Pieter M. Judson: Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2007, xiii + 313 S., ISBN 978-0-674-02325-3, EUR 42,50
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Pieter M. Judson, Professor für Geschichte am Swarthmore College, widmet sich in seinem jüngsten Buch den Sprachgrenzen im ländlichen Raum der Habsburgermonarchie. Als Ausgangspunkt dient ihm dabei die Beobachtung, dass die Logik gewaltsamer Konflikte in diesen Regionen häufig nicht mit den Interpretationen der damaligen Presse übereinstimmte, die die Ausschreitungen in nationalistischer Manier deutete. Judson fragt daher, wer die Akteure in diesen Ausschreitungen waren und worum es dabei ging. Die wichtigste Erkenntnis lautet, dass, anders als die nationalistischen Aktivisten der Zeit es wahrhaben wollten - und viele Historiker nach der Lektüre der von ihnen hinterlassenen Quellen - , ein Großteil der Menschen in den ländlichen Gebieten Cisleithaniens sich auch um 1900 einer nationalen Zuordnung entzog.
Ist diese Einsicht angesichts der Vorstellung einer "Normalität" von nationaler (Selbst-)Verortung bereits von großer Bedeutung, so verbindet Judson damit dennoch ein weitergehendes Anliegen: Er möchte Gesellschaft und Politik der Habsburgermonarchie herauslösen aus dem "Reich historischer Pathologien" (7), da die Untersuchung der Jahre 1867 bis 1918 gezeigt habe, dass soziale, politische, ökonomische und administrative Modernisierung auch ohne Nationalstaatsbildung möglich war.
Was die Sprachgrenzregionen im engeren Sinne betrifft, so zeigt der Verfasser am Beispiel des Böhmerwaldes, der Südsteiermark und Südtirols, dass die Sprachgrenze ein ideologisches Konstrukt war und der Erfolg dieser Vorstellung das Ergebnis umfassender Bemühungen nationalistischer Individuen und Institutionen. Dazu gehörten zum Beispiel die seit den 1880er Jahren gegründeten Schulvereine. Sie waren ein Produkt der Frustration nationalistischer Aktivisten angesichts der "Wankelmütigkeit" lokaler ländlicher Bevölkerung, die häufig an der für sie typischen Zweisprachigkeit festhielt. Bildung erschien den Schulvereinen daher als Instrument, die jeweilige Sprache zu fördern und die Bevölkerung dadurch in der nationalen Gemeinschaft zu verankern. Die Minderheitenschulen wurden so zu Nationalisierungsagenturen, die Schulgebäude zu nationalistischen Einschreibungen in die Landschaft. Gewaltsame Ausschreitungen gegen sie "belegten" in den Augen der Schulvereine, dass es sich bei den Regionen der sogenannten Sprachgrenze tatsächlich um national umkämpftes Gebiet handelte. Doch nicht nur gehörten die Akteure auf beiden Seiten solcher Ausschreitungen häufig nicht den örtlichen Gemeinschaften an, sondern Judson vermag auch zu zeigen, dass es sich zumeist um nicht nationale Konflikte handelte, die von der Presse erst mittels eines entsprechenden Narratives nationalistisch aufgeladen wurden.
Schulvereine waren nicht das einzige Instrument, um vermeintlich "bedrohtes" Territorium für die eigene Gruppe zu bewahren. Am Beispiel der Südmark zeigt Judson, wie dieser Verein Siedlungspolitik in nationalistischer Manier betrieb. Auslöser waren die Lokalwahlen 1905, als in St. Egidi (Sv. Ilj) slowenische Nationalisten erstmals Siege in der 2. und 3. Kurie errangen. Die daraufhin angeworbenen Neusiedler stammten vielfach aus dem deutschen Südwesten und waren Protestanten, die in ein katholisches Umfeld kamen, was zu Konflikten vor Ort und Kritik am Siedlungsverein führte. Die Südmark zog sie dennoch katholischen Neusiedlern vor, hatten diese doch häufig ein enges Verhältnis zum Ortsgeistlichen, auch wenn es sich bei ihm in vielen Fällen um einen Slowenen handelte. Katholische Kolonisten galten daher in den Augen des Siedlungsvereins als national unzuverlässig. Diese "Unzuverlässigkeit" spiegelten auch die alle zehn Jahre durchgeführten Volkszählungen wider - weder die Schul- noch die Siedlungspolitik vermochte an wechselnden Nennungen für deutsch bzw. slowenisch (oder andernorts: tschechisch) als Alltagssprache der örtlichen Bevölkerung etwas zu ändern.
Auch der Tourismus erscheint als ein Instrument, um den national "Unentschlossenen" ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Lager bewusst zu machen. Im privaten Konsum sollten sich die Belange des Einzelnen mit den übergreifenden Interessen der sich national verstehenden Gemeinschaften verbinden. Am erfolgreichsten in seinen touristischen Bemühungen war der ideologisch am wenigsten radikale Böhmerwaldbund. Um die lokale Wirtschaft zu stärken, präsentierte er den Besuchern nicht so sehr "deutsche" Siedlungen als "authentische ländliche Kultur". Ähnlich wie zuvor mit Blick auf die Siedlungsaktivitäten beschrieben, transformierten Touristen (wie Siedler) nationalistische Rhetorik in konkrete Aktion. Es überwog jedoch der Akt der symbolischen Inbesitznahme von Boden und die Schaffung einer territorialen Vision der eigenen Nation. Bestes Beispiel dafür ist die Popularisierung des Begriffs "Deutschböhmen" als eines kartierbaren geografischen Gebiets, während es sich vor 1900 um einen abstrakten Begriff für die Gesamtheit des kulturellen und materiellen Besitzes deutsch sprechender Menschen in Böhmen gehandelt hatte.
Insgesamt mussten die nationalistischen Tourismusaktivisten jedoch erkennen: Je erfolgreicher sie im Sinne der Stärkung der lokalen Ökonomie waren, desto schädlicher wirkten sich nationalistische Ausschreitungen aus, weil diese die Touristen abschreckten. Gerade die Untersuchung ländlicher Auseinandersetzungen zeigt jedoch, dass ihre verschiedenen Formen wie Beschimpfungen, Steine werfen, Vandalismus oder Raufereien feste Bestandteile der traditionellen Streitkultur waren. Neu war dagegen die nationalistische Aufladung, die sie um 1900 erfuhren. Die über die Presse verbreiteten Geschichten gewaltsamer Auseinandersetzungen dienten dazu, den Prozess der Nationalisierung in Gang zu setzen und trugen so zur Illusion einer nationalisierten ländlichen Bevölkerung bei, während die Untersuchung der Behörden zumeist den rein lokalen, nicht nationalen Charakter der Streitigkeiten nachwies.
Es gehört mittlerweile für die Nationalismusforschung zu den Gemeinplätzen, Nationen als politische Schöpfungen, als Konstrukte zu begreifen. Pieter Judson zeigt uns, dass die Sprachgrenzen zu den imaginierten Räumen gehören und zwar zu denjenigen der zeitgenössischen Nationalisten. Hier bleibt der Verfasser jedoch nicht stehen und es ist spannend zu lesen, wie er darlegt, gegen welche lokalen Widerstände die Aktivisten diese Konstruktionsleistungen erbrachten, sahen sie sich doch selbst als Motoren ländlicher Modernisierung. Die nationale Indifferenz, die ihnen oft genug entgegenschlug, interpretierten sie als fehlgeleiteten Widerstand gegen die Kräfte des Fortschritts statt als Wahl, in nationaler Hinsicht neutral zu bleiben. Was uns daher auf den Seiten des Buches von Judson entgegentritt, ist die Nichtselbstverständlichkeit des Nationalen in vielen ländlich und kleinstädtisch geprägten Regionen Cisleithaniens bis zum Ersten Weltkrieg, obwohl sich diese Regionen durchaus in einem Prozess der politischen, ökonomischen, sozialen und administrativen Modernisierung befanden. Diese Nichtselbstverständlichkeit des Nationalen ist quellenmäßig nicht leicht zu fassen; Judson gelingt es, indem er eine Vielzahl nationalistischer Quellen gegen den Strich liest. Er vermag dabei nicht nur den Eigensinn ländlicher Bevölkerungsgruppen zu zeigen, sondern auch die Tatsache, dass die Einschätzung von Rückständigkeit in den Augen der (zeitgenössischen, nationalistischen) Betrachter liegt. In das "Reich historischer Pathologien" jedoch gehört die Habsburgermonarchie gewiss nicht.
Tatjana Tönsmeyer