Rezension über:

Samuel Bak: In Worte gemalt. Bildnis einer verlorenen Zeit. Einf. v. Amos Oz. Übers. v. Andreas Nohl, Weinheim: Verlagsgruppe Beltz 2007, 416 S., 32 Bildseiten, ISBN 978-3-407-85766-8, EUR 29,90
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Rezension von:
Edith Raim
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Edith Raim: Rezension von: Samuel Bak: In Worte gemalt. Bildnis einer verlorenen Zeit. Einf. v. Amos Oz. Übers. v. Andreas Nohl, Weinheim: Verlagsgruppe Beltz 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 2 [15.02.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/02/14232.html


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Samuel Bak: In Worte gemalt

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Durch Saul Friedländers meisterhafte Verwendung der Zeugnisliteratur in seinem Werk "Das Dritte Reich und die Juden" ist dem Vorurteil, das Genre der Memoiren könne dem Historiker wenig offerieren, eindrücklich Einhalt geboten worden. Aus der Flut der Publikationen hebt sich das kürzlich auf deutsch erschienene Buch von Samuel Bak [1], einem der bedeutendsten zeitgenössischen israelischen Maler, deutlich hervor.

Baks "inneres Archiv" (91) führt uns zurück nach Wilna, das zur Geburt Baks auf polnischem Staatsgebiet lag, nach 1939 litauisch wurde, das ab 1940 sowjetisch besetzt und ab 1941 in deutscher Hand war und in dessen Straßen polnisch, russisch, litauisch oder jiddisch gesprochen wurde. In den Zwanziger und Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts waren die Juden, wie es der israelische Schriftsteller Amos Oz ebenso keck wie zutreffend formuliert hat, die "einzigen Europäer in ganz Europa" [2], während die nichtjüdische Bevölkerung verschiedensten Nationalstaatsideen anhing. Vor unseren Augen ersteht auf dieser "Reise in die Welt der Erinnerung" (14) noch einmal das unwiederbringlich zerstörte "litauische Jerusalem", geschildert von einem seiner letzten Zeugen, dessen Leben, wie er selbst sagt, an ein Wunder grenzt. Als 1933 geborenes jüdisches Kind waren Baks Chancen, den Holocaust zu überleben, denkbar gering: von den ca. 75.000 Juden, die 1941 in Wilna wohnhaft waren, waren nach dem Ende der deutschen Besatzung nur noch 2000 bis 3000 am Leben.

Samuel Bak wuchs in einer mittelständischen assimilierten jüdischen Familie auf, sein zeichnerisches Können wurde - u. a. von dem expressionistischen Dichter und Maler Arno Nadel - früh entdeckt und von Eltern und Großeltern gefördert. Während der Ghettoisierung der Wilnaer Juden versteckten sich Mutter und Sohn in einem Benediktinerinnenkloster. Weil die Nonnen jedoch selbst Opfer der Verfolgung wurden, blieb der Familie nichts anderes übrig, als ins Ghetto zurückzukehren. Die Liquidierung des Ghettos im September 1943 überlebten sie, weil die Eltern "kriegswichtige" Tätigkeiten ausübten. Bei der "Kinderaktion" vom März 1944, bei der gezielt Kinder der jüdischen Zwangsarbeiter selektiert und ermordet wurden, war Bak versteckt, anschließend schmuggelte sein Vater ihn aus dem Lager und brachte ihn erneut ins Kloster, wo Bak und seine Mutter bis zur Befreiung Wilnas durch die Rote Armee Mitte Juli 1944 versteckt zwischen Aktenbergen ausharrten, während der Vater kurz vor der Befreiung erschossen wurde. Historikern wird die Beschreibung dieses Verstecks unvergessen bleiben, denn Bak schlief einige Zeit auf den Akten zaristischer Polizeidienststellen aus Kiew, ein anderer Untergetauchter auf Grundakten aus Minsk, da das ehemalige Kloster das von den Nazis geplünderte Material aus zahlreichen Archiven beherbergte. Aus Furcht vor stalinistischen Säuberungen flohen Mutter und Sohn nach Kriegsende zunächst ins polnische Lodz, im Herbst 1945 führte ihre Reise nach Berlin und kurz darauf in das Displaced Persons-Lager Landsberg am Lech. Im Sommer 1948 emigrierten sie in den neu gegründeten Staat Israel. Die traumatische Kindheit, die "Schuld" des Überlebens und die Belastungen des Neuanfangs scheinen trotz aller Leichtigkeit und allen Humors, der das Buch durchzieht, immer wieder durch. Eine Kindheit in steter Todesnähe und der Verlust fast sämtlicher Familienangehöriger werden Baks Werk prägen.

Zusammengehalten wird das Buch, das nicht chronologisch vorgeht, von Baks Begegnungen mit dem "Pinkas", einer Art Gemeindechronik aus dem 19. Jahrhundert, die ihm von den jiddischen Dichtern Abraham Sutzkever und Schmerke Kaczerginski anvertraut wurde. Diese nahmen an, das wertvolle Buch sei in den Händen eines Kindes sicherer vor dem nazistischen Vernichtungswahn als in einer Bibliothek. Auf ihre Aufforderung hin nutzte der junge Bak die leeren Seiten unbekümmert für seine Zeichnungen und Entwürfe. Bei seiner überstürzten Flucht aus dem Ghetto verlor er den "Pinkas", der jedoch von Kaczerginski, der wie Sutzkever zu den Partisanen gegangen war, gerettet werden konnte. Erst im Jahr 2000 sollte Bak aus dem Nationalmuseum im litauischen Vilnius Kopien seiner Zeichnungen aus dem "Pinkas" erhalten und ihm so zu einer Art Begegnung mit sich selbst als dem Kind im Ghetto verhelfen. Leitmotivisch durchziehen das Buch die materiellen Verluste: das mühsam vor der sowjetischen Besatzung gerettete Aquarium des Großvaters ebenso wie die kunstvoll in Gipsabdrücken von Gebissen verborgenen Diamanten und Goldstücke werden den deutschen Besatzern in die Hände fallen, das aus der Wohnung der Großmutter übrig gebliebene Paar Kandelaber wird bei der Flucht aus Wilna vergessen, eine zur Aufbewahrung von Gegenständen genutzte Babybadewanne schafft es nur bis Kutno und selbst die von der Mutter sorgsam gehüteten Kinderzeichnungen Baks werden in einem Koffer auf einem deutschen Bahnhof im Chaos der Nachkriegszeit untergehen. Um so wichtiger sind für Bak die immateriellen Werte: die Entscheidung, in seinen Werken an die Zerstörung des Wilnaer Judentums zu erinnern ebenso wie die Bewahrung der jiddischen Sprache im Gespräch mit seiner Mutter, obwohl beide früher lediglich polnisch miteinander gesprochen hatten.

Viele Verfasser von Autobiografien machen den Fehler, sich nicht auf das von ihnen Erinnerte zu konzentrieren, sondern stattdessen die allgemein bekannte Geschichte zu referieren. Doch wäre - mit Verlaub - zu fragen, ob Historiker, die auf eine Vielzahl verschiedener Quellen zurückgreifen können, dies nicht besser können. Bak aber gelingt es, sich erneut in die Situation des Kindes hinein zu versetzen, wobei ihm ein vermutlich geradezu fotografisches Gedächtnis oder ein stark an Bildern orientiertes Erinnerungsvermögen zugute kommt. So werden eben nicht die Ereignisse während der sowjetischen oder deutschen Besatzung geschildert, sondern deren Auswirkungen aus der Perspektive eines Kindes, das nun in eine neue Schule eingeschult wird, eine neue Sprache lernen soll oder die Wohnung blitzartig ohne das geliebte Spielzeug verlassen muss, als das Ghetto errichtet wird. Hier spielen die Kinder nicht "Räuber und Gendarm", sondern "Partisanen und Deutsche". Der gefürchtete Judenälteste des Ghettos Wilna, Jacob Gens, taucht lediglich als Empfänger eines von Bak aus Ton modellierten Moses auf, den die stolzen Eltern dem Vorsitzenden des Judenrats als Geschenk verehren. Klug beschränkt sich Bak darauf, die außergewöhnlichen Jahre seines Lebens und seine Familiengeschichte darzustellen, während seine Entwicklung als Künstler in der Nachkriegszeit, sein Leben und Wirken in Israel, Europa und den USA nur in kurzen Sequenzen aufgegriffen werden.

Die Übersetzung liest sich gut und flüssig - abgesehen von einigen peinlichen "false friends", also Wörtern, die zwar identisch aussehen, aber unterschiedliche Bedeutungen haben. Der "ambulance driver" (264) bleibt in der deutschen Ausgabe der "Ambulanzfahrer" (207), richtig wäre Krankenwagenfahrer oder Notarztwagenfahrer. Die Behausungen des DP-Lager Landsbergs werden von Bak korrekt als "barracks" (426) beschrieben, hier unglücklich übersetzt als "Baracken" (327), eigentlich aber Kasernen. Auch die Transkription der jiddischen Namen erfolgt nicht einheitlich - Chone (194) vs. Khon (294); Sutskever (Bildseite 7) bzw. Sutzkever (13, 291) -, was durch eine sorgfältige Endredaktion hätte vermieden werden können.

Baks Buch ist äußerst vielschichtig: es ist die Geschichte eines sehr jungen Holocaust-Überlebenden, aber auch eine große tragische Familiensaga, deren viele wunderbare Helden ihr grausiges Ende an den Erschießungsgruben von Ponary finden. Es ist ein Buch über den Weg eines Künstlers und den Versuch, aus dem "Scherbenhaufen der Erinnerung" Bilder und Worte zu schöpfen, die dem Schrecken ein Gesicht verleihen.


Anmerkungen:

[1] Originalausgabe "Painted in Words. A Memoir by Samuel Bak", Bloomington 2001. Über das künstlerische Œuvre informieren überblicksartig folgende Publikationen: Georg Heuberger / Eva Atlan (Hgg.): Ewiges Licht. Samuel Bak - Eine Kindheit im Schatten des Holocaust, Sigmaringen 1996 (Schriftenreihe des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, 4); Landscapes of Jewish Experience. Paintings by Samuel Bak, Boston 1997; Ein beschwerlicher Weg. Samuel Bak: 60 Jahre künstlerisches Schaffen, hrsg. von Yad Vashem Gedenkstätte für Holocaust und Heldentum [o.O. o.J.]

[2] Amos Oz: Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. Roman, Frankfurt a. M. 2004, 103.

Edith Raim