Rezension über:

Marko Kreutzmann: Zwischen ständischer und bürgerlicher Lebenswelt. Adel in Sachsen-Weimar-Eisenach 1770 bis 1830 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe; Bd. 23), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, VIII + 502 S., ISBN 978-3-412-20031-2, EUR 59,90
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Rezension von:
Silke Marburg
Technische Universität, Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Silke Marburg: Rezension von: Marko Kreutzmann: Zwischen ständischer und bürgerlicher Lebenswelt. Adel in Sachsen-Weimar-Eisenach 1770 bis 1830, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 7/8 [15.07.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/07/13389.html


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Marko Kreutzmann: Zwischen ständischer und bürgerlicher Lebenswelt

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Der Adel in Sachsen-Weimar-Eisenach gehörte auch im 18. und 19. Jahrhundert seinem Selbstverständnis nach zum "sächsischen" Adel. Dies weist auf eine die Vielfalt der wettinisch beherrschten Mittel- und Kleinstaaten übergreifende Erinnerungskultur des Adels hin. Das vorliegende Buch schneidet seinen Untersuchungsradius über einen Kleinstaat dieser Adelslandschaft zu und setzt sich zum Ziel, den dortigen Adel in seiner sozialen Transformation zur Moderne hin zu beobachten. Im Kontext des Sonderforschungsbereichs "Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800" scheint diese Thematik günstig, weil interdisziplinär und neben Studien zu Bürgertum und Monarch in Sachsen-Weimar-Eisenach positioniert. Der Autor schließt sich dabei jener sozialhistorischen Forschungstradition an, die den Adel in einem dualen historischen Antagonismus mit dem Bürgertum begreift und Adelsgeschichte als eine elitenfokussierte Adel-Bürgertums-Geschichte schreibt.

Die Einleitung ordnet die Studie in die Forschungsgeschichte ein und bekennt sich methodisch zu einem familienbiografischen Ansatz, der durch den Einbezug gesellschaftsgeschichtlicher und lebensweltbezogener Fragen eine Überprüfung makrohistorischer Deutungsmuster anstrebt. Zu diesem Zweck nimmt der Autor zwei Adelsfamilien über vier Generationen hinweg in einen kollektivbiografischen Blick und wählt dafür Familien aus, die er in "eine[r] zentrale[n] Position im politischen und sozialen Gefüge des 'Ereignisraumes' Weimar-Jena um 1800" sieht (17). Allerdings rang die Familie von Fritsch, die auf einen 1730 nobilitierten Leipziger Buchhändler zurückging, nachweislich noch über mehrere Generationen um die Integration in den Adel. Und die andere Beispielfamilie, von Ziegesar, war erst um 1750 aus dem Brandenburgischen ins Thüringische eingewandert. Adelsfamilien, die in der Region bereits seit Langem vertreten waren und daher weit eher exemplarisch für den hiesigen Adel stehen könnten, erscheinen allenfalls im Hintergrund der Untersuchung.

Kreutzmann zeichnet die einzelnen Biografien nach, stellt Erhebungen zum Konnubium, zu den Patenschaftsbeziehungen sowie zu den Bildungswegen der Einzelnen an. Der Leser erfährt, wie sich die Adligen an Geselligkeit und Vereinswesen beteiligten, wie sie sich beruflich bei Hof, in der Verwaltung und auf dem Rittergut betätigten und wie sie auf dem bewegten politischen Feld jener Zeit agierten. Damit wird eine ganze Reihe der klassischen adelshistoriografischen Themen bedient.

Dabei kann sich der Autor bei beiden Familien auf eine vorliegende Familiengeschichte stützen. Der Vorteil solcher Vorarbeiten - der schnelle Zugang zum personellen Setting einer "Gesamtfamilie" - wird hier durch den Nachteil überwogen, dass der Leser Vieles aus diesen Familiengeschichten (ebenso wie aus den Ego-Dokumenten) überraschend distanzlos in der Darstellung wiederfindet. Als Beispiel dafür verfolge man den Strang der Erzählung über Sylvie von Ziegesar, eine der Angebeteten Johann Wolfgang von Goethes oder prüfe, wie überzeugend man die Motivation für den Zulauf adliger Frauen zu karitativen Vereinen durch die Selbstaussage beschrieben findet, dass "nur ein thätiges, wo nicht ein gemeinnütziges Leben die Kraft [habe] unsere Gedanken von dem Gegenstand schmerzlichster Trauer wegzuwenden" und so eine von diversen Todesfällen betroffene Frau zu trösten (162). Immer wieder liest man Besoldungshöhen, ohne dass ihnen ein Vergleichsmaßstab beigegeben wäre. Unsicherheit in der Quellenbewertung scheint ebenso auf, wenn die Ausführungen Carl Wilhelm Freiherr von Fritschs über die historische Unabgeschlossenheit des Adels zitiert werden. Denn wenn Fritsch Adligkeit ganz ins Zeichen des Verdienstes stellte (272-275), dann ist dies wohl eher als Selbstlegitimation eines adligen homo novus zu verstehen denn als adäquate Zeitdiagnose für den Weimarer Hof.

Insgesamt gelangt Kreutzmann zu einem plastischen Bild intensiver adlig-bürgerlicher Interferenz insbesondere in den Bereichen von Bildung, Geselligkeit, Vereinswesen und Bürokratie und konstatiert, dass seine Probanden "der Herausbildung einer neuen bürgerlichen Welt und deren Werten mit einer erstaunlich großen Offenheit gegenüber" standen (428). Ob die Befunde für den "eingesessenen" alten Adel der Region ebenso ausfallen würden, muss als offen angesehen werden.

Eine adelsgeschichtliche Studie kann sich mittlerweile eines interessanten Angebots von Deutungsschemata bedienen, um Veränderungen zu beschreiben, die der Adel im Rahmen eines allgemeinen und tief greifenden gesellschaftlichen Wandels erlebte und gestaltete. Und Kreutzmann sucht auch explizit eine Position im Verhältnis zu solchen Marksteinen der deutenden Adelshistoriografie wie Heinz Reifs Werk über den Westfälischen Adel [1] und dem neueren Buch über den Adel im Königreich Sachsen von Josef Matzerath. [2] Die Frage, ob, wie und wo Adeligkeit im Verlauf der Epoche jeweils zu gesellschaftlicher Geltung kam, vermag ihn allerdings nicht zu interessieren. Alternativ dazu wählt er den Fokus, in dem der Adel als durch und durch strategisch planender Akteur bei der gesellschaftlichen Umwälzung erscheint (10). Gerade diese Entscheidung führt zum Schluss der Untersuchung allerdings zu einer Deutungsnot, die die Zusammenfassung symptomatisch durch die Anführungszeichen vermittelt, in denen der Terminus "'bürgerlich'" hier wiederholt erscheint. [3] Denn was von all dem Referierten nun als genuin bürgerlich oder als adlig zu bewerten wäre, das kann der Autor nicht mehr klären angesichts der überzeugend entworfenen sozialen Interferenzlagen zwischen Adligen und Bürgerlichen und der aufgezeigten "überständischen" Momente und Diskurse. Dass Kreutzmann in der Einleitung eine salomonische Definition für jenes Anführungszeichen-"'bürgerlich'" formuliert hat - "also nicht mehr von den gewohnten Mechanismen reguliert, sondern neuen Prinzipien unterworfen" (22) - erscheint als begriffliche Öffnung tendenziell sinnvoll, hilft ihm aber bei der Überprüfung der Thesen der traditionellen Sozialgeschichte natürlich nicht weiter. Die "Liebesheirat" oder das "Leistungsprinzip" dem Bürgertum zuschreiben, das wagt Kreutzmann eigentlich nicht mehr - mit Anführungszeichen tut er es dennoch. Konsequenterweise hätte dann wohl auch die "bürgerliche Moderne" solche Anführungszeichen verdient (428).

Weitere argumentativ störende Prämissen hätte der Autor mit Blick auf den Forschungsstand ebenfalls leicht fallen lassen können, etwa die Annahme einer frühneuzeitlichen "inneren Homogenität" des Adels (11) oder die Meinung, eine "'bürgerliche' Lebensweise" hätte - im Gegensatz zur adligen Lebensweise - darin bestanden, "rational [zu] wirtschaften und selbstverständlich auch mit eigener Arbeitsleistung zur Bewältigung der Anforderungen des Alltags bei[zu]tragen" (97). Denn die Polarisierung von Rationalität und Bürgertum einerseits und von Irrationalität und Adel andererseits konterkariert schon allein die Voraussetzung hochrationaler Strategiebildung beim Adel. Ebenso mittlerweile vermeidbar - und schließlich auch falsifiziert - erscheint die Erwartungshaltung, das Leben innerhalb einer adligen Familie sei "von äußeren, standesgemäßen Konventionen und formalen Regeln geprägt" gewesen (115). Emotionale Zuneigung, zeitgemäße Bildung für die Kinder und die (Selbst-!)Deutung der Eheschließung als Liebesheirat - die Überraschung, mit der diese Befunde präsentiert werden, lässt sich 2008 nur dann noch teilen, wenn man noch einmal den Erwartungshorizont der älteren sozialhistorischen Pionierstudien zum Adel einnimmt. Dass sich darin bürgerliche Einflüsse niederschlagen, kann der Autor jedenfalls nicht nachweisen.

Das Verdienst der Studie besteht darin, eine weitere in der sozialen Transformation befindliche (Adels-)Region vorgestellt zu haben. Von einem neuen Markstein der deutenden Adelsgeschichte wird man allerdings nicht sprechen können.


Anmerkungen:

[1] Heinz Reif: Westfälischer Adel 1770-1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite, Göttingen 1979.

[2] Josef Matzerath: Adelsprobe an der Moderne. Sächsischer Adel zwischen 1763 und 1866, Entkonkretisierung einer traditionalen Sozialformation (= VSWG; Beiheft 183), Stuttgart 2006.

[3] In der Zusammenfassung rekurriert er auf das "'bürgerliche' Ideal der Liebesheirat und der gleichberechtigten Partnerschaft" (423) und auf "'bürgerliche' Leistungs- und Verdienstprinzipien" (sowohl 424 als auch 425).

Silke Marburg