigt dabei, wie durch Theodosius II. aus einer gewissen Konkurrenz des Kaisers zur Kirche heraus das Kirchenasyl anerkannt wurde, womit der Kaiser zugleich seine Fürsorge gegenüber seinen Untertanen unter Beweis stellen konnte. D. Henning untersucht das Scheitern des Procopius Anthemius unter der Fragestellung, inwieweit die Herkunft des Kaisers aus dem Ostteil des Reiches die Legitimität seiner Herrschaft untergraben habe (175-186). Die Kirchenpolitik Justinians ist Gegenstand der Ausführungen von H. Leppin: Diesem gelingt es nachzuweisen, dass es Justinian in den ersten Jahren seiner Herrschaft durchgängig darum ging, "die Miaphysiten einzubinden und damit auf ihr Erstarken zu reagieren [...]" (206). Kontinuität zeige sich ebenso im Habitus des Kaisers. Damit widerspricht Leppin der seit E. Schwartz verbreiteten Vorstellung von einem religionspolitischen "Zickzackkurs" des Kaisers. [3]
S. Schmidt-Hofner betrachtet im Folgenden das Verhältnis kaiserlicher und städtischer Finanzverwaltung (209-248). Vor allem setzt er sich mit der häufig vertretenen Vorstellung von einer Entmachtung der Städte auseinander. Dagegen vertritt Schmidt-Hofner die These es habe weder unter Konstantin noch unter Valentinian "eine globale Konfiskation städtischen Eigentums" gegeben (213), vielmehr sei es in der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts n.Chr. zu einer Definition der Kompetenzen von Stadt und Fiskus gekommen, die die Autonomierechte der Städte dauerhaft festgeschrieben hätten. Wiemer untersucht im letzten Beitrag des Bandes die Rolle des Kaisers für die Lebensmittelversorgung spätantiker Städte (249-281). Dabei kann er zeigen, wie in der Spätantike die Sorge des Kaisers sich über die Stadt Rom heraus auf andere große Städte des Reiches ausweitete, ohne dass es allerdings zu einer flächendeckenden Versorgungspolitik gekommen wäre.
Die einzelnen Untersuchungen sind in Herangehensweise und Gegenstand, wie der Überblick gezeigt hat, sicherlich sehr unterschiedlich und sie lassen auch kein einheitliches Bild, das die These Millars vom passiven Kaiser grundsätzlich unterstützen oder widerlegen würde, entstehen: Während für die frühe und hohe Kaiserzeit die Diagnose Millars von der geringen Informations- und Verarbeitungskapazität des Kaisers, wenn auch in modifizierter Form, weiterhin Plausibilität beanspruchen kann, zeigt sich für die Spätantike ein ambivalentes Bild von abwechselndem Reagieren und Gestalten der Kaiser.
So ist der vorliegende Sammelband sicherlich - wie Wiemer selbst in seiner Einleitung feststellt - keine "systematische Analyse des Problemfelds" (27). Er stellt aber gleichwohl einen interessanten Beitrag zur Frage nach der Herrschaftspraxis im römischen Kaiserreich dar.
Anmerkungen:
[1] Fergus Millar: The Emperor in the Roman World (31BC-AD 337), London 1992.
[2] Fergus Millar: The Emperor in the Roman World (31BC-AD 337), London 1992, 644f.
[3] Eduard Schwartz: Zur Kirchenpolitik Justinians, in: SBAW 1940, Heft 2, 32-81.
Jan Timmer