James Sheehan: Kontinent der Gewalt. Europas langer Weg zum Frieden. Aus dem Englischen von Martin Richter, München: C.H.Beck 2008, 315 S., 10 Abb., ISBN 978-3-406-56931-9, EUR 24,90
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Auch nach der Lektüre eines brillant geschriebenen Buches eines der bedeutendsten amerikanischen Historiker unserer Zeit bietet es sich an, seinen Inhalt von der Vermarktung her einzukreisen. In der deutschen Version klingt der "Kontinent der Gewalt" als Haupttitel an Mark Mazowers "Dark continent" (2000) an, deutet aber im Untertitel einen Wandel an: "Europas langer Weg zum Frieden". Nun ja, das wäre die internationale Entsprechung zu Winklers deutschem "langem Weg nach Westen". Wie kam das zustande? Das Titelbild erzählt es: Im April 1945 reichten sich in Torgau amerikanische und britische Soldaten die Hände, um (scheinbar) den gemeinsamen Sieg über Hitler-Deutschland zu begehen. Genau mit diesem Sieg der Anti-Hitler-Koalition 1945 hat Sheehans Buch gar nichts zu tun.
In Großbritannien: "The Monopoly of Violence. Why Europeans hate Going to War", illustriert diesen Titelslogan mit einem uniformierten, karree-artigen Reiteraufmarsch vs. Steine werfenden Menschen in Richtung auf mit Schilden bewehrten Soldaten heutzutage. Lautet die Aussage: zeremonielle Militärpromenade war früher und damals ja ganz schön; aber die Europäer haben immer größere Schwierigkeiten, das Gewaltmonopol gegen eigene oder fremde Bürger durchzusetzen? Auch das ist weit neben dem Argument des Stanfordprofessors. Dagegen gilt: Als das Buch Anfang 2008 in den USA erschien, hieß es: "Where Have all the Soldiers Gone? The Transformation of Modern Europe". Auf dem cover ein Foto: es stammt aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts und zeigt einige voranschreitende Männer, einer in Halb-Uniform mit Stiefeln noch unter dem Arm, zwei Kinder begleiten diese mit Pickelhaube. Es könnte die Mobilmachung anno 1914 im militaristischen Geiste sein.
Erst mit dieser ursprünglichen und ersten US-Version sind wir in der Tat beim Hauptthema des Autors: anfangs waren europäische Städte - so führt er aus - überall von großer Militärpräsenz und deren Repräsentationen besetzt. Einige wohlwollende Politiker und Publizisten rechneten vor, dass sich Krieg nicht mehr lohne. Das werde nur zum Abschlachten und zur vernunftwidrigen Ressourcenvernichtung führen. Sie hatten aber in den militarisierten Gesellschaften ihrer Zeit wenig Chancen, auch wenn die Gewalt selbst in dieser Zeit eher im kolonialen Kontext ausgeübt wurde und dann in den Kriegen vor und im Ersten Weltkrieg mit größter Heftigkeit nach "innen" umschlug. Am Ende des Jahrhunderts dagegen sind die Staaten nicht mehr um das Militär herum gebaut, sondern durchgängig zivile Anstalten geworden. Das sei weitgehend irreversibel. Gerade das unterscheide Europa von den USA, wie Sheehan, Robert Kagan (Europäer seien von der Venus...; der britische Titel von Sheehans Buch spielt damit) aufgreifend und zugleich positiv differenzierend, hervor hebt.
Was verursachte diesen tief greifenden Umbau europäischer Staaten? Zunächst einmal waren es die Weltkriege selbst und der "zwanzigjährige Waffenstillstand" zwischen ihnen. Dabei galt: Mussolini, Lenin und in besonderem Maße Hitler "verdankten ihren Erfolg dem Krieg" (141). Die Herausarbeitung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen in den einzelnen Staaten, warum es in Frankreich oder Großbritannien nicht Ähnliches wie in den künftig autoritär-faschistischen oder -kommunistischen Staaten gab, hätte man sich genauer vorstellen können. Aber durch diese politischen und gesellschaftlichen Erfahrungen von Not, Zerstörung und Gewalt war Krieg nach 1945 nachhaltig diskreditiert.
Ein zweiter Grund für den Wandel nach dem Zweiten Weltkrieg: Es war vor allem die Integration Westeuropas, die mit wirtschaftlicher, politischer und - man wird hinzufügen müssen: kultureller - Hilfe der USA seit den späten vierziger Jahren zustande kam. Das schuf, vom 'Sechsereuropa' ausgehend, ein Geflecht von gemeinsamen Interessen und einen Aufbau von wechselseitigem Vertrauen. "In der ersten Jahrhunderthälfte waren die Staaten Europas durch und für den Krieg geschaffen [...] In der zweiten Jahrhunderthälfte waren die Staaten durch und durch für den Frieden geschaffen [...] Somit kann die Europäische Union vielleicht einmal ein Superstaat werden - ein ziviler Superstaat -, aber keine Supermacht" (265f.).
Das stellt keine triumphalistische Sicht dar, sondern eine, die mit ambivalenter Bewertung für die Diagnose eines positiven Wandel des Gewaltkontinents plädiert, zugleich aber die Nebenwirkungen benennt: Europa kann in Konflikten der 1990er Jahre und so auch in der Zukunft nicht auf sich allein gestellt bleiben, braucht die USA. Es konsolidiert sich aber auch nicht auf die alte gewalttätige Art und Weise als Militärstaat(en). Die Frage nur (mit Robert Keohane): Wo werde künftig die Grenze zwischen westeuropäischer Friedenszone und eurasischer Konfliktzone verlaufen? Da erschrickt der Leser erstmals über soviel Geopolitik- es muss ja immerhin nicht gleich Karl Haushofer sein.
Sheehan gehörte bislang zu den am besten ausgewiesenen Historikern des europäischen 19. Jahrhunderts, zumal über die liberalen Komponenten. Aber sein 20. Jahrhundert weist ihn als Meister historischer, nur scheinbar leichter Narratio aus, der einen klaren Gedankengang immer wieder modifiziert, mit Anekdoten würzt und doch zum Hauptpunkt zurück kehrt. Über weite Strecken liest man das mit großem Vergnügen und Entdeckerfreude über treffende Zitate heutiger Fachkollegen, von früheren Politikern oder Schriftstellern, die den Nagel der Argumentation des Autors auf den Kopf treffen.
Es erfreut, dass Sheehan als hervorragender Deutschlandkenner viel davon aus diesem Lande nimmt. Thematisch betont er, wie zentral die deutsche Herausforderung für Europa in langen Zeiten über das 20. Jahrhunderts hinweg war. Dennoch beschreibt er keinen Sonderweg, zeigt auch, dass alle entsprechenden Befürchtungen der Nachbarn über ein neues deutsches militaristisches Erwachen nach 1945 nicht zutrafen. Vielmehr reiht Sheehan souverän einen tour d`horizon - etwa über Militärrepräsentation in allen europäischen Hauptstädten vor 1914 - an den nächsten. Die von Charles Tilly stammende Bemerkung: "Staaten machen Krieg und umgekehrt" (29) entsprach nach Sheehan einer weitgehend zutreffenden Diagnose für das allgemeine Bewusstsein der Europäer in der ersten Hälfte des Jahrhunderts.
Die Analyseebene dieses Großessays wechselt laufend. Überraschend viel Außenpolitik und internationale Beziehungen, ja ganz konventionelle Diplomatiegeschichte findet sich mit leichter Hand ausgebreitet und ins angemessene Licht gesetzt. Das erscheint als positiv. Daten und Anschauung über Militärapparate, Rüstungskosten und Menschenverluste werden kenntnisreich immer wieder eingestreut. Gesellschaftsumbau, soziale Systeme kommen gleichfalls gut integriert vor. Sheehan entwickelt gleichsam ein Verlaufsmodell mit gläserner Entwicklungsachse im Zentrum, während an der Peripherie, welche den Hauptteil seiner Narratio ausmacht, eine Fülle von Nebensträngen auch gegenläufiger Art benannt sind. Natürlich sind solche Akzente bestreitbar, im Blick hat der Autor sie allemal. Das gilt etwa für die "Pseudorevolution" von 1968 wie deren angebliche Gewalthaftigkeit - im Vergleich zu den großen Revolutionen des 19. Jahrhunderts bis hin zu den Bolschewiki war dies für ihn eher viel Lärm um nichts.
Damit kommen wir zur Kritik, die natürlich immer möglich und bis zu einem gewissen Grade wohlfeil ist. Die Bedeutung des bolschewistischen Modells wird mit der Rolle der Persönlichkeit wohl zu einfach auf einen Punkt gebracht: Lenin machte die Revolution auf seine Art, ein anderer kommunistischer Führer wie Gorbatschow konnte sie (gegen seine ursprüngliche Absicht) mit Hilfe seiner Machtposition auch wieder liquidieren. Der Zweite Weltkrieg und die zugleich militärisch-expansive und rassenideologische Seite des NS-Regimes werden benannt, aber dennoch in einem relativ schmalen Kapitel nur mit sehr groben Pinselstrichen umrissen. Die genozidalen Qualitäten, welche mehr als exzessiver Militarismus waren, werden weder auf ihre Quellen noch auf die Folgen hin befragt. Geschähe dies, dann könnten Sie noch anderes Gewicht erhalten, im europäischen oder weltweit zivilisatorischen Maßstab. Dass Stalin 1945 ganz Europa beherrschen wollte und nur durch taktisches Geschick daran gehindert wurde, würde ich bezweifeln. Der sehr viel freundlichere US-Entwurf für die Nachkriegsordnung wird dagegen mit demokratischem Pluralismus angemessener gestellt. Europäische Integration sieht Sheehan sehr stark als Ausbreitung eines ökonomisch und damit sozial erfolgreichen Modells, bei dem er Südeuropa und zumal die iberische Halbinsel in den 1980er Jahren besonders stark als Beweis für die Anziehungskraft des Modells herausstreicht. Ob das mit Osteuropa später so ähnlich verlief, also eine Art Ausweitung der (Kurt Schumacherschen) "Magnet-Theorie" zu verzeichnen wäre, hätte deutlicher gefragt werden können.
Beckmesserei ist vieles von dem Gesagten. Ich kenne kein anderes Buch, das zugleich so kenntnisreich mit historischer Differenzierung, auf breiter Belesenheit beruhend, Schneisen durch das 20. Jahrhundert in Europa schlägt und zugleich eine so freundliche Verlaufslinie zieht, wie dies Jim Sheehan tut. Dass diese Diagnose anschaulich und weitestgehend nachvollziehbar geschrieben wurde, sei hinzugefügt.
"Where have all the soldiers gone?" Dass der US-Titel von Pete Seeger und Joan Baez in den USA als gewiss ironisch gebrochene Anspielung auf die Protestbewegung um 1968 jenseits des Ozeans als Titel von Sheehans Buch noch funktioniert, ein deutscher Verlag sich aber weder an den englischen Titel noch an seine u.a. durch Marlene Dietrich ab 1962 populär gemachte deutsche Übersetzung auf dem Buchdeckel wagte, sagt dann auch wieder etwas aus über das in diesem Jahr 2008 begangene nostalgische Jubiläum der Veteranen in unserem Lande. Doch das ist ein anderes, ein weites Feld. Sheehan lesen, bringt jedenfalls weitere Erkenntnisse als manche aufgeregten oder feuilletonistischen Debatten unserer Tage, könnte diesen zu Tiefenschärfe verhelfen.
Jost Dülffer