Natacha Henry: Marthe Richard. L'aventurière des maisons closes, Paris: punctum éditions 2006, 250 S., ISBN 978-2-35116-010-7, EUR 18,50
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Elizabeth Coquart: Marthe Richard. De la petite à la grande vertu, Paris: Payot et Rivages 2006, 298 S., ISBN 978-2-228-90076-8, EUR 20,00
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Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935-1941. Mit einem Vorwort von Angelo Del Boca, Zürich: Orell Füssli Verlag 2005
Gustavo Corni: Il sogno del 'grande spazio'. Le politiche d'occupazione nell'Europa nazista, Bari / Roma: Editori Laterza 2005
Stefania Galassi: Pressepolitik im Faschismus. Das Verhältnis von Herrschaft und Presseordnung in Italien zwischen 1922 und 1940, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008
Als eine der ersten Frauen Frankreichs erwarb Marthe Richard 1913 die Fluglizenz, im Ersten Weltkrieg war sie Agentin und 1946 erwirkte sie die Schließung der maisons closes, der staatlich lizenzierten Bordelle Frankreichs. Das Schicksal und der Mythos Richards bieten ausreichend Stoff für eine Biografie, zumal sie sich als schillernde, schwer zu fassende Persönlichkeit entpuppt. Nachweislich wurde sie im Alter von sechzehn Jahren von der Polizei aufgegriffen und als Prostituierte registriert. Als Namensgeberin des Gesetzes Nr. 46-685, welches das Ende der reglementierten Prostitution besiegelte, war sie zahlreichen Enthüllungen und Verleumdungen ausgesetzt, die ihren Lebensweg einerseits erhellten, andererseits verzerrten. Mit fünf autobiografischen Schriften beteiligte sich die französische Nationalikone aktiv an der Konstruktion ihres eigenen Mythos, was ihren Biografen die Arbeit nicht gerade erleichterte. Dennoch haben sich sechzig Jahre nach Schließung der Häuser gleich zwei Autorinnen dieser Aufgabe gestellt: Natacha Henry und Elizabeth Coquart - beide historisch ausgebildete Journalistinnen, die sich bereits in anderen Büchern mit frauengeschichtlichen Themen auseinandergesetzt haben.
Sowohl die eine als auch die andere Biografie wendet sich an eine breite Leserschaft, was vor allem im Sprachstil deutlich wird, der jeweils leicht lesbar, aber bisweilen fast romanesk ausfällt. Während Henry Fußnoten setzt, fasst Coquart die verwendeten Quellen im Anhang kapitelweise zusammen. Obwohl die unterschiedliche Anlage der Bibliografie anderes vermuten lässt, stützen sich Henry und Coquart über weite Strecken auf das gleiche Material: Zeitungsberichte, Unterlagen der Polizeipräfektur, Erinnerungen von Weggefährten und das Bulletin municipal officiel de la ville de Paris sind neben der Sekundärliteratur die wichtigsten Informationsquellen.
Beide Autorinnen gehen streng chronologisch vor: Marthe Betenfeld, 1889 in Lothringen geboren, entstammte einer Arbeiterfamilie und sollte ursprünglich Schneiderin werden. Sie entfloh aber ihrem Elternhaus und landete auf den Straßen von Nancy, wo sie im August 1905 aufgrund einer Geschlechtskrankheit von der Sittenpolizei als Prostituierte eingestuft wurde. Zwei Jahre später lernte sie in Paris den reichen, deutlich älteren Unternehmer Henri Richer kennen, der für ihre Ausbildung sorgte, sie in bessere Kreise einführte und heiratete, bevor er in den Krieg zog. Eine neue Welt tat sich auf: Richer finanzierte seiner Freundin Flugstunden, ja er kaufte ihr sogar ein eigenes Flugzeug. Während dieser Aspekt bei Henry kaum Erwähnung findet, unterstreicht Coquart, wie ungewöhnlich es war, in dieser Zeit als Frau den Flugschein zu erwerben und welche Widerstände es dagegen gab. Die Flugversuche der Gebrüder Wright waren gerade erst zehn Jahre her, man befand sich in der Pionierzeit des Fliegens, und auch die spätere Marthe Richer erlitt mit ihrer Maschine einen Unfall. Im Ersten Weltkrieg drängte sie auf einen militärischen Einsatz als Pilotin, doch der zuständige General wies sie ab: In der Haager Landkriegsordnung sei von "Kämpferinnen" nicht die Rede, es sei daher unklar, ob Frauen im Falle der Gefangennahme eine angemessene Behandlung zukomme. George Ladoux, der Chef der Spionage, hatte weniger Skrupel und beauftragte Marthe Richer damit, Korvettenkapitän Hans von Krohn, Attaché an der deutschen Botschaft in Spanien, zu verführen. Da Henri Richer im Krieg umgekommen war, nahm sie den Auftrag an.
Was genau sie in Spanien tat, ist nicht mehr nachvollziehbar oder verschwimmt in einem Meer von Anekdoten. Denn bereits 1932 begann die Heroisierung Marthe Richards, als Ladoux ein Buch über ihre Agententätigkeit veröffentlichte, in dem er sie als Heldin stilisierte und ihr den Namen "Richard" verlieh. Richard akzeptierte die Darstellung nicht nur, sondern unterfütterte sie kurz darauf mit ihrem ersten Buch "Ma vie d'espionne"; weitere Erinnerungsschriften folgten. Im Jahr 1937 erschien zudem ein Spielfilm, der die Ereignisse melodramatisch überhöhte und durch Erfindungen zusätzlich verdrehte. Die Nationalheldin "Marthe Richard" war geboren, und die Protagonistin übernahm die Rolle gern.
Ob Richard unter dem Vichy-Regime mit den Deutschen kollaborierte oder der Résistance angehörte, kann weder von Henry noch von Coquart eindeutig geklärt werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg präsentierte sie sich aber erfolgreich als Widerstandskämpferin und zog unter diesem Ticket in den Stadtrat von Paris ein - obwohl sie aufgrund ihrer Heirat mit dem Briten Thomas Crampton die französische Staatsangehörigkeit schon in den zwanziger Jahren verloren hatte. Bevor dies ans Tageslicht kam, lancierte sie in ihrer Rede vom 10. Dezember 1945 den Erlass, der wenig später die Schließung der staatlich lizenzierten Bordelle in ganz Frankreich nach sich zog. Doch sowohl Henry als auch Coquart sehen in Richard nur eine "Marionette", die von den Politikern des Mouvement républicain populaire (MRP) und den Abolitionisten instrumentalisiert wurde. Laut Coquart eignete sich Richard aufgrund ihres Prestiges vorzüglich für diese Rolle; die wohlfundierte Rede habe auf einer Textvorlage von Pierre Corval basiert, eines Vollblutpolitikers des christdemokratischen MRP und Experten in dieser Frage.
Bereits 1946 musste Richard den Stadtrat verlassen, die französische Staatsangehörigkeit erlangte sie nie zurück. Das Gesetz aber blieb eng mit ihrem Namen verknüpft und über Jahrzehnte diente sie seinen Gegnern als Zielscheibe für ihre Kritik. Noch im hohen Alter wurde sie von Journalisten aufs Glatteis geführt, was nicht schwer fiel, da sich Richard häufig in Widersprüchen verfing, ihre Ansichten änderte und sich in Interviews gegen die Pille, Abtreibung sowie sexuelle Freiheit aussprach. Ihrer Popularität tat dies keinen Abbruch, im Februar 1982 starb sie im Alter von 92 Jahren.
Vergleicht man die beiden Biografien miteinander, so muss man festhalten, dass die Darstellung Natacha Henrys einseitig ausfällt. Dass Richard ihre Lebensgeschichte verdreht und beschönigt hat, darin sind sich die Autorinnen einig. Henry aber macht ihre Skepsis zum System, erklärt Richard zur notorischen Lügnerin und dreht jede ihrer Aussagen ins Negative. Es liegt auf der Hand, dass Henry einen Mythos entzaubern will, doch sie tut dies größtenteils ohne Belege. An den entscheidenden Stellen fehlen die Fußnoten, Richards eigener Darstellung wird einfach widersprochen - bisweilen in einem selbstgefälligen, ironischen Tonfall. Umgekehrt stellt Henry haarsträubende Behauptungen in den Raum: War Richard lesbisch? Der Vater ein eifriger Besucher der maisons closes? Ist es nicht eigenartig, dass ihr zweiter Ehemann Thomas Crampton starb, nachdem er Richard ein Jahr zuvor in seinem Testament berücksichtigt hatte? Unwillkürlich wird der Leser so zum Parteigänger Richards, er will sie vor ihrer Biografin schützen.
Hauptquelle dieser engen Sichtweise scheint der Polizeibericht Jacques Delarues vom Januar 1953 zu sein, der häufig zitiert wird. Auch Elizabeth Coquart lag diese offenbar recht umfangreiche Akte vor, doch anders als Henry wägt sie den Quellenwert ab und stellt heraus, dass Delarue nicht nur Freunde im Zuhältermilieu hatte, sondern selbst einschlägige Literatur über Prostituierte verfasste. Coquart ist bewusst, dass sich Richard viele Feinde gemacht hatte, die es darauf anlegten, ihren Ruf zu ruinieren. Bestimmte Verdächtigungen (etwa im Fall Crampton) tut sie daher als ebenso haltlose wie üble Verleumdungen ab. Ihre Darstellung wird Marthe Richard eher gerecht, da sie die Komplexität ihres Charakters akzeptiert und keine apodiktischen Urteile fällt.
Letztlich fragt man sich jedoch nach der Lektüre beider Bücher erst recht: Wer war Richard? Zu zahlreich sind die Widersprüche zwischen ihren eigenen Erinnerungen und Interviews, der Darstellung Ladoux' und anderer Weggefährten, den Zeitungsberichten und Polizeiakten. Womöglich sollte man es halten wie der Historiker David Nye in seiner "Anti-Biografie" über Thomas A. Edison [1]: Darin porträtierte er den Erfinder mehrfach auf unterschiedliche Weise, unterstrich bewusst die Widersprüche, die sich aus dem Quellenmaterial ergaben und vermied somit die Illusion, ein Individuum als historische Einheit rekonstruieren zu können.
Anmerkung:
[1] Vgl. David E. Nye: The Invented Self. An anti-biography from documents of Thomas A. Edison, Odense 1983.
Malte König