Rezension über:

Omar Calabrese: Die Geschichte des Selbstporträts, München: Hirmer 2006, 390 S., 343 Farbabb., ISBN 978-3-7774-2955-7, EUR 110,00
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Rezension von:
Christiane Dahms
Germanistisches Institut, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Sabine Panzram
Empfohlene Zitierweise:
Christiane Dahms: Rezension von: Omar Calabrese: Die Geschichte des Selbstporträts, München: Hirmer 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 4 [15.04.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/04/12264.html


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Omar Calabrese: Die Geschichte des Selbstporträts

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"Es soll vor allem um eine wirkliche 'Geschichte' des Kunstwerks gehen" (24), verspricht Calabreses Studie, die letztlich auch die "Geschichte der philosophischen, soziologischen, künstlerischen oder bildlichen Ideen und Theorien" (328) erzählen will - ein ambitioniertes Unternehmen, das sich bereits in der thematisch organisierten Struktur abzeichnet: Die elf Kapitel beschäftigen sich mit dem Künstlerbildnis als (stellvertretende) Signatur, als ins Bildgeschehen hineinerzähltes Subjekt und als autonomes selbstbewusstes Bild. Berücksichtigung finden neben der formalen und thematischen Genese des Genres ebenso äußere Einflussfaktoren wie Künstlerruhm und Kunstfertigkeit, die Etablierung des Künstlers und die Institutionalisierung der Malerei. Die einzelnen Schwerpunkte werden zunächst zeitlich verortet, dann in ihrer Entwicklungslinie bis hin zur Gegenwart skizziert. Damit gelingt eine gleichermaßen systematische wie historische Betrachtungsweise des veranschlagten Kanons, der immerhin 340 Meisterwerke und 200 Künstler umspannt. Übergeordnete Fragestellungen fahnden in jedem Abschnitt nach Indizien für "Identität, Zeugnis der Autorschaft, Symbol einer Wertvorstellung, Anspruch auf eine Rolle" und berücksichtigen darüber hinaus die "wissenschaftliche Basis für die Selbstdarstellung, soziale Legitimation, geschlechtliche Differenz, technische Meisterschaft, Leidenschaft, Verneinung der Identität" (24). So formieren sich über 390 Seiten eine Theorie des Selbstporträts und zugleich ein "Traktat" über die "Repräsentation der Repräsentanz" (377).

Grundlegendes zuerst: Im Selbstporträt stellt sich der Künstler dar, verortet seine Meisterschaft im Kontext der Geschichte und expliziert eine theoretische Aussage. Um diese beschreiben und erläutern zu können, müssen diskursive Begriffsgeber her und hier sind es in erster Linie Semiotik, Narrativik und kognitive Psychologie, auf die Calabrese zurückgreift - leider nicht auf weitere, naheliegende Erklärungsmuster. Es gelingt der Studie unverständlicherweise, so ausführlich und diskursiv über das Selbstporträt zu reflektieren, ohne dabei eine sich geradezu aufdrängende Terminologie in Anspruch zu nehmen, die doch mittlerweile auch in der Kunstgeschichte zum einschlägigen Vokabular gehört [1]: Selbstreferenz, Metamalerei und Interpikturalität sind wie Illusionsgebung/-brechung ästhetische Verfahren, die auf ein Reflexionsniveau verweisen, das die eigene Kunst theoretisiert und praktiziert, also sichtbar hervorbringt, z.B. als Selbstporträt. Ebenso sind Trompe-l'œil und Tableau dans le tableau-Darstellungen, die hier Erwähnung finden, in diesem Kontext mindestens als Vorstufen selbstbezüglichen Arbeitens zu bewerten und intertextuelle Verweise (hier: "Antikenzitate") geben nicht nur zu, wer der Ideengeber war, sondern legen die Artifizialität grundsätzlich offen.

Definitorisch zeigt sich bereits, dass sich das Selbstporträt nicht nur auf die Wiedergabe rein physiognomischer Erkennungsmerkmale beschränkt, sondern auch die Darstellung geistiger oder moralischer Eigenschaften sowie technischer Eigenarten umfassen kann. Jeder künstlerische Akt lässt sich unter dieser Prämisse autoreferenziell deuten und er wird erst präziser, wenn der dezidierte Identitätsverweis artikuliert wird: durch markierte Diskursinstanz, selbstbezügliche Struktur und Kommunikationsabsicht. Dass dem Akt der Selbstdarstellung der legitimierte Akt des Selbstbewusstseins vorausgehen muss, wird im Paragone-Diskurs deutlich (Kap. 1): In Antike und Mittelalter ist die handwerkliche Stellung des Malers der künstlerischen des Musikers oder Dichters untergeordnet, was die eigene Zurückhaltung in der Porträtierung zu erklären scheint. Mit dem Verzicht auf jegliche Individualisierung oder gar Idealisierung übernimmt die Signatur des Künstlers dessen Darstellung, deklariert Zugehörigkeit zum Stand und Modus der Ausführung. Eine qualitative und numerische Identität, die auf eine wiedererkannte Einmaligkeit insistiert, wird sich erst in den folgenden Jahrhunderten ausbilden (vgl. Kap. 6). Spielerische Verfahren kombinieren Signatur und Bildnis des Künstlers bisweilen ironisch (Van Eyck), sarkastisch (Bosch) oder unumwunden selbstbewusst (Perugino, Pinturicchio). Den Blick des Betrachters auf Besonderheiten hinzuweisen, wie es Alberti in De Pictura fordert, erfüllen Assistenzbilder, wenn der Künstler als Kommentator auftritt, z.B. in Dürers Marter der Zehntausend, wo das Spiel mit den Fiktionsebenen evident bleibt. Ab dem 16. Jahrhundert wird das eigene Bild stimmig kontextualisiert, indem der Künstler dem zentralen Motiv seine Physiognomie leiht, wie Cranach und Michelangelo ihren Enthaupteten Holofernes und Johannes (Kap. 3). Ein formales Interpretationsspiel, das die découpage-Form bildlich nimmt? Calabrese hütet sich auch an dieser Stelle, explizit zu werden, sondern verweist konjunktivisch auf Metalinguistik, Rhetorik und Biografik als Lektürehilfen und umreißt die in der Forschung unstimmige Interpretationslage. So ein Verfahren ist stets strittig, denn es verhindert den Aufbau einer stabilen Ausgangsposition, die eine Diskussion benötigt. Doch da Thesen statt Deskriptionen weniger narrativ sind, passt dies ins Konzept der 'Geschichte' des Selbstporträts. Es ist eine Stärke des Buches, immer wieder Bezüge aufzugreifen und neu zu formulieren, wenngleich es bisweilen zu unspezifischer Kategorienbildung mit vager Funktionsbestimmung kommt (Typus des Sonderbaren, 77, 108, 110); eine stärker œuvre- und kunstimmanent orientierte Perspektivierung behielte den individuellen Standort des Künstlers im Blick, vor allem aber eigene wie epochengeläufige Selbstinszenierungsstrategien, die es zu erhellen gilt. Was immer wieder gelingt, z.B. beim ambivalenten Rollenspiel in der Moderne (Kirchner, Beckmann, Dix, Van Dongen, Cragg, Chiricos) oder bei interpikturalen Referenzen (Dalí - Da Vinci).

Sich selbst zu zeigen, muss sich nicht auf die (klassische) oder zitierte Porträtform (vgl. Kap. 4, Kap. 8) beschränken: Genuin selbstreferenzielle Bilder, die den Maler bei der Ausführung respektive mit seiner Arbeit darstellen (Velázquez, Boucher, Courbet), formulieren das eigene Schaffen im Kontext einer individuellen wie kollektiven Poetik. Daneben lassen "stilistische Übertragungen" (281) das Repertoire für Themen und Formen fast unüberschaubar anwachsen, was weibliche Künstler erstaunlicherweise außer Acht lassen (Kap. 7): Van Hemessen, Fontana, Vigée-Lebrun u.a. porträtieren sich durchweg jugendlich und kunsttätig, verzichten auf exzentrische Stilisierungen oder gar die Abbildung innerer Leidenschaften (vgl. Kap. 9). Die Untersuchung hat kulturhistorische wie texttheoretische Erklärungsmuster parat, um weibliche Zurückhaltung, selbstgewisses Können, ökonomisches Kalkül und alle damit verbundenen Widersprüche zwischen Konvention und Emanzipation zu erhellen, die sich erst im 20. Jahrhundert zuspitzen zu dezidiert feministischen Kommentaren (Kahlo, Lempicka).

Die Relevanz des Spiegels für die Weiterentwicklung des Selbstporträts ist unumstritten, zumal sie mit der Entdeckung der Zentralperspektive zusammenfällt. Das 5. Kapitel zeigt Varianten der spiegelbildlichen Selbstaneignung und konzentriert sich auf den Kommunikationsprozess zwischen den Beteiligten. Die Konkurrenzsituation, die sich ergibt, wenn das Gemälde den Maler bei der Selbstporträtierung vor Spiegel und Leinwand zeigt, bleibt allerdings unerwähnt. Dabei thematisieren Gumpp und seine Nachfolger im spielerischen Umgang mit dem Selbstbild immer auch das mimetische Potenzial ihrer Kunst und unvollendete oder inkongruente Bildnisse auf Leinwand deuten gegenüber den vermeintlich exakten Spiegelbildern nicht nur auf den (zeitlich) sekundären Status. Sich im Spiegel darzustellen, z.B. im mise en abyme-Verfahren (Dalí), und Spiegel(ungen) ins Bildgeschehen zu integrieren (Savoldo), provoziert die Wahrnehmungsfähigkeit des Betrachters, zeigt die Virtuosität des Künstlers - und präsentiert schon bei Ribera die doppelte Konnotation des Sichspiegelns als geistige und physikalische Reflexion. Diese Ambivalenz, die Medium und Genre nicht erst in der Moderne und vor dem Hintergrund ihrer Individualitätstheorien (Lacan, Freud, Ricoeur) spannungsreich miteinander verbindet, bleibt bei Calabrese leider ausgelassen.

Selbstdarstellung ist ein Akt der Selbstinterpretation, die, analog zur Autobiografie, Aspekte der erkundeten Identität thematisch wie zeitlich teleologisch organisiert (Kap. 10). Rembrandt, der rund 100 technisch und thematisch divergierende Selbstporträts verfasste, fixiert die jeweilige Lebenssituation chronologisch, Courbet hingegen fasst mehrere Episoden in einem Selbstbildnis zusammen, und Van Gogh und Munch gilt das Selbstporträt als confessio, als Ausdruck der seelischen Verfassung, die tagebuchähnlich dokumentiert wird.

In der zeitgenössischen Kunst verschwindet die klassische Ausführung des eigenen Bildes allmählich hinter abstrakten Techniken, theoretischen Aussagen, Übertragungsmodi und Referenzstrukturen (Kap. 11). Der bloße Schriftzug des Künstlers bei Duchamps und Fontana korrumpiert konventionalisierte Bild- und Interpretationsverfahren, zum 'Ceci n'est pas un autoportrait?' ist es daher nur ein Minimalschritt, auf den die konsequente Verneinung des Abbildes folgen muss (Isgròs). Es sind Formen der Vermeidung, die über die Negierung expliziert werden. Anstelle der Repräsentation tritt die Repräsentanz, die das Werk vor das Autorbildnis positioniert, die Identität im künstlerischen Akt reflektiert und damit so individualisierend wie kollektivierend oder generalisierend umgeht. Denn eine Typologie der Repräsentanz, die Calabrese im Schlusskapitel nachreicht, zeigt gleichermaßen Annäherungen und Distanzen zu den Vorgängern, hinter denen das Subjekt bisweilen zu verschwinden droht. Auch an dieser Stelle lässt sich die Kunstwelt als riesige Galerie vorstellen, durch deren permanentes Referenz- und Metaisierungsgefüge der Bildleser als Fährtenleser navigiert. Calabreses Rückgriff auf überwiegend sprachwissenschaftliche Paradigmen findet jedoch schließlich eine simple Begründung: Selbstporträts setzen die erste Person Singular ins Bild, und "deutlicher als mit einem Selbstporträt kann man wohl nicht sagen 'Ich bin hier'" (379).

Insgesamt ist Calabreses Studie beeindruckend in Auswahl und Ausstattung, die alternierend weitgefassten und konzentrierten Beobachtungen überzeugen ebenso wie die Integration kulturgeschichtlicher Tendenzen und Nachbardisziplinen. Manche sprachliche Ungenauigkeiten sind vermutlich der Übersetzung geschuldet. [2] Die interpretatorische Zurückhaltung bzw. Optionalität kann dem Erzählprinzip zugerechnet werden, ebenso der schmale Endnotenapparat. Bedauerlich hingegen sind die z.T. ungenauen oder falschen Detailkenntnisse (Sweerts Bildnis zeigt nicht den Maler, Baillys Porträt-Stilleben nicht den Vater, Velazquez' Hochzeitsbild auch den Maler, Gumpps Selbstporträt außerdem die Signatur des Künstlers...) und die fehlenden Ausführungen zu Maltechnik und Werkstattpraxis, die hier zwar durch Seitenblicke auf benachbarte Genres und die Entwicklung des künstlerischen Selbstverständnisses kompensiert werden, aber nicht zu einer allgemeinen Theorie (vgl. 23f.) führen können. Ist das überhaupt möglich? Die meisten Studien zum Genre konzentrieren sich auf einzelne Epochen bzw. Maler. [3] Angesichts solch breit angelegter Ausstellung, die immer wieder Bezüge herstellt und erinnert, werden Desiderate natürlich eher eklatant als in diskursfreien Betrachtungen, die Spielräume generell vermeiden. Dem fehlenden Stichwortregister und den teilweise nur in Ausschnitten präsentierten Werken steht eine anregend organisierte und formulierte Ausarbeitung gegenüber. Und letztlich trägt eine reduzierte Theorielast dazu bei, den Erfindungsreichtum, der innerhalb der viertausendjährigen Historie des Selbstporträts immer wieder zum Ausdruck kommt, als faszinierende Geschichte erzählen zu können.


Anmerkungen:

[1] Vgl. die Arbeiten von Viktor Ieronim Stoichita: Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, 1998 (französisch 1993); Christiane Kruse: Wozu Menschen malen. Historische Begründungen eines Bildmediums, 2003; Valeska von Rosen: Mimesis und Selbstbezüglichkeit in Werken Tizians. Studien zum venezianischen Malereidiskurs, 2001; und schließlich die entsprechenden Einträge in: Metzler-Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, hg. von Ulrich Pfisterer, 2003.

[2] Die Studie ist zwar aus dem Italienischen übertragen, erschien bisher allerdings nur in Frankreich, England und Deutschland, jeweils 2006.

[3] Zuletzt Ulrich Pfisterer und Valeska von Rosen (Hg.): Der Künstler als Kunstwerk, 2005.

Christiane Dahms