Maren Lorenz: Das Rad der Gewalt. Militär und Zivilbevölkerung in Norddeutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg (1650-1700), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, VIII + 434 S., ISBN 978-3-412-11606-4, EUR 57,90
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Maren Lorenz' Hamburger Habilitationsschrift verdient ohne jeden Zweifel das Prädikat einer Pionierstudie: Indem sie sich den gewalttätigen Konflikten zwischen Soldaten und ziviler Bevölkerung in den zu Schweden gehörenden Reichsterritorien Bremen-Verden und Vorpommern/Wismar in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zuwendet, gelingt es ihr, den angesichts einer Reihe neuerer Forschungen in den letzten Jahren immer deutlicher zutage tretenden 'weißen Fleck' zwischen dem von exzessiver Gewalt gegen die Zivilbevölkerung geprägten Dreißigjährigen Krieg auf der einen und der (vermeintlich) 'gezähmten bellona' des 18. Jahrhunderts auf der anderen Seite erstmals mit empirisch abgesicherten, auf ausgedehnten Quellenstudien zu einem größeren Gebiet basierenden Erkenntnissen zu füllen. Dass Lorenz dafür in breitem Umfang auf Militärgerichtsakten zurückgreift und so nebenher einen Beitrag zu einem bislang von der Frühneuzeitforschung noch kaum entdeckten Thema leistet, unterstreicht den innovativen Charakter der Arbeit ebenso wie die Verbindung von Gender- und soziologischer Gewalttheorie mit dem Bourdieuschen Habituskonzept zu einer geschlechtergeschichtlich und praxeologisch fundierten "Kulturgeschichte der Gewalt" (11).
Die ersten beiden Kapitel schildern die militärische Belastung und die Organisation von Militärverwaltung und -justiz in den beiden Territorien. Diese waren durch ihre geostrategische Lage im Kontext der heute weitgehend vergessenen Kriege, die den Nord(ost)en des Reiches und seine Bevölkerung zwischen dem Ende des Dreißigjährigen und dem Beginn des Großen Nordischen Krieges mit kaum nachlassender Intensität in Mitleidenschaft zogen, mit einer schwedischen Militärpräsenz konfrontiert, die einer Besatzungsherrschaft gleichkam (und von der Bevölkerung auch so wahrgenommen wurde): In den großen Festungsstädten wie Stade und Stettin überstieg die Zahl der Soldaten zeitweilig sogar die der Einwohner, was enorme Einquartierungslasten bedeutete; hinzu kamen Truppendurchzüge und vorübergehende Besetzungen durch Militär anderer Mächte. Dies führte zu einer Reihe von Konflikten und gewaltsamen Übergriffen, die oftmals Anlass für Beschwerden oder gerichtliche Untersuchungen gaben und so aktenkundig wurden.
Im Mittelpunkt der Quellenanalysen steht die in diesen Konflikten von beiden Seiten eingesetzte physische Gewalt, die in der ganz überwiegenden Mehrheit freilich von den Militärs ausging. Lorenz zeichnet zunächst Situationen und Konstellationen von Gewalt nach, um charakteristische Handlungsmuster zu gewinnen sowie vor allem auch soziale Dynamiken und Eskalationsmechanismen sichtbar zu machen. Dabei zeigt sich, dass militärische Gewalt gegen die Zivilbevölkerung zum großen Teil systemisch bzw. funktional, d.h. durch die Erfordernisse der militärischen Versorgung und die Konkurrenz um alltägliche materielle Ressourcen bedingt war. Sie kam daher meist im Zuge von Einquartierungen, Requirierungen, Zwangsrekrutierungen und der 'Exekution' von Kontributionsforderungen zum Einsatz, was oft genug Gegengewalt seitens der betroffenen Zivilbevölkerung hervorrief, die Lorenz unter "Widerstand und Rache" subsumiert. Die Heftigkeit der militärischen Übergriffe sieht sie dagegen ebenso wie sexualisierte Gewalt vor allem in den Identitätskonstruktionen und Handlungsorientierungen einer auf Gewaltausübung und -erfahrung basierenden Männergesellschaft begründet, die sich auch in innermilitärischen Gewaltkonflikten wie Schlägereien und Duellen zeigten und entsprechende Deutungs- und Legitimationskonzeptionen (männliche bzw. soldatische Ehre, Alkoholeinfluss) generierten, die nicht selten auch vor Gericht Gehör fanden.
Neben den zur weiteren Diskussion wie auch zu vergleichenden Untersuchungen anregenden Analysen besteht der Ertrag der Arbeit nicht zuletzt darin, dass diese mit einigen hartnäckigen bzw. liebgewordenen Klischees aufräumt. So argumentiert Lorenz überzeugend, dass seitens der Bevölkerung nicht nur 'offene' Kriegshandlungen, die ohnehin eher die Ausnahme darstellten, sondern ebenso die durch Rüstungen, Truppenwerbungen und -entlassungen bestimmten Vor- und Nachkriegszeiten als Krieg erlebt wurden und der Friedensschluss von 1648 somit aus dieser Perspektive keine merkliche Zäsur darstellte. Zugleich kann von einer 'Zivilisierung' des Krieges zumindest vor dem Ende des 17. Jahrhunderts nicht die Rede sein. Wenn es eine solche also überhaupt gegeben haben sollte, war sie jedenfalls nicht, wie häufig zu lesen, die unmittelbare Folge der stehenden Heere und des damit in Verbindung gebrachten staatlichen Gewaltmonopols. Durch die Fokussierung auf physische Gewalt und ihre Handlungskontexte tragen Lorenz' Ergebnisse schließlich dazu bei, die bis in jüngere Arbeiten hinein zu findende Stilisierung der Einzigartigkeit des Dreißigjährigen Krieges hinsichtlich der vorgefallenen Grausamkeiten zu relativieren; zugleich werfen ihre detaillierten Analysen ein neues Licht auf die sozialen Dynamiken von Gewalt auch im Dreißigjährigen Krieg.
Als problematisch erweist sich der eng an gegenwartsbezogenen Fragestellungen orientierte gewalttheoretische Ansatz allerdings, wenn es um weiterreichende Schlussfolgerungen hinsichtlich des Verhältnisses von militärischer und ziviler Welt in der Frühen Neuzeit und um die Einordnung der Analysen in übergeordnete geschichtswissenschaftliche Fragestellungen und Forschungsdiskussionen geht. So verweist Lorenz selbst wiederholt darauf, dass es zahlreiche friedliche Berührungspunkte wie Hochzeiten, Patenschaften usw. zwischen Soldaten und Einwohnern gegeben habe, ohne dies jedoch bei der abschließenden Bewertung ihrer Befunde zu berücksichtigen. Auch der fast schon stereotype Hinweis auf Vollzugsdefizite 'staatlicher' Behörden, insbesondere der Militärgerichtsbarkeit (108f.), greift zu kurz, wenn diese nicht in den strukturellen Bedingungen einer ständisch geprägten Herrschaftsform mit ihren weitgehend autonomen Institutionen und gegenläufigen politischen Interessenlagen situiert, sondern ausschließlich dem Unwillen der adligen Offiziere und hohen Beamten angelastet werden (114, 334). Beschwerden der Bevölkerung schließlich überwiegend als Ausdruck der Machtlosigkeit zu werten (55, 112f.), entspricht zwar der Einschätzung, dass die öffentliche Aufklärung der Bauern über ihre Rechte gegenüber dem Militär "mehr symbolischen denn faktischen Charakter gehabt" habe (114); beides heißt aber wohl den Stellenwert gewohnheitsrechtlicher bzw. symbolischer Kommunikationsformen für die politische Kultur der Vormoderne ebenso zu unterschätzen wie deren Beharren auf Recht- und Verfahrensmäßigkeit.
Der fortwährende Rekurs auf Gegenwartsprobleme endlich wird spätestens dann fragwürdig, wenn er, wie gleich im ersten Satz, zu einer Gleichsetzung des mittel- und nordeuropäischen 17. Jahrhunderts mit dem heutigen Nahen Osten und "weiten Teilen Afrikas" führt - vor allem wenn man wie Lorenz davon ausgeht, dass sich Realität durch Bilder konstituiert, "die verschiedene gesellschaftliche Gruppen voneinander und sich selbst besitzen" (4), die aber in Sadr City doch fraglos andere sein dürften als im Stade der Schwedenzeit. Im schlimmeren Fall mündet dies in ahistorische Tautologien: "Besonders augenfällig wird der Zusammenhang zwischen frühneuzeitlichen und modernen Kriegern, wenn man sich mit der Frage befasst, warum die aktuelle Soziologie männliche Jugendliche mit besonders patriarchalem Immigrationshintergrund [...] 'Krieger' oder 'Söldner' nennt - für deutsche Neonazis wird alternativ der 'Landser' präferiert." (12) Nach Meinung des Rezensenten jedenfalls zeigt dies nichts anderes, als dass auch die Soziologie sich bei der Wahl ihrer Metaphorik diffuser und obendrein höchst klischeehafter historischer Vorstellungen bedient, denen gerade eine engagierte, auf der Gegenwartsrelevanz ihrer Ergebnisse bestehende Geschichtswissenschaft, wie Lorenz sie betreibt, die Komplexität und Singularität (im Sinne einer unhintergehbaren Historizität) der Vergangenheit entgegenhalten müsste.
Markus Meumann