Rezension über:

James M. Brophy: Popular Culture and the Public Sphere in the Rhineland, 1800-1850 (= New Studies in European History), Cambridge: Cambridge University Press 2007, xvi + 365 S., ISBN 978-0-521-84769-8, GBP 55,00
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Rezension von:
Christian Henke
Handwerkskammer Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Christian Henke: Rezension von: James M. Brophy: Popular Culture and the Public Sphere in the Rhineland, 1800-1850, Cambridge: Cambridge University Press 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 7/8 [15.07.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/07/13444.html


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James M. Brophy: Popular Culture and the Public Sphere in the Rhineland, 1800-1850

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In der rheinischen Metropole Köln brach die Revolution am Karnevalsfreitag 1848 aus. Aus heutiger Sicht möchte man sagen, wann auch sonst! Getragen wurde diese revolutionäre Bewegung nicht nur von den bürgerlichen Eliten, sondern auch vom einfachen Volk. Dessen starke Partizipation lässt sich, so die These von James M. Brophy, außerordentlicher Professor für Geschichte an der Universität von Delawar, nicht allein mit sozioökonomischen Bedingungen erklären. In einer lesenswerten und überzeugend argumentierenden Studie kann er zeigen, dass sich im Rheinland politische Verhaltensweisen und ein latentes politisches Interesse trotz Zensur und staatlicher Pressionsmaßnahmen bereits zwischen 1800 und 1848 entwickelten.

Dieser Transformationsprozess, in dessen Verlauf sich eine moderne politische Öffentlichkeit im Rheinland herauszubilden begann, steht im Mittelpunkt der Untersuchung. Brophy versteht diese Zeit als Präliminarphase, in der in weiten Teilen der Bevölkerung ein Gefühl für politische Alternativen und die Möglichkeiten der politischen Partizipation geweckt worden sei. Es ist dieser Vermittlungs- und Durchdringungsvorgang, der ihn besonders interessiert, wobei sein Blick vor allem auf das einfache Volk gerichtet ist. Seine Frage lautet: War dieser Zeitraum auch für diejenigen Rheinländer eine Initialphase, die nicht Teil der kommunikativen Netzwerke des Bürgertums waren?

Eine wichtige Rolle weist Brophy in diesem Prozess der Volkskultur zu. In dem Maße, wie von den Obrigkeiten andere Kanäle der politischen Kommunikation durch restriktive Maßnahmen blockiert wurden, habe die rheinische Gesellschaft Formen der Volkskultur zur politischen Artikulation genutzt. Verstanden als eine niedrigschwellige Form der politischen Kommunikation verwendet Brophy den Begriff Volkskultur dabei in einem weiten und flexiblen Sinn, "[...] to refer to the reading, singing, festive, and religious practices of ordinary Rhinelanders. Ideas and activities that informed and animated the lives of ordinary Rhinelanders at work, play and celebrationare understood as popular culture." (16)

In sechs Kapiteln, die sich mit den Bereichen Lesen, Singen, öffentlicher Raum, Karneval, Tumulte und Religion beschäftigen, legt Brophy eine umfassende Studie zur rheinischen Volkskultur vor, auch wenn das - wie er ausdrücklich betont - gar nicht sein eigentlicher Anspruch ist. Anschaulich arbeitet er die Bedeutung des Lesens auch für einfache Rheinländer heraus. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Themen der bürgerlichen Öffentlichkeit auch diesen Bevölkerungsgruppen bekannt gewesen seien. Beispielhaft arbeitet er dies an den weit verbreiteten Volkskalendern heraus, die für ihn eine unterschätzte Quelle für die politische Kultur des 19. Jahrhunderts sind. Indem sie über zeitgenössische Themen wie die polnische Erhebung berichteten, seien auch sie ein Medium gewesen, um neue Ideen und politische Botschaften zu transportieren. Auf diese Weise hätten die Volkskalender zur Herausbildung der öffentlichen Meinung beigetragen.

Eine ebenso zentrale Rolle als Kommunikationsquelle einer volkstümlichen Politik weist Brophy dem Singen zu. Gerade Volkslieder, aber auch die sogenannten Freiheitslieder seien ein ideales und sehr effektives Medium der Politisierung gewesen, zumal nahezu überall und in allen Schichten gesungen worden sei. Politisch gefärbte Lieder verbanden Bürgertum und einfache Volksschichten, Straßen- und Klubkultur, Stadt und Land und trugen so dazu bei, eine politische Gemeinschaft zu konstituieren. Obwohl politische Inhalte auch in Liedern eher indirekt angesprochen wurden, seien sie für viele Menschen ein unverzichtbarer Überträger von Neuigkeiten gewesen.

Eine wichtige Rolle bei der Politisierung der einfachen Rheinländer schreibt Brophy auch dem öffentlichen Raum zu. Ihn interessiert dabei die Frage, wie dieser Raum im täglichen Leben, auf Märkten, in Gasthäusern und auf Volksfesten für eine politische Kommunikation instrumentalisiert wurde. Brophy identifiziert hierbei ein ganzes Repertoire von Taktiken, mit denen Rheinländer auf politische und sozioökonomische Veränderungen antworteten. Beispiele sind das Aufstellen von Freiheitsbäumen, die volkstümliche Praxis der Katzenmusik oder die sogenannten Drohbriefe. Für Brophy zeigen diese Kommunikationsformen, dass einfache Rheinländer deutlich stärker als bisher angenommen Kontakt mit der öffentlichen politischen Sphäre hatten. Diese öffentliche Sphäre habe sich - und hier widerspricht Brophy Habermas - auch außerhalb der bürgerlichen Welt entwickelt. Er geht sogar so weit, hierin rudimentäre Formen der politischen Partizipation zu erkennen. Dies habe zu einem Emanzipationsprozess beigetragen, an dessen Ende sich auch Bevölkerungsgruppen, die vom formalen politischen Diskurs ausgeschlossen waren, zunehmend als politische Akteure wahrnahmen.

Ein wichtiges rheinisches Kommunikationsforum ist für Brophy der Karneval. Durch die Gründung bürgerlicher Karnevalsvereine, zuerst in Köln 1823, trat dieser in eine neue Phase. Brophy arbeitet heraus, wie ein traditionelles Vorfastenzeitfest Teil der kommunikativen Netzwerke der politischen Kultur und Vehikel einer modernen rheinischen Identität wurde. Die innovative Leistung habe dabei in der Herausbildung des organisierten Vereinskarnevals bestanden. Hierdurch sei es den bürgerlichen Eliten gelungen, ihr Festverständnis durchzusetzen und zugleich ihre soziale städtische Führungsrolle zu festigen. Eine ebenso wichtige Funktion weist Brophy dem "Reformkarneval" bei der Vermittlung politischer Ideen zu. Mit seinen typischen Ausformungen und Ritualen habe sich der Karneval besonders dazu geeignet, einfache Rheinländer anzusprechen, Botschaften der bürgerlichen Gesellschaft zu platzieren und gesellschaftliche Barrieren zu überwinden.

Auf die Obrigkeit reagierte die rheinische Bevölkerung aber nicht nur humorvoll, wie im Karneval, sondern auch mit Gewalt. Handgreifliche Konflikte waren deshalb nicht selten. Brophy hat in seiner Studie für den untersuchten Zeitraum 109 Vorfälle zusammengetragen. Sein Ergebnis: Die wenigsten dieser Auseinandersetzungen hatten einen direkten politischen Anlass. Die Ursache allerdings, der Integrationsprozess des Rheinlandes in den preußischen Staat, ist für Brophy durchaus politisch. Dieser Prozess, der mit Eingriffen in das ländliche und städtische Leben sowie Versuchen sozialer Disziplinierung verbunden war, habe eine unterschwellige Feindseligkeit provoziert, die auch zu gewaltsamen Reaktionen führen konnte. Auch wenn es sich bei diesen Tumulten selten um bewusste politische Akte handelte, misst Brophy ihnen doch zu Recht weitreichende Folgen zu. Die Konflikte trugen mit dazu bei, weite Teile der rheinischen Bevölkerung zu politisieren.

Abschließend beschäftigt sich Brophy mit den religiösen Differenzen zwischen der katholischen rheinischen Bevölkerung und dem protestantischen preußischen Staat, die zu den Kontinuitäten dieser Jahre gehörten. Hauptstreitpunkt war die Frage der Mischehe, die auf katholischer Seite Ängste vor einer Protestantisierung auslöste. Dieser latente Konflikt kulminierte schließlich in den sogenannten Kölner Wirren, die durch die Arretierung des Kölner Erzbischofs 1837 ausgelöst wurden. Diese Episode dient Brophy als Fallstudie, um Elemente der Volksreligion (Prozessionen, Pilgerfahrten u.ä.) zu untersuchen. Überzeugend arbeitet er hierbei heraus, dass gerade die volkstümliche Verteidigung der Religion eine politische Differenzierung förderte und damit die Abgrenzung zwischen Staat und Gesellschaft verschärfte. Auf diese Weise habe sich ein parteiisches Bewusstsein herausgebildet, das entscheidenden Einfluss auf die Entstehung eines politischen Katholizismus hatte.

Die vielen von Brophy zusammengetragenen Einzelerkenntnisse ergeben ein facettenreiches Bild der Volkskultur und der Politisierung breiter Bevölkerungskreise im Rheinland. Die Volkskultur und ihre vielfältigen Kommunikationsformen, die Tradition und Modernität miteinander verbanden, ließen eine immer größere Zahl von Menschen am modernen politischen Leben teilhaben, die nicht zur bürgerlichen Elite gehörten. Dies herausgearbeitet zu haben, ist ein Verdienst Brophys.

Seine Studie überzeugt deshalb auf ganzer Linie. Auf dem neuesten Stand der Literatur beeindruckt seine Arbeit vor allem durch ihre breite Quellenbasis. Sprachlich präsentiert sie sich in einer präzisen, zuweilen etwas trockenen Weise. Wenn etwas zu kritisieren ist, dann sind dies lediglich wenige Redundanzen, die sich aber aufgrund des Aufbaus der Studie wohl kaum vermeiden ließen. Interessant wäre es vielleicht gewesen, anlog zu den Karnevalsvereinen die Rolle der Bürgerschützenvereine zu untersuchen, die sich zum Beispiel in Neuss ebenfalls 1823 auf älteren Wurzeln neu gründeten. Dies schmälert allerdings in keiner Weise den Wert dieser Arbeit, die für die rheinische Geschichte des frühen 19. Jahrhunderts grundlegenden Charakter hat.

Christian Henke