Veronika Thum: Die Zehn Gebote für die ungelehrten Leut'. Der Dekalog in der Graphik des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 136), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2006, 231 S., ISBN 978-3-422-06637-3, EUR 39,90
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Es ist Allgemeingut, dass seit Martin Luthers Sermon von Ablass und Gnade (1518) das Medium der Druckgrafik für sein Wirken in der noch von mündlicher Kommunikation geprägten Gesellschaft von immenser Bedeutung war. Dass Luther die Druckgrafik, von ihm als chalographia oder typographia bezeichnet, sogar als größtes und letztes von Gott gegebenes Geschenk beschreibt, durch das er die Sache [...] treibet, verdient jedoch besondere Beachtung. [1]
Einen wichtigen Bereich innerhalb der bebilderten druckgrafischen Werke nehmen die Darstellungen der zehn Gebote ein, denen sich Veronika Thum in ihrer Dissertation erstmals grundlegend widmet. Sie analysiert diese sowohl zeitlich als funktional auf breitem Raum: Beginnend mit der Inkunabelzeit über die "Reformation als Zäsur" endet sie mit Dekalogzyklen des 18. Jahrhunderts und schließt hierbei unterschiedliche druckgrafische Medien ein. Zur Genese der vorreformatorischen Zyklen werden zudem die nötigen Vergleiche aus Buch- und Tafelmalerei eingefügt. Dieses Vorgehen ist gerade bezüglich des noch immer nicht erschöpfend erbrachten kunsthistorischen Beitrags zu den bereits seit Jahrzehnten "ausgefochtenen" Konfessionalisierungsdebatte(n) der Geschichtswissenschaft unerlässlich [2]: Denn wie kann bei einer von protestantischer Seite initiierten Verbreitung einer Katechismusillustration das "typisch Reformatorische" analysiert werden, wenn zuvor nicht die spätmittelalterlichen Grundlagen, die für beide Konfessionen zwangsläufig das gemeinsame (!) kulturelle Archiv bedeuteten, aufgearbeitet werden und die religiöse "Gegenseite" ebenso untersucht wird. Beiden Aspekten kommt die vorliegende Arbeit nach. [3]
Als ein Exempel für die Relevanz des "überkonfessionellen Blicks" kann Lucas Cranachs d.Ä. Holzschnitt der "Heiligen Sippe" von um 1509 dienen (23), welchen Thum in einem Nachdruck aus dem Jahr 1518, nun versehen mit einem von Melanchthon verfassten Lied "mit welchem [...] die Kinder zur Schulen werden gefueret", abbildet und als "Idealfall einer Familienkatechese" interpretiert. Zu fragen wäre jedoch, ob die "Heilige Sippe" in vorreformatorischer Zeit und ohne hinzugefügten Subtext tatsächlich in dieser Weise zu lesen ist.
Dass die grafischen Zyklen des Dekalogs bislang von der kunsthistorischen Forschung übergangen wurden, erstaunt nur auf den ersten Blick. Generell war das Feld der "Massengrafik", der Grafik für das bislang noch immer nicht befriedigend definierte "breite Volk", von kunsthistorischer Seite gemieden und primär der Altgermanistik überlassen worden.
Unbestreitbar wurden die religiösen Holzschnitte und Kupferstiche gerade in den ersten Jahren der Konfessionsbildung in diversen Nachdrucken immer wieder aufgelegt. Oft von anonymen Künstlern ausgeführt und ob dieser Tatsache und ihrer häufigen Platzierung zwischen zwei Buchdeckeln und etlichen Seiten volkssprachlichen oder lateinischen Textes zu Unrecht gering beachtet. Zum einen sind sie bezüglich ihrer weiten Verbreitung und der damit verbundenen Relevanz bei der Formung des Bildgedächtnisses von großem Interesse, zum anderen bieten sie einen direkten Zugang zum Erinnerungsraum von Künstler und Rezipientenkreis - jenem gesellschaftlichen Gedächtnisraum, aus dem ausnahmslos auch Maler wie Rembrandt oder Rubens ihre alt- wie neutestamentlichen Themen schöpften.
Die Autorin beginnt mit einem einleitenden Kapitel, in welchem sie zunächst die unterschiedlichen biblischen Aussagen zum Dekalog vorstellt sowie die angesprochenen Adressaten erläutert. Adäquaten Raum nimmt auch die Untersuchung der unterschiedlichen katechistischen Texte ein. Thum unterscheidet hier zwischen Einzel-, Gemeinde- und Familienkatechese. Bereits im 13. Jahrhundert hatte der Dekalog einen festen Platz in der Katechese gefunden, wobei ihm zunächst häufig Tugend- und Lasterkataloge beigegeben wurden. Kanonisierte Katechismen finden sich jedoch erst in den Jahrzehnten der Konfessionsbildung, in denen Luther die Textfülle durch eine Konzentration auf das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser und die Zehn Gebote akzentuierte.
Die Wechselwirkung zwischen mündlicher Predigt und schriftlicher Anleitung wiederum für Predigtreihen oder für die Familienkatechese untersucht Thum in einem Unterabschnitt und bietet hierfür einen kurzen, wenn auch essenziellen Blick auf klerikale wie laikale Bildung sowie Moralkonzeptionen. [4] Im das Kapitel beschließenden Abschnitt zur christlichen Bilddidaxe wäre eine noch stärkere Konzentrierung auf gedruckte Katechismusillustrationen sinnvoll gewesen, da die didaktische Bildverwendung im Kirchenraum - stets wird auf die Gleichstellung von Text und Bild in den Serenus-Briefen Gregors des Großen verwiesen - an anderer Stelle weitaus ausführlicher untersucht worden und nur bedingt mit dem Medium Buch kompatibel ist. [5]
Im folgenden Kapitel, das der Chronologie folgend mit den frühesten, noch an illuminierte Vorbilder anknüpfenden Inkunabeln beginnt, werden die Dekalogzyklen anhand von ikonografischen Sujets, einzelnen Büchern oder ausführenden Künstlern analysiert. Da sich im 15. Jahrhundert nahezu in jeder Kirche Katechismusfresken befunden haben, ganz abgesehen von Dekalogfolgen in Gerichtsstuben oder auf Predigerkanzeln (39), wird die Relevanz einer gründlichen Untersuchung des Themas in der vorreformatorischen Zeit noch deutlicher. Diese zeichnet sich, wie Thum überzeugend darlegt, vielfach durch antithetische Gegenüberstellungen (Zehn Gebote - Zehn Plagen; Engel - Dämonen; Beichte - Ablass) aus. Der abschließende Abschnitt des Kapitels: Bild und Buch in der privaten Frömmigkeit (72-77) ist nicht ideal unter dem Oberthema "Ikonografie" erfasst, führt jedoch den vielfältigen Gebrauch der grafischen Kunst allgemein im laikalen häuslichen Bereich vor.
Eröffnungsstück des Kapitels zum "zäsurbildenden" reformatorischen Dekalog bildet die kurz vor dem Thesenanschlag ausgeführte 10-Gebote-Tafel Cranachs d.Ä., die Thum mit weiteren dekalogischen Illustrationen der Cranachwerkstatt ebenso vergleicht wie mit diversen weiteren Zyklen Baldung Griens oder Sebald Behams. Die entsprechenden illustrierten Texte, etwa der Katechismus Bucers, werden anhand von Text-Bild-Analysen untersucht. Im vorletzten Kapitel werden diese sowie Inhalt und Methodik ausgewählter Dekalogauslegungen nochmals an wichtigen Werken, etwa Moirs oder Schotts, exemplifiziert.
Neben den lutherisch-reformierten und den römisch-katholischen Katechismen wird im Kapitel "Konfessionalisierung" (108-147) auch ein Blick auf die niederländischen Dekalogbilder - etwa Maerten van Heemskercks - geworfen. Ausgewählte Beispiele des 17. bis 18. Jahrhunderts bezeugen die Kontinuität des ikonografischen Motivs, das hier keine Neuerungen aufweisen kann, abgesehen von einer narrativen oder allegorischen Überhöhung des Sujets. Konfessionelle Unterschiede - so konstatiert Thum (154) - "zeigen sich bei einzelnen Geboten, wobei das lutherische historische Bildprogramm für gegenreformatorische Werke übernommen wurde" - und nennt als Beispiel etwa die divergierende Visualisierung des Gottesdienstinterieurs des dritten Gebots.
Thums Abhandlung zum Dekalog ist eine wichtige und dringend benötigte Arbeit zu einem bislang kaum behandelten ikonografischen Sujet, die durch große Materialkenntnis und mit stetem Blick auf ikonologische Fragen wie Rezipient und Leserschaft sowie Erarbeiten der Dekalogauslegungen überzeugt. Ein strikter gegliedertes Inhaltsverzeichnis sowie vor allem ein umfassendes Register wären angesichts des Quellenmaterials hilfreich - das Fehlen desselben zwingt den Leser zum konzisen Studieren des gesamten Textes.
Vor rund 15 Monaten, kurz nach Drucklegung der Arbeit, wurde das DFG-Projekt "Luther-Drucke" der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel fertiggestellt. Diese verfügt über den weltweit größten Bestand (65%) zeitgenössischer Lutherdrucke wie Passionale, Katechismen oder Postillen, deren Grafiken nun online abrufbar sind. [6] Es ist zu hoffen, dass nach der verdienstvollen Arbeit von Veronika Thum nun weitere Forschungsarbeiten zur frühneuzeitlichen religiösen Druckgrafik für "die ungelehrten Leut'" entstehen werden.
Anmerkungen:
[1] M. Luther: WA Tischreden 2, 649, sowie 2, 523 und 1038. Vgl. hierzu auch A. König: Medienethik aus theologischer Perspektive. Medien und Protestantismus. Chancen, Risiken, Herausforderungen und Handlungskonzepte, Regensburg 2005, 52.
[2] Zur "Konfessionalisierung als ikonologische Kategorie" im Kirchenraum grundlegend T. Packeiser: Zum Austausch von Konfessionalisierungsforschung und Kunstgeschichte, in: Archiv für Reformationsgeschichte 93 (2002), 317-338 und aktuell: S. Wegmann / G. Wimböck: Konfessionen im Kirchenraum. Dimensionen des Sakralraums in der Frühen Neuzeit, Korb 2007.
[3] Die Notwendigkeit eines "überkonfessionellen" Blicks macht aktuell auch die Arbeit von S. Weber am Bach: Hans Baldung Grien (1484/85-1545). Marienbilder der Reformation, Regensburg 2006, deutlich, während das von der Forschung mit großer Resonanz bedachte Werk von J. L. Koerner: The Reformation of the Image, London 2004, in welchem die Genese des neuen protestantischen Bildes untersucht wird, eine Beleuchtung nicht nur der Zäsur, sondern vor allem auch der Kontituität des vorreformatorischen Abendmahlaltars bis zu Cranach vermissen lässt.
[4] Zur mittelalterlichen Katechese: U. Rehm: Bebilderte Vaterunser-Erklärungen des Mittelalters, Baden-Baden 1994.
[5] L. G. Duggan: Was art really the 'book of the illiterate'?, in: Word and Image 5 (1989), 227-251.
[6] Die Bilddatenbank erfasst sämtliche in der HAB befindlichen Lutherdrucke zwischen 1513 und 1546: http://diglib.hab.de/edoc/ed000007/start.htm.
Birgit Ulrike Münch