Rezension über:

Guido N. Poliwoda: Aus Katastrophen lernen. Sachsen im Kampf gegen die Fluten der Elbe 1784 bis 1845, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, 292 S., ISBN 978-3-412-13406-8, EUR 37,90
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Rezension von:
Uwe Lübken
Deutsches Historisches Institut, Washington, DC
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Uwe Lübken: Rezension von: Guido N. Poliwoda: Aus Katastrophen lernen. Sachsen im Kampf gegen die Fluten der Elbe 1784 bis 1845, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 4 [15.04.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/04/12472.html


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Guido N. Poliwoda: Aus Katastrophen lernen

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Von 1784 bis 1845 wurde Sachsen mit einer Reihe von schweren Überschwemmungen an der Elbe und deren Zuflüssen konfrontiert. Hauptursache für diese Häufung war eine "Klimakrise", die sich im Rückgang der Durchschnittstemperaturen ab Ende des 18. Jahrhunderts manifestierte und die im Dalton-Minimum kulminierte. Diese Kälteperiode verursachte längere und intensivere Winter, verstärkten Frost und damit auch vermehrte Eisfluten. Guido Poliwoda geht in seiner Berner Dissertation der Frage nach, "inwieweit es einer Gesellschaft möglich war, einen längerfristig negativ auf sie einwirkenden Klimatrend nachhaltig zu bewältigen." (24) Dass die gegenwärtige Klimaentwicklung dabei als Referenzrahmen dient, liegt auf der Hand und wird vom Autor schon durch den Titel und die Titelbildgestaltung deutlich gemacht. Das Hauptinteresse Poliwodas gilt daher den durch die Katastrophen verursachten Lernprozessen, und er fragt, ob "im Untersuchungszeitraum eine 'gesellschaftliche Hochwasserrisikovorsorge' durch 'kontinuierliches und reflexives Lernen der Akteure' realisiert" wurde. (25) Der Autor bejaht diese Frage explizit, indem er drei "Lernphasen" und mehrere "Lernschritte" ausmacht. Poliwoda kommt zu dem Schluss, dass die "vollzogene Lerngenese (..) beachtenswert" sei. Die Ergebnisse seiner Arbeit zeigten, "wie eine Gesellschaft einen negativ auf sie einwirkenden Klimatrend erfolgreich bewältigen konnte." (255)

Etliche der von Poliwoda beschriebenen Maßnahmen lassen sich in der Tat als Lerneffekte charakterisieren. So forderten Dresdener Behörden auf Grund der Erfahrungen der Flut von 1784 die Einwohner der Stadt vierzehn Jahre später dazu auf, Eis und Schnee aus sämtlichen Gräben zu entfernen, um dem Wasser der Elbe einen möglichst freien Ablauf zu verschaffen. Während der Sommerflut 1804 sorgten die lokalen Behörden dafür, dass, anders als bei früheren Überschwemmungen, an den Ufern gelagertes Floßholz rechtzeitig in Sicherheit gebracht wurde. Ähnliche Verbesserungen lassen sich bei Maßnahmen zur Aufeisung, dem Aufbau eines Warnsystems mittels Kanonenschüssen, bei Bau- und Verbesserungsmaßnahmen an der Elbe, bei der "Aufnahme und Kalkulation der vom Staat anerkannten Schäden", der Einführung von Kollekten am Himmelfahrtstag und der "Auszahlung der Hilfsgelder, die sich aus Staatsgeldern und Spenden zusammen setzten", ausmachen. (114)

Gleichzeitig steht diesen Erfolgen eine ganze Reihe von Konflikten, Fehleinschätzungen und gescheiterten Maßnahmen gegenüber, die es mehr als fraglich erscheinen lassen, ob wir es hier tatsächlich mit einem mehrere Jahrzehnte andauernden Lernprozess zu tun haben. So arbeitete der sächsische Behördenapparat nach der Flut von 1784 "unflexibel" (98), Aufeisungsversuche "verliefen meist nicht erfolgreich" (106), Vorsorgemaßnahmen in Pirna wurden nach dem Sommerhochwasser 1804 "weniger konsequent durchgeführt". (125) Im selben Jahr stellte das Geheime Finanzkollegium für die Elbe bei Torgau fest, dass "es nicht gelungen [sei ...], den Strom in seine Schranken zu verweisen." (139) Die Bevölkerung leistete Widerstand gegen angeordnete Evakuierungen; Warnmeldungen durch Kanonenschüsse waren oft nicht nur zu leise, die Signalfolge erwies sich auch nicht selten als zu kompliziert, um verstanden zu werden. Zudem brachten "private Signalgebungen (...) die Kanoniere aus dem Konzept" (191). Staatliche Empfehlungen wurden nicht beachtet, Verfügungen zur Freihaltung der Überschwemmungsgebiete von Neubauten "fast nirgends gehörig befolgt", wie Wasserbaudirektor Wagner 1820 festhielt. (177)

Neben der einseitigen Interpretation des Quellenmaterials stellen grundlegende konzeptionelle und methodische Fragen ein weiteres Problem dar. Zunächst wird nicht deutlich, wer die Kriterien festlegt, an denen der "Lernerfolg" zu messen ist. Hochwasserschutz mag heute relativ expliziten Doktrinen folgen, diese aber einfach normativ als Programm in die Vergangenheit zu projizieren - etwa in Kapiteltiteln wie "Lernphase III: Auf dem richtigen Weg" (152) - ist im Kern ahistorisch. Anders ausgedrückt: Haben Gesellschaften, die nach einer Flutkatastrophe frömmer leben, nicht den aus ihrer Sicht genau richtigen "Lernschritt" gemacht, auch wenn dies aus heutiger Sicht als inadäquate Maßnahme betrachtet würde? Poliwoda wendet sich zwar gegen die Unterstellung eines "evolutionären Entwicklungsprozesses" im Umgang mit Flutkatastrophen an der Elbe, da in einem solchen Fall "fortschrittsoptimistische Betrachtungsweisen die Oberhand gewinnen" könnten (44); letztlich liegt seiner Arbeit aber ein genau solches Muster zugrunde. Auch der utilitaristische Duktus der Arbeit ist wenig hilfreich. So mag man durchaus nicht der Meinung sein, dass historische Untersuchungen "daran gemessen [werden], was aus Ihnen bezüglich Prävention, vorausschauender Abwehr und dem Lernen daraus abgeleitet werden kann." (31) Eine solche Heransgehensweise degradiert die Historiographie zur Hilfswissenschaft von Ingenieuren, Politikern und, in diesem Fall, Katastrophenmanagern.

"Aspekte des Verlernens" werden von Poliwoda, wie er selber einräumt, nur gestreift (24, Anm. 22) oder in die Fussnoten verbannt (165, Anm. 605). Auch durch diese methodische Entscheidung werden Lerneffekte überbewertet und konkurrierende Umgangsarten mit Hochwassern aus der Analyse ausgeschlossen. Dies ist umso bedauerlicher, als gerade Prozesse des Verdrängens, Vergessens und Verlernens eine große Rolle im Umgang mit Katastrophen und insbesondere bei Hochwassern spielen. Darüber hinaus ist die Auswahl des Zeitraums problematisch. Zwar war Sachsen zwischen 1784 und 1845 in der Tat einer außergewöhnlich großen Zahl von schweren Überschwemmungen ausgesetzt; dadurch, dass Poliwoda die Zeit vor dem "Initialereignis" aber fast völlig aus der Analyse ausblendet, erscheint nahezu alles, was später geschieht, als Innovation bzw. als "Lernschritt" - quod erat demonstrandum. Ein Lektorat wäre angesichts vieler sprachlicher Ungenauigkeiten überaus angezeigt gewesen.

Die Arbeit ist dort am stärksten, wo sie sich am weitesten vom "Programm" entfernt. Hier kann Poliwoda etliche interessante Details zutage fördern, etwa die für das späte achtzehnte und frühe neunzehnte Jahrhundert erstaunlichen Schäden an (proto-)industriellen und gewerblichen Einrichtungen wie zum Beispiel der Textilindustrie in Schandau. Die Beschreibung der Auseinandersetzungen über die finanzielle Verantwortung für die Aufeisung der Augustusbrücke in Dresden zeigt sehr schön die unterschiedlichen Konflikt- und Interessenlagen, in diesem Fall zwischen staatlichen Institutionen auf der einen und Elbfischern auf der anderen Seite. Das rationale Kalkül des Geheimen Finanzkollegiums, das den Nutzen von Katastrophenhilfe daran maß, ob die Empfänger in einem "contribuablen Zustand" erhalten würden, weist in die Zukunft und erinnert an die viel späteren cost-benefit-Analysen des US-amerikanischen Corps of Engineers. (144) Generell muss es dem Autor hoch angerechnet werden, dass er sich nicht, wie in der boomenden historischen Desasterforschung immer noch die Regel, mit einem Einzelereignis, sondern mit einer ganzen Sequenz von Überschwemmungen beschäftigt hat - eine Entscheidung, die nicht nur die konkrete historische Arbeit, sondern auch das Forschungsdesign erheblich verkompliziert, gerade in einem noch wenig bearbeiteten Feld.

Dennoch: Auch wenn Poliwoda den Prozesscharakter kollektiven Lernens berücksichtigt und Rückschläge mit seinem Ansatz durchaus erklären kann, wirkt das Lernmodell, das er der Hochwassergeschichte Sachsens unterlegt, über lange Strecken wie ein Korsett, in das die Daten mühsam hineingezwängt wurden. Andere Ansätze und Fragestellungen, etwa die Konfliktlinien zwischen traditionellen ökologischen Praktiken und Wissensbeständen und dem zunehmenden Interventionsanspruch des Staates oder der Bereich der Risikoforschung - von Poliwoda auf die Arbeiten Ulrich Becks reduziert (27f.) - hätten vielleicht zu einer weniger mechanischen Argumentation und anderen Anschlussmöglichkeiten verholfen.

Uwe Lübken