Stephanie Marra: Allianzen des Adels. Dynastisches Handeln im Grafenhaus Bentheim im 16. und 17. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, 294 S., ISBN 978-3-412-31105-6, EUR 34,90
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Das Buch, die überarbeitete Fassung einer 2002 vorgelegten Bochumer Dissertation, stößt zweifellos in eine immer noch vorhandene Forschungslücke, indem es sich mit modernen Fragestellungen der Sozialgeschichte des frühneuzeitlichen Adels zuwendet. Zwar lässt sich seit Beginn der 1990er Jahre eine verstärkte Hinwendung zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des frühneuzeitlichen Adels feststellen (12), Studien wie die vorliegende zählen dessen ungeachtet im deutschsprachigen Raum noch immer zu den Seltenheiten.
Die Autorin setzt sich zum Ziel am Beispiel des gräflichen Hauses Bentheim drei Aspekte von Familienpolitik und Familienleben zu behandeln (9f.): 1. Voraussetzungen, Abläufe, rechtliche Aspekte und Rückwirkungen der Heiratspolitik für die einheiratenden Frauen, 2. Vorraussetzungen und Konsequenzen des Scheiterns von Paarbeziehungen, 3. die rechtliche und finanzielle Absicherung gräflicher Witwen. Quellengrundlage der Studie sind in erster Linie die Bestände der privaten fürstlichen Archive Bentheim-Tecklenburg (Rheda) und Bentheim-Steinfurt (Burgsteinfurt) sowie ergänzende Unterlagen aus Beständen der Marburger und Münsteraner Staatsarchive.
Im Anschluss an die Einleitung, die die Ziele der Studie, Forschungsstand und Quellenüberlieferung knapp umreißt, ist die Arbeit in fünf Kapitel gegliedert. Das erste (23-47) fasst kurz die Familien- und Territorialgeschichte der Grafen von Bentheim zusammen und stellt damit den historischen Hintergrund für die anschließenden Ausführungen dar. Das zweite Kapitel (48-74) ist mit "Elemente adeliger Heiratspolitik" überschrieben und widmet sich dem Eherecht, den Heiratskreisen, dem Vorgang der Eheanbahnung und den Eheverträgen. Dem folgt ein Kapitel (75-104) zu adeligen Hochzeiten als Tauschbeziehungen, in dem die Autorin (auf den Spuren von Marcel Mauss) die Eheschließung als Gabentausch interpretiert und darstellt.
Die letzten beiden Kapitel machen schließlich den Hauptteil der Studie aus. In Kapitel 5 (105-168) geht Marra zunächst allgemeiner den möglichen Ursachen von Konflikten und Krisen im adeligen Eheleben nach, bevor sie sich intensiver zwei Beispielfällen aus der Familie Bentheim widmet: den beiden gescheiterten Ehen des Grafen Johann Adolf von Bentheim-Tecklenburg (1637-1704). In beiden Fällen versucht die Autorin in erster Linie aus Sicht der beteiligten Frauen Ursachen und Konsequenzen des Scheiterns herauszuarbeiten. Dabei war der erste Fall, die Trennung und spätere Ehescheidung des Grafen von seiner Frau Johanna Dorothea von Schaumburg-Lippe wegen deren nachgewiesenen mehrfachen Ehebruchs, sicher der spektakulärere und ungewöhnlichere. Die zweite Ehe endete dagegen in einer de-facto-Trennung des gräflichen Paares, die wohl als zeittypische Lösung eines solchen Konfliktes bezeichnet werden darf; die Ehefrau Charlotte von Sachsen-Weißenfels zog sich nach Bremen zurück. Im letzten Kapitel der Untersuchung (169-227) geht die Verfasserin dann dem Schicksal hochadeliger Frauen im Witwenstand nach. Wieder folgen nach allgemeineren Ausführungen Beispiele aus dem Hause Bentheim, die sozusagen zwei "Typen" adeligen Witwenstandes beschreiben: Die Regentin (Johanetta Elisabeth von Bentheim-Limburg, 1592-1654) beziehungsweise die "arme" Witwe, die um Unterhalt und Aufenthaltsrecht streiten muss (Anna Magdalena von Velen-Raesfeld, um 1620-1692, und Charlotte von Bentheim-Tecklenburg, 1653-1708). Eine knappe Zusammenfassung, genealogische Tafeln sowie Abbildungen von erwähnten Personen und Orten runden die Darstellung ab.
Die Studie von Stephanie Marra stellt in Aufbau und Charakter nicht nur, wie der Untertitel vielleicht nahe legen könnte, eine Fallstudie zum Grafenhaus Bentheim dar. Vielmehr versucht die Verfasserin in allen Teilen ihrer Darstellung, vergleichbare Untersuchungen und generalisierende Beobachtungen einzubeziehen, ihr Material einzuordnen und selbst zu verallgemeinern. Dies gelingt ihr mit unterschiedlichem Erfolg, freilich nicht zuletzt auch dadurch, dass zu vielen Einzelfragen wirklich vergleichbare Studien fehlen oder nur in sehr geringer Zahl vorliegen. Die Tendenz der Autorin zur Verallgemeinerung führt allerdings teilweise zu Aussagen, die weder durch eigenes Material noch durch Literaturbelege abgedeckt werden und die in der konkreten Formulierung auch manchmal irreführend sein dürften. So etwa, wenn die Autorin postuliert, dass es immer die Familie des Ehemannes war, die die Initiative ergriff und die Braut auswählte, nicht die Familie der Braut (62), und dass es immer Männer, nie weibliche Verwandte waren, die die Verhandlungen führten (64) - wobei wenige Zeilen später genau ein Gegenbeispiel folgt. Gleiches gilt etwa für die Feststellung, dass der Ehevertrag mit dem Tod eines Ehepartners die Rechtswirksamkeit verlor (73), oder dass seit dem 16. Jahrhundert im Hochadel verstärkt Mehrfach-Ehen im Sinne von Polygamie zu beobachten gewesen seien (132) - als einziges Beispiel dient hier der bekannte Fall des Landgrafen von Hessen. Bedauerlich ist auch, dass am Ende der Studie ein weiteres Mal weibliche Handlungsfelder in politischer Hinsicht auf Regentschaft und Stellvertretung des abwesenden Ehemannes begrenzt gedacht werden (232).
Insgesamt wird man die Studie immer dort mit Gewinn nutzen können, wo die Verfasserin auf eigenes Quellenmaterial zurückgreift und daraus detailliert Darstellung und Befunde entwickelt. Viele ihrer generalisierenden Ausführungen stellen gelungene Zusammenfassungen des Forschungsstandes dar oder führen, wie etwa die Darstellung der Eheschließung als Gabentausch, vorhandene Ansätze in erhellender Weise weiter. Die Lektüre des Werkes ist zweifellos für alle von Nutzen, die sich mit adliger Familiengeschichte vorrangig des 17. Jahrhunderts beschäftigen, nicht zuletzt wegen der angesprochenen Verknüpfung von Allgemeinem und Besonderen, wie sie etwa in der Zusammenfassung (228-233) gelingt. Etliche Generalisierungen der Studie wird man jedoch hinterfragen müssen; erst weitere Untersuchungen werden hier sicherere Auskunft geben können.
Katrin Keller