Rezension über:

Josine H. Blok / André P. M. H. Lardinois (eds.): Solon of Athens. New Historical and Philological Approaches (= Mnemosyne. Supplementa; Vol. 272), Leiden / Boston: Brill 2006, xi + 476 S., ISBN 978-90-04-14954-0, EUR 149,00
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Rezension von:
Winfried Schmitz
Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Winfried Schmitz: Rezension von: Josine H. Blok / André P. M. H. Lardinois (eds.): Solon of Athens. New Historical and Philological Approaches, Leiden / Boston: Brill 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 7/8 [15.07.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/07/11365.html


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Josine H. Blok / André P. M. H. Lardinois (eds.): Solon of Athens

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Neue Forschungsergebnisse zu Solon erreichen zu wollen, wird durch die unsichere und knappe Quellenbasis erschwert. So sind in vielen Fragen noch keine Lösungen gefunden, die auf allgemeine Akzeptanz gestoßen sind. Wo liegen die Ursachen der wirtschaftlichen Krise und der sozialen Konflikte, die Athen an den Rand eines Bürgerkriegs geführt haben? Gehört Solons Reformwerk in die Zeit um 600 v. Chr. oder müssen zumindest einzelne Bestandteile Jahrzehnte später datiert werden? Welche Gesetze sind als echt anzuerkennen, welche beruhen auf späteren Änderungen oder anekdotischen Ausschmückungen? In letzter Zeit hatten wegen dieser vielen ungelösten Fragen andere Gesetzgeber und die inschriftlichen Gesetzestexte im Vordergrund gestanden. Gegenwärtig ist indes ein neues Interesse an Solon zu verzeichnen.[1]

Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer 2003 an der Universität Nijmegen veranstalteten Tagung, auf der der Stand der philologischen und historischen Forschung aufgezeigt und nach neuen Ansätzen gesucht wurde. Die ersten sechs Kapitel sind den solonischen Elegien, die folgenden sechs dem Gesetzgeber Solon, die letzten sechs den Reformen gewidmet. Der zweite und der dritte Teil sollen aufgrund ihrer historischen Ausrichtung Gegenstand der vorliegenden Besprechung sein.

Der Sammelband gibt die unterschiedlichen Richtungen in der Solon-Forschung und die grundsätzliche Problematik angemessen wieder: Einige Autoren treten für die prinzipielle Glaubwürdigkeit der Überlieferung ein und suchen nach einer plausiblen historischen Kontextualisierung. Andere entwerfen neue Modelle oder datieren einzelne Maßnahmen in spätere Zeit.

Zur ersten Gruppe von Beiträgen, die die solonischen Bestattungsgesetze in einem breit angelegten Vergleich aus dem Kontext von Luxusbeschränkungsgesetzen herauslöst, gehört der von J. H. Blok (197-247). Nicht soziale Spannungen oder antiaristokratische Tendenzen hätten zur Verschriftung solcher Gesetze geführt, sondern religiöse Beweggründe: Das Verhältnis zwischen Verstorbenen und Überlebenden sollte neu geregelt, eine Befleckung vermieden und Bestattungen vom zunehmend öffentlichen Raum der Polis klar abgegrenzt werden. P. J. Rhodes (248-260) bekräftigt eine optimistische Sicht in Hinblick auf die Quellen: Der Nachweis, dass einige Gesetze nicht solonischen Ursprungs sind, beweise nicht, dass die Gesetzestafeln in klassischer Zeit nicht mehr verfügbar waren. Rhodes sieht auch keine Notwendigkeit, Solon die Einrichtung des Rats der 400, der Schatzungsklassen, der Heliaia und der Popularklage abzusprechen. Sieht man die Popularklage in der Tradition bäuerlicher Rügebräuche [2], spricht nichts gegen eine frühe Datierung dieses Verfahrens. Auf derselben Linie liegt der Beitrag von M. Gagarin (261-275), der aus den Testimonien und Fragmenten der solonischen Gesetze verfahrensrechtliche Prozeduren herausarbeitet. Diese mussten sich entscheidend darauf auswirken, ob die neuen rechtlichen Möglichkeiten wahrgenommen wurden. Solon habe damit den Weg Athens in eine demokratische Gesellschaft geebnet. H.-J. Gehrke (276-289) plädiert angesichts der bis in sprachliche Eigenheiten hinein zu belegenden Übereinstimmungen, die die Darstellung der solonischen Reformen in der Politik des Aristoteles und in der aristotelischen Athenaion politeia aufweist, dafür, dass beide Werke vom gleichen Autor stammen. Die Abweichungen könnten auf einen unterschiedlichen Grad an Detailreichtum und anders ausgerichtete Akzentsetzungen zurückgeführt werden. Quellenfragen stehen auch bei dem Beitrag von L. de Blois (429-440) im Vordergrund. Er zeigt auf, wie stark das Bild Solons in der Vita des Plutarch von dessen Vorstellungen eines idealen Politikers geprägt ist.

Ob sich die in diesem Band vorgestellten grundlegenden Neuinterpretationen durchsetzen werden, scheint mir zweifelhaft. A. Scafuro (175-196) versucht, aufgrund der inhaltlichen Nähe zu anderen solonischen Gesetzen plausibel zu machen, dass die Bestimmung auf Solon zurückgeht, die Archonten sollten sich um Witwen und Waisen, Erbtöchter und Häuser ohne Erben kümmern. Dies muss mangels weiterer Belege unsicher bleiben. Sie plädiert auch dafür, dass das in [Demosth.] 43,54 eingelegte Gesetz aufgrund ähnlicher in solonischen Gesetzen behandelter Rechtsmaterien solonisch sei. Trifft dies zu, müsste es bereits in dieser frühen Zeit ein rechtlich verbindliches Mitgiftsystem gegeben haben, was angesichts des Gesetzes, dass Frauen nur drei Gewänder und Gegenstände von geringem Wert mit in die Ehe nehmen konnten (Plutarch Solon 20,6), wenig wahrscheinlich ist.

S. Forsdyke und J. Bintliff versuchen aus den Ergebnissen archäologischer Surveys neue Ansatzpunkte für eine Klärung der umstrittenen wirtschaftlichen Fragen und der Ursachen der sozioökonomischen Krise um 600 zu gewinnen. Nach J. Bintliff (321-333) legen die Survey-Ergebnisse eine grundsätzliche Neubewertung der sozialen Gliederung der athenischen Gesellschaft nahe. Die von Aristoteles behauptete Konzentration des attischen Landes in den Händen weniger sei nur plausibel, wenn mit den agathoí die soziale Elite und die Bauernschaft gemeint sei, mit den kakoí allein die Theten. Ich halte es jedoch für wenig plausibel, dass in erster Linie Besitzlose von der Schuldknechtschaft betroffen gewesen sein sollen. Konnten sie überhaupt Darlehen aufnehmen, wenn sie keine Sicherheit in Form von Land bieten konnten? Plausibler ist demgegenüber das Bild, das S. Forsdyke (334-350) von der athenischen Wirtschaft um 600 zeichnet. Ein Anstieg der Bevölkerung sei zwar vorauszusetzen, doch eine daraus resultierende Intensivierung der landwirtschaftlichen Nutzung und eine Marktorientierung bei der Elite sei nur als langfristiger Prozess zu verstehen, der erst im späten 6. Jahrhundert begonnen habe. Die Agrarkrise habe ihre Ursache in einem veränderten Verhalten der Elite, die stärker von einem Profitstreben geleitet gewesen sei. Mit Recht wendet sich Forsdyke gegen die These von V. D. Hanson, der bereits in den homerischen Epen Ansätze zu einer new economy in Form von Einzelhöfen sah.

H. van Wees' Beitrag (351-389) zielt in eine ähnliche Richtung wie der von J. Bintliff. Angesichts der für die timokratische Ordnung zugrunde gelegten Erntemengen müssten die mittleren Bauern, die als Zeugiten über ein Ochsengespann verfügten, der leisured elite angehört haben. Damit erhielt die solonische Ordnung einen wesentlich aristokratischeren Anstrich. Allerdings verträgt sich dieses Modell nicht mit den aus den Erga kai hemerai Hesiods zu erschließenden Bedingungen bäuerlichen Lebens. Schwer verständlich wäre unter dieser Voraussetzung auch, wie es dieser breiten Schicht von Theten - van Wees schätzt sie auf 80-90 % der Bevölkerung - gelungen wäre, langfristig ihren Lebensunterhalt zu sichern, zumal es nachweislich nicht zu einer Neuaufteilung des Bodens gekommen war. Auch K. Raaflaub (390-428) setzt bei dem Problem an, dass die von Plutarch überlieferten Erntemengen der timokratischen Ordnung nicht mit den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen der Zeit um 600 v. Chr. vereinbar seien. Er greift auf eine Erklärung von de Ste. Croix zurück, wonach die Schatzungsklassen zunächst allein militärisch definiert waren und erst zwischen 462 und 450 auf Einkommensgrenzen umgestellt wurden, was sich schnell als nicht praktikabel herausgestellt habe. Dagegen ist einzuwenden, dass im 5. Jahrhundert die Einführung einer allein nach landwirtschaftlichen Erträgen bemessenen Einteilung wenig überzeugend ist. Plausibler ist es, eine veränderte Bestellung der Magistrate, die Einrichtung neuer politischer Institutionen und die Einführung der Schatzungsklassen im Zusammenhang zu sehen. In der Grundtendenz scheint mir daher der Ansatz von Hans van Wees überzeugender, der die timokratische Ordnung Solon zuschreibt und von einer schrittweisen Entwicklung ausgeht, bei der die Schatzungsklassen nach und nach ihre Funktionen einbüßten.[3]

In einer weit ausgreifenden Weise resümiert der Band den Forschungsstand zu Solon und zu den politischen, sozialen, wirtschaftlichen und literarischen Bedingungen Athens um 600 v. Chr. und stellt neue Modelle zur Diskussion. So begrüßenswert dies ist, so zeigt das Buch doch auch, dass die problematische Quellensituation einer gesicherten Erkenntnis Grenzen setzt und wie schwer es ist, auf seit langem umstrittene Fragen verbindliche Lösungen zu finden. Daher bleibt die Schwierigkeit bestehen, sich aus dem durch die Quellen begrenzten Interpretationsrahmen zu lösen. Die neuen Modelle, die J. Bintliff, H. van Wees, K. Raaflaub und J. Ober in ihren Beiträgen entwerfen, sind angesichts der schmalen Quellenbasis zwar grundsätzlich nicht auszuschließen, stoßen aber auf Schwierigkeiten, die sie als wenig plausibel erscheinen lassen.


Anmerkungen:

[1] Christoph Mülke: Solons politische Elegien und Iamben. Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar, München 2002; Elizabeth Irwin: Solon and Early Greek Poetry. The Politics of Exhortation, Cambridge 2005.

[2] Winfried Schmitz: Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft in archaischer und klassischer Zeit, Berlin 2004, 233-248.

[3] So auch Winfried Schmitz: Reiche und Gleiche. Timokratische Gliederung und demokratische Gleichheit der athenischen Bürger im 4. Jh. v. Chr., in: Die athenische Demokratie im 4. Jh. v. Chr., hg. von Walter Eder, Stuttgart 1995, 573-597.

Winfried Schmitz