Neil Morpeth: Thucydides' War. Accounting for the Faces of Conflict (= SPUDASMATA. Studien zur Klassischen Philologie und ihren Grenzgebieten; Bd. 112), Hildesheim: Olms 2006, XI + 348 S., ISBN 978-3-487-13256-3, EUR 49,80
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Horst Schneider: Kosmas Indikopleustes. Christliche Topographie. Textkritische Analysen. Übersetzung. Kommentar, Turnhout: Brepols 2010
George Coedès: Texts of Greek and Latin Authors on the Far East. I. Texts and Translations, Turnhout: Brepols 2010
Lukian: Der Tod des Peregrinos. Ein Scharlatan auf dem Scheiterhaufen. Hrsg., übers. und mit Beiträgen versehen von Peter Pilhofer, Manuel Baumbach, Jens Gerlach, Dirk Uwe Hansen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005
Zahlenangaben sind für Historiker ein wichtiges Mittel, um Fakten zu quantifizieren. Zahlenangaben verleihen historischen Berichten (gelegentlich auch scheinbare) Exaktheit und damit Glaubwürdigkeit. Zahlenangaben ermöglichen modernen Forschern aber auch, Aussagen der antiken Historiker zu überprüfen und das Geschehen (insbesondere die Maßnahmen der Militärs während der Kriegsereignisse) besser zu verstehen. Trotz ihrer Wichtigkeit sind antike Zahlenangaben bisher kaum für sich untersucht worden. Insofern ist Morpeths Buch, das sich besonders mit den Truppen- und Verlustzahlen bei Thukydides befasst, hoch willkommen.
Morpeths explizites Ziel ist es, "to cover the chase, the agón (the literal contest), namely, the extent, and the pursuit of war through the protagonist's commitment to battle of land and sea forces and their subsequent losses. The bulk of this work will concentrate directly upon the movements of force, their size, real and imagined, and qualitative and quantitative appreciations or ways in which one might better understand the movement, roles and tempo of battle of these combatant assemblies as reported by Thucydides" (2). Allerdings will Morpeth noch mehr leisten. Er nimmt für sich in Anspruch: "[...] this book [...] encourages the reader to seek after Thucydides the philosopher-historian, the pathologist of war. The ideas of teacher, teaching and identity are central here." (1). Dieser letzte Punkt überrascht, hat er doch mit dem ersten nur mittelbar zu tun. Wegen dieser doppelten Stoßrichtung ist das Buch auch ein merkwürdiger Zwitter geworden. In einer langen Introduction (1-56) betreibt Morpeth insbesondere "Ideengeschichte". So interpretiert er die Plataiai-Episode zu Beginn des 2. Buches von Thukydides' Werk - durchaus plausibel - als "microcosm of Thucydides' war" oder die Pestschilderung als Beispiel für die traumatischen Erlebnisse, die die griechische Bevölkerung während des Peloponnesischen Kriegs zu erleiden hatte. Erst im zweiten Teil (ab 57) wendet sich Morpeth nun tatsächlich den Zahlen im Werk des Thukydides zu. Der Großteil seines Buches besteht aus acht chronologisch angeordneten Tabellen: (1) Flottenstärke der Athener und ihrer Verbündeten; (2) Flottenstärke der Peloponnesier und ihrer Verbündeten; (3) Landtruppen der Athener und ihrer Verbündeten; (4) Landtruppen der Peloponnesier und ihrer Verbündeten; (5) Schiffsverluste der Athener und ihrer Verbündeten; (6) Schiffsverluste der Peloponnesier und ihrer Verbündeten; (7) Gefallene der Athener und ihrer Verbündeten und (8) Gefallene der Peloponnesier und ihrer Verbündeten. Zahlreiche "notes" kommentieren sämtliche bei Thukydides überlieferte Zahlenangaben und stellen vielfältige Bezüge zu den ständig sich wandelnden Truppenstärken, den politischen Zielen und militärischen Operationen der Jahre 433 bis 411 v. Chr. her. Zwei Appendices ordnen diese Angaben auch noch synoptisch. Bereits dieser Aufbau zeigt, dass es sich bei "Thucydides' War" nicht um ein homogenes Werk handelt. Unterschiedlich nützlich dürfte es auch dem Leser sein. Während der erste Teil als Beispiel für die Darstellungstechnik des Thukydides durchaus lesenswert ist und eine eigenständige Behandlung verdient hätte, kann der zweite Teil wohl nur zum Nachschlagen verwendet werden. Da Morpeths Buch ohnehin intime Kenntnisse des Werkes des Thukydides sowie der politischen, strategischen und taktischen Operationen voraussetzt, werden in erster Linie die Militärhistoriker davon profitieren.
Einige Bemerkungen seien noch angefügt. In dem ausführlichen Einzelstellenkommentar, der naturgemäß Vieles aus den Werken von Classen-Steupp, Gomme-Andrewes-Dover und Hornblower übernimmt, sind ein paar echte Perlen versteckt. In einem Vergleich zwischen Thukydides und Herodot erkennt Morpeth richtig, dass viele Zahlenangaben mit "myrioi" bei Herodot auch Sinn haben, die Größe und Übermächtigkeit des persischen Heeres herauszustellen. Gelungen sind auch seine Ausführungen zum "proportional reasoning" (z. B. "ein Großteil von ...", "fast ...") als Mittel der Lesererwartung und Leserlenkung. Gelegentlich bleibt Morpeth aber auch hinter den Ansprüchen der Benutzer (beispielsweise fehlen zum Schluss eine Zusammenfassung der vielen Detailergebnisse, ein Stellenregister sowie Sach- und Namensindices, was das Buch leider nur schwer benutzbar macht) sowie hinter seinen eigenen Ansprüchen (beispielsweise fehlen Bemerkungen zu den "gerundeten" Zahlen bei Thukydides oder überhaupt eine Analyse des Verhältnisses des Thukydides zu Zahlen und Rechenoperationen) zurück. Der Grund liegt auch darin, dass Morpeth trotz 28-seitiger Bibliographie nicht bei allen Fragestellung auf dem neuesten Stand ist. Es fehlen von den Standardwerken etwa Otto Luschnats RE-Artikel oder Eduard Schwartz' meisterhafte Thukydides-Studie, aus neuerer Zeit z. B. die Werke von Hartmut Leppin und Wolfgang Will. Selbst einschlägige Spezialwerke zu Heereszahlen (wie Eduard Meyer und Karl Julius Beloch) oder Aufsätze zu Rechenfehlern bei antiken Historikern (wie von Mabel Lang) sind nicht benutzt. Die Bibliografie enthält nur vier deutsche Titel (ein Schicksal, das auch die französische, spanische und italienische Forschung trifft), was doch angesichts der Tatsache, dass das Werk in einer deutschen Reihe erscheint, überrascht.
Es bleibt ein insgesamt positiver - aber eben nicht uneingeschränkt positiver - Gesamteindruck.
Klaus Geus