Matthias Weiß: Madonna revidiert. Rekursivität im Videoclip, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2007, 301 S., 263 Farb-, 22 s/w-Abb., ISBN 978-3-496-01362-4, EUR 49,00
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Obwohl das Pop-Phänomen "Madonna" schon seit Mitte der 90er Jahre eingehende Beachtung seitens der Kulturwissenschaft genießt, fehlte bislang eine tiefer gehende Untersuchung ihrer Bildstrategien. Es ist Matthias Weiß' Verdienst, dies in Angriff genommen zu haben. Das Ergebnis bietet der Leserin klar und prägnant formulierte, gut strukturierte und sehr detaillierte Analysen, die sich Madonnas Videos unter dem Gesichtspunkt der Aneignung nähern. Als Oberbegriff für Madonnas Rückgriffe auf fremdes Material, eine Technik, die, wie Weiß richtig bemerkt, ein grundsätzliches Merkmal von Videoclips ist, wählt Weiß den Begriff der "Rekursivität". [1] Diesen recht offenen Begriff zieht er anderen, wie z.B. der Intertextualität vor, da hierdurch die mannigfaltigen Formen der Be- und Umarbeitungen, der Bezugnahme auf fremdes und eigenes Material, der Wiederholung und Veränderung deutlicher als solche hervortrete. Unklar bleibt jedoch, warum sich Weiß nicht mit dem Prinzip des Zitats oder der Aneignung auseinandersetzt. Gerade in Hinsicht auf Madonnas Strategien, sich traditionelle Geschlechterbilder anzueignen und umzuformen, wäre hier eine fruchtbare Verbindung zu mittlerweile viel diskutierten Geschlechtertheorien in der Nachfolge Judith Butlers möglich gewesen. Dementsprechend wird auch die sich daran anknüpfende Debatte zum Begriff der Performativität von Geschlecht von Weiß nicht berücksichtigt, eine Auslassung, die angesichts des Themas schwer nachzuvollziehen ist.
Die drei Kapitel zu den Videoclips "Papa don't preach" (1986), "Bedtime Story" (1995) und "Frozen" (1998) bilden nach der Einleitung den Hauptanteil der Studie. Abschließend nimmt Weiß unter der unbestimmten Überschrift "Einordnung", feministische, hauptsächlich literarische Strategien der Revision in den Blick und setzt diese in Bezug zu dem Clip "Cherish" (1989). Es sind gerade die Einzelanalysen, die durch ihre Gründlichkeit und Detailgenauigkeit bestechen. Wenn z. B. im Kapitel zu "Papa don't preach" die Bezugnahme zu und Verarbeitung von Godards "Le Mépris" in Madonnas Video anhand der Farbchoreographie analysiert wird, entsteht ein dichtes Netz an Bezügen, das weit über die meist oberflächlichen Beschreibungen von Videoclips in kulturwissenschaftlicher Literatur zum Thema hinausgeht. Weiß gelingt es, die Verarbeitung von gleich drei Spielfilmen (Rocky, Le Mépris, A bout du souffle) in "Papa don't preach" sinnvoll darzustellen und die Konsequenzen dieser komplexen Vernetzung anschaulich zu machen. Die jeweiligen formalen Abweichungen vom Original sollen dabei, so Weiß "die Aufmerksamkeit auf inhaltliche Verschiebungen lenk[en]" (67), die in diesem Fall die Mädchenfigur im Clip, natürlich gespielt von Madonna, betreffen. So würde es ihr ermöglicht, einen "komplementären Charakter" zu erschaffen, der sich durch gleichzeitige "Angleichung und Abgrenzung" vom Vorbild kennzeichne. Gemeint ist dabei Madonnas Bezug auf die weibliche Hauptrolle der Patricia in Godards "Au bout du souffle". In Madonnas "Papa don't preach" wird der im Film von Godard eher nebensächlichen Konflikt einer ungewollten Schwangerschaft zum Hauptthema. Im Gegensatz zum Film, in dem angedeutet wird, dass sich Patricia gegen eine Schwangerschaft entscheidet, ist die im Video als zentraler Konflikt gezeigte Entscheidung für das Kind, so Weiß, als eine Art Emanzipation, Erwachsenwerden und Selbstermächtigung inszeniert. Wobei hier auch schon das Hauptziel der Aneignungsverfahren Madonnas ausbuchstabiert wäre: Die Um- bzw. Neudefinition traditionell weiblicher Rollenbilder. [2]
Mit welchen Mitteln Madonna dieses Ziel auch in den beiden weiteren Beispielen "Bedtime Story" und "Frozen" ansteuert, verdeutlichen Weiß Analysen nachdrücklich. Verfolgt Madonna in "Bedtime Story" durch die Umdeutung der Frauenfiguren in den Filmen Andrei Tarkovskys wie "Solaris" oder "Stalker" dieses Ziel, so ist es in "Frozen" der Einsatz und Umwandlung christlicher, jüdischer sowie buddhistischer Ikonographie, die es Madonna ermöglicht, sich selbst als eine Frau zu inszenieren, die die negative Besetzung religiöser Frauengestalten wie Lilith in eine positive, ermächtigte Form von "wissender" Weiblichkeit überführt. Gerade in diesem Zusammenhang hätte es sich angeboten, die in der feministischen kunsthistorischen Forschung schon Ende der 80er Jahre geführte Debatte zum Sinn der Aneignung negativ besetzter Frauengestalten aufzugreifen und das viel diskutierte Dilemma "essentieller" Weiblichkeit anhand Madonnas Selbstentwurf erneut zur Diskussion zu stellen.
Der "Schluss" der im Grunde motivgeschichtlichen Arbeit fällt mit noch nicht einmal zwei Seiten sehr knapp aus. Hier wird nochmals betont, dass "die in Rede stehenden Rekursverfahren als ein differenziertes Miteinander von Übernahme und Manipulation zu begreifen sind, das semantische Verschiebungen oder Neubesetzungen zur Folge hat." (169) Weiß versteht Madonnas Bildstrategien als eine "Korrektur fremder und jüngst auch eigener Bilder", denen er durch ihr "analytisches Potential" eine politisch-feministische Dimension beimisst, ohne dass diese eingehender von ihm diskutiert würde.
Schlussendlich wird die am Anfang aufgeworfene Frage der Rezeption erneut aufgegriffen und die Referenzialität bzw. Selbstreferenzialität der Videos und die dadurch entstehende Hermetik als ein Mittel zur Bindung des Zuschauerinteresses und damit als Steigerung der kommerziellen Verwertbarkeit interpretiert. An dieser Stelle hätte es sich angeboten, die Frage nach der Funktion von Rezeption, die Weiß im Kapitel "Voraussetzungen" damit beantwortet, dass sich die Untersuchung nach Rezeptionsvorgängen allgemein gesellschaftlicher Art "einer werkzentriert argumentierenden Kunstwissenschaft [entziehe]" (33), erneut zu thematisieren. Wenn Weiß dann davon spricht, dass komplexe Produktionen wie Videoclips "einen 'idealen' oder 'impliziten' Betrachter" beanspruchen, der "eine Vielzahl von Verweisen als solche erkennt und darüber hinaus in der Lage ist, diese Verweise in das durch den jeweiligen Clip konstituierte Interferenzgefüge aus Text, Bild und Musik einzubinden" (34), dann beschreibt er damit im wesentlichen auch sein methodisches Vorgehen und das Ziel seiner Arbeit. Angesichts des Materials hätte man sich erneut die Frage nach der Effektivität von Madonnas Gegenmodellen zu tradierten Frauenbildern stellen können, ebenso wie man die Bedeutung von Madonnas Bildstrategien für das Verhältnis zwischen "High- und Low", zwischen Popvideo und Kunst hätte in den Blick nehmen können. Weiß' Arbeit bietet durch seine vergleichende Herangehensweise und sein motivgeschichtliches Verfahren eine beeindruckende Fülle detaillierter Analysen, die die unterschiedlichen Strategien der Aneignung, bzw. der "Rekursivität" aufzeigen, ohne jedoch damit das volle Potential einer kritischen Auseinandersetzung auf kunst- bzw. kulturwissenschaftlicher Ebene auszuschöpfen.
Anmerkungen:
[1] Dazu ausführlich Henry Keazor / Thorsten Wübbena: Video Thrills the Radio Star. Musikvideo: Geschichte, Themen, Analysen. Bielefeld 2005, besonders Kap. 9.
[2] Die Umdeutung tradierter Frauenbilder durch Madonna wird schon 1995 von Nicoläa Grigat in ihrer Dissertation "Madonnabilder: dekonstruktive Ästhetik in den Videobildern Madonnas" (Frankfurt 1995) als ein kommerziell verwertbare Strategie diskutiert. Grundlage dieser Kritik ist der erste, einflussreiche Sammelband herausgegeben von Cathy Schwichtenberg "The Madonna Connection. Representational Politics, Subcultural Identities and Cultural Theory" (Boulder 1993), der Madonnas zentrale Bedeutung für den kulturwissenschaftlichen Diskurs begründete.
Änne Söll