Aloys Winterling (Hg.): Basistexte. Band 1: Historische Anthropologie, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, 301 S., ISBN 978-3-515-08905-0, EUR 28,00
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Für die Frage, was der Mensch ist, scheinen heutzutage Biologen zuständig zu sein. Angesichts der Tatsache, dass sie den Menschen nicht nur erklären, sondern ihn mittels Gentechnik schaffen wollen, erhält aber auch die Frage nach einem über das Körperliche hinausgehenden Wesen des Menschen Brisanz. Gerade weil die Genetik mit dem Anspruch der modernen Naturwissenschaft auf objektive Gültigkeit antritt, muss man ihre Aussagen als spezifisch modern, mithin als relativ neu und prinzipiell historisch variabel ansehen. Die Untersuchung solcher historischer Variabilitäten in anthropologischen Aussagen und die Frage, ob überhaupt anthropologische Konstanten mit kultur-, zeit- und raumübergreifender Gültigkeit beschreibbar sind, das sind zentrale Themen der Historischen Anthropologie. Diese hat in den letzten Jahrzehnten auch in Deutschland einen bedeutenden Aufschwung erfahren - gegenüber dem französischen und angelsächsischen Raum etwas verspätet, aber inzwischen auf hohem internationalem Niveau. Der von Aloys Winterling herausgegebene Band beleuchtet in 13 Texten verschiedenste Aspekte Historischer Anthropologie.
Die Einleitung beginnt mit einer "begrifflichen Klärung" (10) der Bezeichnung Historische Anthropologie, wobei Winterling Bedeutungsvarianten bzw. Forschungsfelder in ihrer Nähe und Abgrenzung zu Disziplinen wie Ethnologie, Soziologie, Biologie und Geschichtswissenschaft beschreibt. Dieses Nebeneinanderstellen der Bedeutungsvarianten lässt die versprochene "Klärung" insoweit vermissen, als eben nicht klar wird, was der Leser unter der ihm vorgestellten Disziplin verstehen soll, wo die gemeinsame Grenze ist, die bei aller Durchlässigkeit das zerklüftete Forschungsfeld der Historischen Anthropologie von anderen Bereichen trennt und nach innen zusammenhält. Durch den Verzicht auf eine solche Klärung wird die Vielfältigkeit der Disziplin treffend abgebildet, zudem wäre der Versuch einer Vereinheitlichung über die vage Zuordnung der Objektbereiche Mensch und Vergangenheit hinaus ein anspruchsvolles und im Einzelnen immer anfechtbares Unternehmen. Dennoch wäre es gerade für den studentischen Leser - an den sich die Basistexte besonders richten - nützlich gewesen, wenn sich der Autor dieser schwierigen Aufgabe etwas mehr gestellt hätte. Dass er am Ende der Einleitung das Problem als offene Frage künftigen Forschern ans Herz legt, tröstet bedingt über das Fehlen seines eigenen Beitrags dazu hinweg.
Die Vorstellung der Texte in der Einleitung benennt Inhalt und oft auch Kernaussagen, wodurch eine gezielte Teillektüre ermöglicht wird. Die Texte werden dabei knapp im Forschungskontext verortet.
Bei den einzelnen Beiträgen handelt es sich meist um vollständige Aufsätze von weniger als 20 Seiten, die ihr Thema meist gut nachvollziehbar abhandeln. Thematisch gliedern sie sich in sechs Kapitel: "Grundfragen der Anthropologie" behandeln ein Aufsatz von Jürgen Habermas sowie ein Beitrag von Clifford Geertz. Habermas Text von 1958 enthält neben einem (heute selbst schon wieder historisierbaren) philosophiegeschichtlichen Überblick vor allem eine wissenssoziologische Kritik an der Ideologieanfälligkeit einer mit ontologischem Anspruch auftretenden Anthropologie. Bei Geertz steht die Multidimensionalität menschlichen Handelns und Verhaltens im Zentrum der Argumentation - gegen eine allzu abstrakte und dadurch verfälschende Reduktion auf scheinbar trennscharfe ontologische Grundkategorien.
Die "Biologische Perspektive" ist mit einem Aufsatz von Bernd Herrmann vertreten, der die Ignoranz einer sich als rein biologisch verstehenden Anthropologie gegenüber kulturellen Phänomenen beklagt, aber auch von Sozialwissenschaftlern die Berücksichtigung naturwissenschaftlicher Daten einfordert. Dieser Standpunkt ist vielleicht nicht ganz repräsentativ für die "Biologische Perspektive", dürfte aber dem des Herausgebers entsprechen.
Ebenfalls nur mit einem Text vertreten ist der Bereich "Menschennahe Sittengeschichte". Hier soll ein Beitrag von Andre Burguere die französische Forschung vorstellen, denn Autoren wie Fernand Braudel, Lucien Febvre, Michel Foucault oder Pierre Bordieu sind nicht selbst vertreten. Manchem wird hier, nicht ganz zu Unrecht, etwas fehlen. Zumal Winterling Foucault und Bordieu wie die ebenfalls nicht vertretenen, Norbert Elias und Niklas Luhmann, als "Historische Anthropologen avant la lettre" (29) bezeichnet, ihre (Vor-)Arbeiten aber doch übergehen zu können glaubt. Das Fehlen von Elias, Foucauld und Bordieu wird in einer kleingedruckten Vorbemerkung zum Literaturverzeichnis damit begründet, dass diese zwar "thematisch und methodisch ähnlich ansetzen, ohne jedoch die Bezeichnung 'historische/Historische Anthropologie' zu führen" (293) - Winterling folgt also der Selbstbezeichnung der Autoren. Dass es immer andere gibt, die eine andere Wahl getroffen hätten, ist wohl unvermeidlich. Es wäre allerdings möglich gewesen, die eigenen Kriterien in der Einleitung stärker transparent zu machen. Immerhin wird in den von Winterling verwendeten Texten regelmäßig auf die von ihm übergangenen Autoren Bezug genommen - allein auf Bordieu laut Register neunmal.
Unter "Konstanten, Variablen und variable Konstanten in der Geschichte" kommt unter anderem Thomas Nipperdey zu Wort. Sein Text von 1967 sollte "Anstoß" sein (99), eine neue Dimension in der Geschichtswissenschaft einzuführen und insbesondere "psychische Realitäten" (95) in ihrer Wandelbarkeit zu untersuchen. Alfred Heuss dagegen zielt auf die Rekonstruktion menschheitstypischer "Sinndimensionen" (111 f.). Oskar Köhler und Jochen Martin verweisen - gegen eine Reduzierung auf psychische Faktoren - auf die Multidisziplinarität Historischer Anthropologie.
Im Kapitel "Ethnologische Historie und historische Ethnologie" steht Hans Medicks Aufsatz "Missionare im Ruderboot" für die Kritik an der (Bielefelder) Sozialgeschichte in den 1980er Jahren. Medick forderte damals für die Geschichtswissenschaft einen ethnologischen und teilnehmenden Blickwinkel. Thomas Sokolls Text wiederum verweist auf die Gefahr, dichte Beschreibung könne in theoriefeindliche Faktensammlung münden, und wendet sich gegen die Vernachlässigung gesellschaftlicher Strukturen. Andre Gingrich und Werner Zips vertreten von Seiten der Ethnologie aus die Strömung der Ethnohistorie.
Im letzten Kapitel historisiert Christoph Wulf die Historische Anthropologie und ihre Ergebnisse selbst; er behauptet sogar, "die prinzipielle Unergründbarkeit des Menschen" (290) sei Grundlage produktiver wissenschaftlicher Offenheit.
Sehr nützlich ist das Sach- und Personenregister, das die Erschließung bestimmter Themenfelder über die Textgrenzen hinweg ermöglicht.
Winterlings Historische Anthropologie ist ein Lesebuch, das nicht unbedingt eine klare Definition dessen bietet, was Historische Anthropologie ist, aber einen vielfältigen Überblick darüber, was sie alles sein kann. Die meist prägnanten Basistexte bieten eine gute Auswahl mit Schwerpunkt auf der deutschsprachigen Forschung. Das Buch liefert pointierte Anregungen, ohne eine Synthese oder Gewichtung der Meinungen vorzugeben. Winterling gibt also eine solide "Basis", um von hier aus das Wissen zur Historischen Anthropologie mit Hilfe weiterer Lektüre auszubauen.
Birgit Biehler