Matthias Ohm / Thomas Schilp / Barbara Welzel (Hgg.): Ferne Welten - Freie Stadt. Dortmund im Mittelalter, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2006, 426 S., ISBN 978-3-89534-617-0, EUR 39,00
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Barbara Welzel / Thomas Lentes / Heike Schlie (Hgg.): Das 'Goldene Wunder' in der Dortmunder Petrikirche. Bildgebrauch und Bildproduktion im Mittelalter, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2003
Thomas Schilp (Hg.): Reform - Reformation - Säkularisation. Frauenstifte in Krisenzeiten, Essen: Klartext 2004
Pablo Schneider / Barbara Welzel (Hgg.): Martin Warnke: Zeitgenossenschaft. Zum Auschwitz-Prozess 1964, Berlin: Diaphanes Verlag 2014
Opulent darf man den Katalogband zur Dortmunder Mittelalter-Ausstellung nennen, die in den Sommermonaten 2006 im Museum für Kunst- und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund zu sehen war. Zehn Essays breiten auf 100 Seiten die Folie der Stadtgeschichte aus. Schlaglichter werden auf die Stadtregierung, die Bilder in der Stadt, die städtische Geschichtsschreibung, den Stadtheiligen Reinoldus, den Umgang mit Krankheit, die Randgruppen, den Rathausbau, die Patrizierfamilie Berswordt und den Herrschereinzug Karls IV. 1377 geworfen.
Vor diesem Hintergrund werden die mehr als 300 Exponate der Ausstellung kommentiert und eingeordnet, sachkundig und teilweise ausführlich eingeleitet entlang der Ausstellungsgliederung. Die Deutungen des mittelalterlichen Dortmund durch die Moderne werden dem Katalogteil vorangestellt, um zu zeigen, mit welchem Spiegel wir auf diese Zeit sehen. Den 'Zeit-Sprüngen', wie man den ersten Einleitungstext dazu überschrieben findet, gehen die einzelnen Einführungen immer wieder nach. Mehr noch vollführt der Band selbst einen Zeitsprung, denn mit Erfolg werden die an modernen Medien, vor allem dem Internet gebildeten Seh- und Lesegewohnheiten auf das Medium Buch rückübertragen.
Im Katalog verweisen zusätzliche kleine Fotoausschnitte auf die Details, vor allem in der Malerei, aber auch bei anderen Objekten. Oder aber die einzeln abgelichteten Exponate werden per kleinem Zusatzfoto, durch den Blick zum Beispiel in die Dortmunder Innenstadtkirchen und auf andere Objekte, in der einen oder anderen Weise kontextualisiert, in den Zusammenhang ihrer Überlieferung oder der Verwendung in der Zeit gestellt. Dank beigesetzter Katalognummern kann anhand dieser 'Miniaturansichten' neben den Exponatfotos, wer möchte, mit Gewinn kreuz und quer lesen, gucken und entdecken, also genau das tun, was wir im Internet "surfen" nennen. Der Katalogteil erlaubt damit eine assoziative Lektüre, die einem Ausstellungsbesuch selbst nahe kommt.
Mit diesem Aufbau trägt er auch den neuesten Ansätzen der Geschichtswissenschaft zu Bildern als historischen Quellen einerseits und dem Mittelalterbild der Moderne und seiner Verarbeitung in Kunst, Architektur und Wissenschaft andererseits Rechnung.
Zur Qualität des Bandes steuern die Fotografien das Ihrige bei. Einzelne tragen die Aussagen schon in sich, so wenn der Marienleuchter der Dortmunder Propsteikirche im auftreffenden Sonnenlicht widerscheint [Kat.-Nr. 184]. Die 'bildliche Konkurrenz' müssen die Einführungs- und Exponattexte nicht fürchten, denn sie sind trotz des hohen wissenschaftlichen Anspruchs anschaulich geschrieben. Passend zu diesem Programm ziert den Einband nicht etwa eine der Stadtansichten, sondern das Detail der - im Fotolayout freigestellten - lesenden Augen hinter von Hand gehaltener mittelalterlicher Brille aus der Pfingstszene des Wildunger Altars - ein Motiv, das auch beim Goldenen Wunder der Petrikirche und auf dem Gerichtsbild des Derick Baegert sichtbar ist und in der Ausstellung zugleich als Realie zu sehen war.
Der Ausstellungstitel "Ferne Welten" bezieht sich nicht nur auf die Räume außerhalb der "Freien Stadt", sondern auch auf die Dinge selbst, die mit Werken, Hinterlassenschaften und Übriggebliebenem vom Mittelalter künden. Die in diesem Sinne sprechenden Dinge werden durchweg in der zweifachen Hinsicht befragt, was sie uns über die gegenständliche Welt des mittelalterlichen Dortmund sagen und wofür sie den Menschen dieser fernen Zeit Zeichen waren. Die von den Zeitgenossen zur Illustration genutzten Musikinstrumente können - nämlich als Nachbauten - direkt verglichen werden. Ebenso werden die auf den Altarretabeln sichtbaren Gewänder bzw. Stoffe als Realien - unter dem Aspekt der Prachtentfaltung und der Repräsentationsabsichten der Auftraggeber der Werke - direkt den gemalten Abbildungen zur Seite gestellt. In den gestifteten Kunstwerken wird der reichsstädtische Anspruch Dortmunds auch in den Krisenzeiten des 14. und 15. Jahrhunderts durchaus belegbar. In welcher Weise die Werke - und damit auch ihr Anspruchsniveau - in die herrschaftliche und rituelle Praxis eingebunden waren, darüber reflektieren instruktiv Thomas Schilp und Barbara Welzel in ihren Essays zum "guten Regiment" und zur "Stadt der Bilder".
Auch mit Dortmunder Neuentdeckungen und Erstpublikationen wartet der Katalog auf. Ein bislang nicht identifiziertes Bleiabzeichen wurde mit hoher Sicherheit als Zeichen der spätmittelalterlichen Reinoldus-Wallfahrt eingeordnet [Kat.-Nr. 66]. Erstmals publiziert und auf das 15. Jahrhundert datiert wurde der Messkelch der Dortmunder Reinoldigemeinde [Kat.-Nr. 100]. Dasselbe gilt für eine Buchseite und ein lateinisches Brevier aus Flandern [Kat. 177 und 179], die als Beispiele der städtischen Frömmigkeit dienen. Für diese beiden Exponate ist aber nur die heutige Besitzerin, die Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, das Verbindungsglied zur Stadt. Die Stücke selbst haben keine spezifisch auf Dortmund zu beziehende Geschichte. Genau diesen Aspekt kann die Nachschrift David Slipers über Grammatik und Rhetorik aus Reval/Tallinn beitragen [Kat.-Nr. 280]. Sliper war der letzte Prokurator des Revaler Dominikanerordens und kam aus Dortmund. Dass die Grammatik noch in den westfälischen Bezügen entstand, ist aufgrund der Beispielsätze wahrscheinlich zu machen. Erklärt wird die Nachschrift im Überlieferungskontext dieser Hansestadt, die neben acht anderen alten Hansestädten Teile der Dortmunder Ausstellung aus eigenen Beständen bestückte.
Außer Reval haben auch Visby, Nowgorod, Danzig, Krakau, Bergen, London, Brügge und Antwerpen gesonderte Ausstellungsabschnitte. Dortmund wird so in den Vergleich zu den anderen Städten gestellt und man erhält einen Eindruck davon, inwieweit über die Handelsbeziehungen ferne Welten in die freie Stadt geholt wurden. Sinnfällig gemacht wird dies, indem der Katalogteil mit dem Goldenen Wunder als Antwerpener Exponat schließt. Das Retabel wird damit an seinem Herstellungsort vorgestellt. Es war für die Franziskanerkirche in Dortmund bestimmt und stand auch zunächst dort auf dem Hochaltar. Seit dem 19. Jahrhundert ist das Goldene Wunder in der Petrikirche aufgestellt. Eigene Darlegungen lassen die Konstruktion des Schreins und die Unterzeichnungen an den gemalten Teilen nachvollziehen. Diese genauen wissenschaftlichen Untersuchungen sind inzwischen für fast alle Altarretabeln der Dortmunder Innenstadtkirchen geleistet. Die beigelegten Klappmodelle dieser Retabeln komplettieren den Band.
Der Dortmunder Ausstellungskatalog bietet somit viele interessante Details, an die weitere Forschung anknüpfen kann. Wie interdisziplinäre Zusammenarbeit funktioniert, lässt sich dafür nachlesen: An einzelnen Exponaten werden kunsthistorische Ergebnisse abgeglichen mit den stadt- und sozialgeschichtlichen Thesen und Annahmen. Genauso bezieht sich die Stadtgeschichte auf Datierungs- und Kontextaussagen der Kunstgeschichte und versucht, sie einzubinden. Zum anderen ist der Katalog uneingeschränkt Leserinnen und Lesern zu empfehlen, die einen assoziativen, bildergestärkten Zugang zur Dortmunder Geschichte nehmen wollen.
Monika Fehse