Lutz Berger: Gesellschaft und Individuum in Damaskus 1550-1791 (= Kultur, Recht und Politik in Muslimischen Gesellschaften; Bd. 10), Würzburg: Ergon 2007, XII + 366 S., ISBN 978-3-89913-596-1, EUR 45,00
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In dieser im Jahre 2006 von der Fakultät für Kulturwissenschaft der Universität Tübingen angenommenen Habilitationsschrift führt Lutz Berger dem Leser auf sehr überzeugende Weise das Welt- und Menschenbild vor Augen, das aus den umfangreichen Damaszener Biographiesammlungen vom späten 16. bis zum 18. Jahrhundert hervorgeht. Die Quellenbasis für diese Studie ist klar umrissen und bietet genug Substanz für einen Einblick in die mentalen und realen Strukturen dieser vormodernen nahöstlichen Gesellschaft. Im Einzelnen hat sich der Verfasser intensiv mit folgenden Texten befaßt: Mit (1) Musa b. Yusuf b. Ayyub al-Ansaris (ca. 948/1541-nach 1002/1594) Nuzhat al-khatir wa-bahjat an-nazir (hg. von 'Adnan Muhammad Ibrahim und 'Adnan Darwish. 2 Bde. Damaskus 1991) und Kitab ar-rawd al-'atir (Teilsatz hg. von Ahmet Halil Güneş unter dem Titel "Das Kitab ar-raud al-'atir des Ibn Aiyub. Damaszener Biographien des 10./16. Jahrhunderts. Beschreibung und Edition." Berlin 1981), (2) Hasan b. Muhammad al-Burinis (963/156-1024/1611) Tarajim al-a'yan min abna' az-zaman [hg. von Salah ad-Din al-Munajjid. 2 Bde. Damaskus 1959-63 (+ Wiener Handschrift 1190 für den dritten, nicht erschienenen Band)], (3) Najm ad-Din al-Ghazzis (977/1570-1061/1651) Lutf as-samar wa-qatf ath-thamar min tarajim a'yan at-tabaqa al-ula min al-qarn al-hadi 'ashar (hg. von Mahmud ash-Shaykh. 2 Bde. Damaskus 1981) und al-Kawakib as-sa'ira bi-a'yan al-mi´a al-'ashira (hg. von Khalil al-Mansur. Beirut 1997), (4) Muhammad Amin al-Muhibbis (gestorben 1111/1699) Khulasat al-athar fi a'yan al-qarn al-hadi 'ashar (4 Bde. Nachdruck der Ausgabe Kairo 1284/1868. Beirut o.J.) und Nafhat ar-rayhana (6 Bde. Kairo 1967ff.) sowie mit (5) Muhammad Khalil al-Muradis (gestorben 1206/1791) Silk ad-durar fi a'yan al-qarn ath-thani 'ashar (4 Bde. Nachdruck der Ausgabe Kairo 1874ff.). Hinzu kommen noch zwei Tagebücher, nämlich zum einen Muhammad Ibn Kannan as-Salihis (1074/1663-1153/1740) Yawmiyat shamiyya (hg. von Hasan Akram al-'Ulabi. Damaskus 1994) und al-Budayri al-Hallaqs (gestorben 1175/1762) Hawadith Dimashq al-yawmiyya (hg. von Ahmad 'Izzat 'Abd al-Karim. Kairo 1959).
Im Zentrum der Abhandlung stehen mentalitätsgeschichtliche Themen. Die Biographien geben, so kann Berger sehr schön zeigen, "Zeugnis vom Status bestimmter sozialer und ethnischer Gruppen, von gesellschaftlichen Konflikten, zuweilen auch Zerwürfnissen innerhalb von Familien, von Verbrechen, Wundermacht und Geisteskrankheiten, Tugenden und Lastern." (S. 13) Es sei allerdings, dies eine kleine Einschränkung seitens des Autors, kaum möglich, sich auf Grund dieses Materials von all diesen Dingen eine quantitative Vorstellung zu machen.
Letzten Endes interessiert Berger weder die Realgeschichte, also etwa der Wandel der Rechtsschulzugehörigkeit der syrischen Oberschicht oder die Zusammenarbeit bzw. Auseinandersetzung dieser Elite mit der Zentralmacht und den Gouverneuren, noch die Entwicklung des biographischen Genres oder die Arbeitsweise der Autoren (leider, denn dies wäre meines Erachtens sehr interessant), sondern die Spiegelung und Brechung der äußeren Wirklichkeit im Bewusstsein der hier zu Wort kommenden Zeitgenossen.
Die zeitliche Eingrenzung, nämlich die Jahre zwischen 1550 und 1791 ist von dem Verfasser ganz bewusst vorgenommen worden: Die Zeit bis 1550 sieht, so Berger, "Menschen in Damaskus wirken, die zu einem guten Teil ihre Ausbildung noch in der Mamlukenzeit oder der Übergangsepoche bis zum Aufstand des Janwirdi al-Ghazali erfahren haben. Danach war die Mamlukenzeit allenfalls in der Erinnerung der Alten noch präsent." (S. 16) Der Wechsel vom 18. zum 19. Jahrhundert bringe dann "mit der französischen Invasion die Vorboten jenes entscheidenden Bruchs in der syrischen Geschichte an der Schwelle zur Moderne, der mit der ägyptischen Besatzung in den 1830er Jahren und den osmanischen tanzimat in den Folgejahren endgültig vollzogen wird." (Ebda.)
Zwei übergreifende Fragen bilden die Klammer der inhaltlichen Auswertung der Texte: 1. Wie stark ist die Präsenz von Individualität in den Werken erkennbar, und 2. Welche Voraussetzungen brachte die aus diesen Texten sprechende syrisch-muslimische Elite für die Bewältigung des soziokulturellen Wandels mit, der im 19. Jahrhundert die Geschichte der Levante bestimmte?
Vor diesem Hintergrund beschreibt Lutz Berger in dem ersten Hauptteil seiner Arbeit die gesellschaftlichen Grundmuster seiner Zielgruppe (S. 49-212): Er tut dies sehr geschickt, indem er zuerst auf diejenigen eingeht, die normalerweise die Ordnung aufrecht erhalten sollen, nämlich auf die Herrscher und die Gouverneure. Dann folgt die Beschreibung der Kräfte, die Unordnung und Chaos verursachen: Aufstände, die Damaszener Janitscharen, die Beduinen und die Drusen. Schließlich bleiben noch die "Fremden", d.h. Türken, Perser, dhimmis und Franken (Europäer). Nach dieser umfangreichen und trefflichen Skizze der sozietären Bedingungen schließt sich im zweiten Hauptteil die Benennung der individuellen Hinsichten auf die Welt an (S. 213-324). Nach den Familienverhältnissen (Väter und Söhne, Frauen) kommt Berger auf die verschiedenen Formen devianten Verhaltens (Drogen, Sexualität, Selbstmord, Norm und Normverstoß) und devianten Denkens (Alchemie, Sternenkunde, Buchstabenmagie, magische Quadrate, Geisterbeschwörung und Schadenszauber, Medizin und Ketzerei) zu sprechen. Den Abschluss bilden dann noch einige Ausführungen zur positiven Abweichung von der Norm, gemeint sind die verschiedenen Formen von Heiligkeit und Wahn sowie die lebhaften Debatten um die Sufik.
Am Ende seiner bemerkenswerten Analyse kehrt der Verfasser wieder zu den beiden Leitfragen zurück und gibt uns plausible, d.h. auf der in den beiden Hauptteilen geführten Argumentation basierende Antworten: 1. "Obwohl ein wichtiges Element des Individuellen, nämlich Psychologie und innere Handlung, weitgehend fehlt, haben wir es bei al-Ghazzis, al-Burinis und Ibn Aiyubs Darstellungen ihrer Zeitgenossen mit Werken von außerordentlichem Reichtum, einer Detailfreude und Unmittelbarkeit zu tun, wie sie in er biographischen Tradition der arabischen Welt so doch ungewöhnlich ist. Doch kann man in Anbetracht der Tatsache, dass diese Form der Darstellung in den späteren syrischen Biographiesammlungen bis ins 20. Jahrhundert keine Fortsetzung findet, wohl kaum von einem längerfristigen Trend sprechen. Die hier untersuchten Texte zeugen im Ganzen weniger vom Wandel als von der Stabilität eines Menschenbildes über die Jahrhunderte, wohl aber auch von einem Pendelausschlag hin zu größerem Interesse am Individuellen im 16. und frühen 17. Jahrhundert." (S. 336) 2. Es ist sehr auffällig, welche geringe Rolle ideologische und religiöse Konflikte in dieser Welt zu spielen scheinen. Die schiitischen Regionen sind weit weg, und die Drusen stellen eher eine militärische, denn eine konfessionelle Bedrohung dar. Wenn es unter den Gelehrten zu Streitereien kommt, dann durch individuelles Fehlverhalten oder durch Konkurrenz- und Neidgefühle. In religiöser Hinsicht gibt es einen Grundkonsens, der nicht weiter hinterfragt wird. Es sind keine revolutionären Neuerungen erkennbar. Warum auch? Bis ins 18. Jahrhundert hinein hatten die Muslime wenig Grund, sich nicht als Mittelpunkt der Welt zu fühlen. Die Lehrbücher, aus denen unterrichtet wurde, stammen, wie Berger schreibt, zum größten Teil aus der Epoche vom Beginn der Seldschukenherrschaft bis zum Ende der Mamlukenzeit. Neue Werke schrieb man eher mit dem Argument, sie böten knapper und leichter verständlich den gleichen Inhalt wie die alten. Diskussionen wurden nur über Themen wie den Kaffeekonsum oder zu Einzelheiten des Scheidungsrechtes geführt. "Die in Kreisen der Istanbuler bürokratischen Elite geführten Debatten um die Zukunft des Staates, die dort vorhandenen Kenntnisse über die Welt außerhalb des Reiches, all das spiegelt sich kaum in den Biographien der führenden Gelehrten Syriens." (S. 340), lautet das ernüchternde Fazit von Lutz Berger. Dies sei auch nicht aus dem Genre heraus erklärbar. Vielmehr gab es "neben exogenen, geopolitischen und auf historischer Kontingenz beruhende Ursachen für die Unfähigkeit, sich den Herausforderungen der Zeit zu stellen, aber eben auch endogene strukturelle Defizite auf dem Gebiet der Mentalität." (Ebda.) Man war also sehr schlecht auf die Herausforderung durch die europäischen Mächte und die damit einhergehende Konfrontation mit der sogenannten "Moderne" vorbereitet.
Diese Ergebnis ist sehr bemerkenswert und hält den Thesen einer vermeintlichen "Islamischen Aufklärung" im 18. Jahrhundert, die vor einigen Jahren einmal debattiert wurden, sehr gute und vor allem sehr gut begründete Argumente entgegen.
Stephan Conermann