Roger J. Crum / John T. Paoletti (eds.): Renaissance Florence. A Social History, Cambridge: Cambridge University Press 2006, xvii + 674 S., ISBN 978-0-521-84693-6, GBP 85,00
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John M. Najemy: A History of Florence, 1200-1575, Oxford: Blackwell 2006
Marzio Bernasconi: Il cuore irrequieto dei papi. Percezione e valutazione ideologica del nepotismo sulla base dei dibattiti curiali del XVII secolo, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004
Richard A. Goldthwaite: The Economy of Renaissance Florence, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2009
Das Florenz der Renaissance gehört zu den am dichtesten erforschten Gebieten der (Kunst-) Geschichtswissenschaften. Allein die Rezeptionsgeschichte dieses geradezu mystisch verklärten Gegenstandes bildet einen eigenen Forschungsbereich. Hierin liegt wohl auch der Grund dafür, dass kaum synthetisierende Darstellungen gewagt werden. Die wenigen brauchbaren Versuche stammen aus dem angloamerikanischen Bereich und sind nicht ins Deutsche übersetzt worden.
In einem Sammelband stellen nun die beiden profilierten US-amerikanischen Kunsthistoriker Roger Crum und John Paoletti den aktuellen Stand der englischsprachigen (Kunst-) Geschichtsschreibung zu "Renaissance Florence" zusammen. In neunzehn Aufsätzen von zwanzig Autoren werden unterschiedliche Aspekte beleuchtet. Zwar kündigt der Buchtitel eine Sozialgeschichte an, die Einleitung der beiden Herausgeber entwickelt aber ein raumsoziologisches Konzept. Im Rekurs auf den Raumbegriff Henri Lefèbvres beschreiben sie Raum als Ergebnis eines ideologisch strukturierten Produktionsprozesses. Der physikalische Raum (physical space) wird soziologisch überformt und mit mentalen Raumvorstellungen (mental space) identifiziert. Der gesellschaftliche Transformationsprozess der Renaissance zwischen 1300 und 1600 findet seine sichtbare Entsprechung in der räumlichen Bearbeitung (Fabrikation) der Stadt. Allerdings folgen nur wenige der Aufsätze konsistent dieser Konzeption, manche fördern dennoch bemerkenswerte Erkenntnisse zu Tage.
Das entworfene Programm gliedert sich in sechs Abschnitte, die systematisch nur lose verknüpft sind. Der erste Aufsatz des ersten Teils ("The Theater of Florence") von John M. Najemy führt die politische Entwicklung und die Gestaltung des städtischen Raumes markant zusammen und entspricht damit perfekt dem von Crum und Paoletti entwickelten Ansatz. Najemy zeichnet die räumliche Fragmentierung der Stadt im Hochmittelalter in "private spaces" durch die Familien der Elite und die raumgreifende Attacke des Regimes des popolo auf die magnatische Vorherrschaft nach. Im 15. Jahrhundert fand unter der neu formierten Führungsschicht mit ihren anmaßenden Palästen eine Reprivatisierung des "veröffentlichten" Raumes statt. Sharon Strocchia wendet sich der alltagshistorischen Dimension des rituellen Lebens zu. Innerhalb des Zusammenhangs von beweglichen Objekten bzw. Menschen im städtischen Raum und den Zuschauern erfuhren die Florentiner ihre räumliche Umgebung als anpassungsfähige Bühne, deren Gestaltung und Zeichen verändert und unterschiedlich genutzt werden konnten.
Im zweiten Teil ("Public Realm") nimmt sich Stephen J. Milner der Piazza della Signoria als "praktiziertem Ort" an, um die produktive Rolle der Teilnahme am öffentlichen Zeremoniell auf der ikonographisch aufgeladenen Piazza herauszustellen. Die Inszenierung auf dem wichtigsten kommunalen Platz, die städtebauliche und künstlerische Gestaltung der Piazza sowie ihre rituelle, rebellische und festliche Inanspruchnahme dienten als symbolische Textualisierung für die herrschaftliche Ordnung der urbanen Gesellschaft. Sarah Blake McHam beschäftigt sich mit der Darstellung der städtischen Geschichte in Herrschaftsmetaphern mit dem Fokus auf das Bildprogramm im Palazzo Vecchio. Der florentinische Regierungssitz erfuhr mehrfache Neuausstattungen, an deren Ende die bis heute gut erhaltene thematische Überformung unter Cosimo I. zum höfischen Bildprogramm steht. Philip Gavitt verweist auf den Zusammenhang von korporativer Stiftertätigkeit, Kunstpatronage und kommunaler Wohlfahrt. Die Aufstellung monumentaler Heiligenstatuen am Orsanmichele durch die Zünfte zu Beginn des 15. Jahrhunderts exemplifiziert den Übergang vom Vorrang der Laienfrömmigkeit und der Almosenverteilung zum Primat gemeinschaftlichen und bürgerlichen Repräsentationsbedürfnisses. David Rosenthal wendet sich den Potenze, Festkönigtümern, als Orten plebejischen Rituals zu: In Potenze wie der Città Rossa organisierten sich vor allem Mitglieder niedriger sozialer Schichten, um an religiösen Festen teilzunehmen und kollektiv spirituelle Identitäten etwa durch die Stiftung von Tabernakeln auszubilden sowie zu artikulieren. Adrienne Atwells behandelt rituelle Formen im Wollhandel: Im 14. Jahrhundert entwickelte die Wollzunft ein Empfangszeremoniell für auswärtige Wollkaufleute, die Vertreter der Zunft und offizielle Makler auf unterschiedlichen Routen, um sie unter die Obhut der Zunft zu integrieren.
Ein dritter Abschnitt widmet sich den Verwandten, Freunden und Nachbarn. Nicholas Eckstein beschreibt Nachbarschaft als gesellschaftliche Tiefenstruktur, deren Kultur fester Bestandteil der städtischen Identität war. Zudem fungierte der Ort der Nachbarschaft als räumlicher Rahmen, den Maler als Bühne für ihre Darstellungen aufgreifen konnten und der damit für Florentiner Betrachter besondere Plausibilität besaß. Michael Lingohr fokussiert Familienpalast und Villa als Orte patrizischer Selbstdarstellung. Der Patrizier-Palast entstand zu Beginn des 15. Jahrhunderts zur Präsentation der magnificentia seines Erbauers, bevor am Ende des Quattrocento ein Boom der Palastbauten einsetzte. Die beiden Herausgeber runden mit einem Beitrag über die häusliche Innenausstattung den Abschnitt ab: Die Pestepidemien und der steigende Wohlstand weiter Patrizier-Kreise erlaubte innerhalb des ausgedehnten Stadtmauerrings Erwerb und Gestaltung von Raum, wobei die Fassade die repräsentative Schnittstelle zwischen Straße und Innenwelt bildete.
Der kurze Abschnitt zu "Men and Women" versucht, dem Geschlechterverhältnis Gesicht zu verleihen. Wie Guido Ruggiero ausführt, war die Florentiner Gesellschaft vordergründig eine männliche Gemeinschaft: Die Diskursebenen von Freundschaft, Ehre und Genuss gehorchten männlicher Dominanz und prägten das Tugendkonzept (virtù). Natalie Tomas wendet sich weiblichen Räumen zu und verweist insbesondere auf die unterschiedliche rituelle Behandlung der beiden Geschlechter. Das weibliche Keuschheitsgebot gehörte zu dieser Separation, die allerdings vor allem Damen der Oberschicht traf, weniger Handwerkerfrauen, weil diese für die Textilproduktion unentbehrlich waren und sich daher auch durch den öffentlichen Raum bewegen mussten.
Zu Beginn des Abschnitts "Räume der Spiritualität" analysiert Robert Gaston Florentiner Kirchen. Dabei verweist er auf die Gestaltungsmacht über Patronatsrechte, Kapellen- und Kircheninnenraumausstattung, die von der Bewegung der Laienfrömmigkeit ausging. Jonathan Katz Nelson konzentriert sich auf Memorialkapellen als Ausdruck der Privatisierung und Transformation heiligen Raumes. Insbesondere in den Hauptkirchen der Mendikantenorden schufen privat finanzierte Pfründen Raum für architektonisch wirksame Dekoration im Spannungsfeld von Vorgaben der Orden und kompetitiven Familieninteressen. Peter F. Howard thematisiert die auratische Macht der Predigten: Performative Gesichtspunkte, die Prediger und Maler vergleichbar verwendeten, spielten eine konstitutive Rolle. Maler und Prediger konnten mit den Prinzipien der eleganten Form den Erwartungen ihres zahlungskräftigen Publikums entsprechen. Saundra Weddle etabliert mit ihrer Darstellung der florentinischen Konvente eine räumlich-rituelle Kategorie in der Kartographie der Stadt. Konvente motivierten soziale und politische Bindungen: Die Aufnahme von Geistlichen, die Selbstdarstellung in Predigten sowie die von ihnen betriebene Armenfürsorge stifteten städtische Identität und eröffneten zugleich ein gesondertes Feld patrizisch-merkantiler Patronage.
Der letzte Abschnitt "Across space and time" gilt der sozialgeschichtlichen Perspektive von kunsthistorischen Themenstellungen: Anabel Thomas beschäftigt sich mit der Künstlerwerkstatt als Ort der Begegnung und Schnittstelle zwischen Künstlern, Künstlergehilfen, Beratern und Kunstpatronen. Dabei konzentriert sie sich auf die Beispiele Neri di Biccis und seines Vaters sowie Michelangelos. Patricia Emison charakterisiert die Entwicklung der Replikationstechniken zwischen 1300 und 1600 als Signum der Epoche und als Grundbedingung für das Entstehen eines freien Kunstmarktes. Zunächst hatten Repliken vor allem die Funktion innerhalb einer stark visuell geprägten Kultur, die dem Vorgang der Imitation einen hohen Wert beimaß, für die Verbreitung von Formen und Themen zu sorgen sowie Florentiner Kunst als Exportartikel zu etablieren. Andrea Bolland widmet sich den Künstlern und der Bewertung ihres Schaffens zwischen Werkstatt und der Akademie. Von Alberti, für den die Kunst der Malerei vor allem die Züge einer Rhetorik trägt, bis Vasari steht die Malerei im Zentrum der Florentiner Kunst, die sowohl persönliches Ausdrucksmedium als auch Mittel der Internalisierung der Kunst anderer war.
Kein Zweifel: Die Qualität der Aufsätze ist durchgehend hoch. Allerdings verwundert doch, dass sich die hier angebotene historische Konzeption Renaissance-Florenz weitgehend politikfern darstellt und ökonomische Aspekte kaum zur Sprache kommen. Insofern fällt diese zusammenfassende Aufsatzsammlung gegenüber dem französischen Konkurrenzunternehmen "Florence et la Toscane, XIVe - XIXe siècles: Les dynamiques d'un État italien" (2004) ab. Die soziale Funktion von Netzwerken, die machtpolitische Realität von Patronagesystemen und die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Organisation des sozial definierten Raumes kommen kaum vor. Vergleiche werden nicht gezogen, die Transformation während eines tatsächlich langen Zeitraumes wird vorausgesetzt, weniger begründet. Geradezu erschreckend ist das Fehlen eines Stadtplanes, der den kartographischen Ansatz im Überblick hätte darstellen können. Die gut ausgewählten Abbildungen sind leider nur schwarz-weiß gehalten (bei einem Neupreis des Buches von 150 Euro unverständlich, daher ist die Paperback-Ausgabe zu empfehlen). Das Gesamtliteraturverzeichnis und das Register hinterlassen einen positiven Eindruck, eine Zeitleiste oder andere tabellarische Instrumente wären zusätzlich hilfreich gewesen. Die vorliegende Ausatzsammlung ist dennoch auf jeden Fall lesenswert.
Heinrich Lang