Rezension über:

Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Katalog der antiken Denkmäler. Erste Auflage Dresden 1764. Zweite Auflage Wien 1776. Hrsg. v. Adolf H. Borbein, Thomas W. Gaethgens, Johannes Irmscher (†) und Max Kunze. Bearb. v. Mathias René Hofter, Axel Rügler und Adolf H. Borbein (= Johann Joachim Winckelmann: Schriften und Nachlaß; Bd. 4,2), Mainz: Philipp von Zabern 2006, 614 S., 1402 Abb., ISBN 978-3-8053-3745-8, EUR 82,00
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Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Allgemeiner Kommentar. Erste Auflage Dresden 1764. Zweite Auflage Wien 1776. Hrsg. v. Adolf H. Borbein, Thomas W. Gaethgens, Johannes Irmscher (†) und Max Kunze. Bearb. v. Max Kunze, Marianne Kreikenbom, Brice Maucolin, Axel Rügler (= Johann Joachim Winckelmann: Schriften und Nachlaß; Bd. 4,3), Mainz: Philipp von Zabern 2007, 574 S., ISBN 978-3-8053-3746-5, EUR 72,00
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Rezension von:
Elisabeth Décultot
Centre National de la Recherche Scientifique / Ecole Normale Supérieure, Paris
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Elisabeth Décultot: Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums (Rezension), in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 7/8 [15.07.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/07/13882.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums

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2002 erschien unter der Leitung von Adolf H. Borbein, Thomas W. Gaethgens, Johannes Irmscher (†) und Max Kunze eine Edition von Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums, die zum ersten Mal die Texte der Dresdner Erstauflage von 1764 und der zweiten, postumen Wiener Auflage von 1776 in einem imposanten Band synoptisch wiedergab. [1] Schon damit wurde der Forschung ein ansehnlicher Dienst erwiesen. Bisher musste man entweder mit den nicht immer leicht zugänglichen Originalausgaben des 18. Jahrhunderts oder mit späteren, philologisch oft unzuverlässigen Ausgaben vorliebnehmen, die die beiden, an vielen Stellen voneinander sehr abweichenden Editionen von 1764 und 1776 separat wiedergaben. Von nun an wurde es dem Forscher möglich, auf eine moderne, philologisch sichere Fassung Bezug zu nehmen, die darüber hinaus einen durchgängigen Vergleich der beiden Editionen zuließ. Allerdings fehlte dieser synoptischen Edition ihr wertvollster Kern, der ihren Anspruch auf eine historisch-kritische Ausgabe erst recht rechtfertigen konnte, nämlich der lang ersehnte Kommentarband. Zwar waren 2005 bis 2006 in Frankreich und in den USA neuere, kommentierte Übersetzungen des Winckelmannschen Werkes erschienen. Jedoch blieb dort trotz aller verdienstvollen Bemühungen der kritische Apparat etwas karg. [2] Mit der durch die oben genannten Herausgeber und dank der Mitarbeit von Mathias René Hofter, Axel Rügler, Marianne Kreikenbom und Brice Maucolin besorgten Edition ist diese Lücke nun geschlossen. Mehr noch: Der in den letzten Jahrzehnten immer dringender gewordene Wunsch der Wissenschaft nach einer vollständigen, historisch-kritischen Edition von Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums ist über alle Erwartungen befriedigt worden. Zu dem "Allgemeinen Kommentar" (Band 4,3), der die traditionelle Funktion der historisch-kritischen Auslegung der einzelnen Textpassagen dieses zentralen Textes der Kunstgeschichtsschreibung übernimmt, kommt ein "Katalog der Denkmäler" (Band 4,2) hinzu, der der archäologischen Untersuchung der zahlreichen, von Winckelmann erwähnten Denkmäler spezifisch gewidmet ist und viele, für den Forscher besonders wertvolle Informationen und Illustrationen enthält.

Der "Allgemeine Kommentar", der einen umfänglichen Band von etwa 500 Seiten ausmacht, bezieht sich auf die Seiten und Zeilen der stark erweiterten zweiten Auflage von 1776. Von vornherein kündigt Max Kunze im Vorwort an, dass eine Kommentierung der ersten Auflage von 1764 "nur dann vorgenommen [wurde], wenn dort Texte oder Sachverhalte zu finden sind, die für die 2. Auflage von Winckelmann (oder den Herausgebern der Wiener Ausgabe) gestrichen wurden" (Band 4,3, 7). Von einem rein praktischen Standpunkt aus lässt sich eine solche editorische Entscheidung durchaus nachvollziehen: Der Text von 1776 nimmt entweder wortgetreu oder in variierter Form denjenigen von 1764 wieder auf und erweitert ihn um viele Passagen, so dass er viel umfangreicher ist als die erste Fassung. Von einem philologischen Standpunkt aus ist aber diese Entscheidung nicht ganz unangreifbar. Bekanntlich sind die philologischen Grundlagen der zweiten Edition von 1776, die im Zentrum der Kommentierung steht, durchaus problematisch. Die postume, von der Kaiserlich-Königlichen Akademie der bildenden Künste betreute und vom Kunsthistoriker Friedrich Justus Riedel besorgte Edition von 1776 beruht höchstwahrscheinlich nicht auf einem von Winckelmann selbst ausgearbeiteten Manuskript, sondern auf einzelnen, von ihm gesammelten Materialien zu einer erweiterten Neuauflage der Edition von 1764, die er vor seinem frühzeitigen Tod nur unvollständig vorbereiten konnte. Von einem streng philologischen Standpunkt aus ist also der Text der Erstauflage von 1764 viel sicherer. Zwar fehlt dessen originale, handschriftliche Vorlage, jedoch ist er mit Sicherheit von Winckelmanns Hand. Die Wahl der zweiten, postumen Auflage als Grundlage des kritischen Kommentars entbehrt jedoch keineswegs jeglicher Fundierung: Schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts war die Ausgabe von 1776 die unter den Lesern am meisten verbreitete und zitierte Edition, so dass ihre Kommentierung einen wichtigen, ja unerlässlichen Beitrag zum Verständnis von Winckelmanns europäischer Rezeptionsgeschichte liefert.

Zur historisch-kritischen Aufschlüsselung von Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums liefert der Kommentarband sehr wertvolle Informationen. Dort werden die von Winckelmann abgekürzten, ja manchmal verschlüsselten Literaturzitate verständlich gemacht, die zahlreichen Hinweise auf antike Textpassagen verifiziert und ins Deutsche übersetzt. Darüber hinaus enthalten diese Anmerkungen wertvolle Erklärungen zu den von Winckelmann erwähnten Mythen, historischen Ereignissen und Personen. Auch über die - allerdings häufigen - Unvereinbarkeiten zwischen Winckelmanns Einsichten und den heutigen Forschungsergebnissen liefern die Anmerkungen viele Informationen. Der kritische Apparat wird darüber hinaus durch drei Register ergänzt, die die Forschungsarbeit erleichtern. Das "Allgemeine Register", das ein index nominum et rerum einschließt, bezieht sich auf den Text der Geschichte der Kunst des Alterthums selbst und damit auch auf den Kommentar; ein zweites Register enthält die nur in der Literatur erwähnten antiken Kunstwerke; im dritten Register werden die gesamten Stellen antiker Autoren aufgelistet, auf die Winckelmann sich stützte. Bekanntlich sah Winckelmann sich als Urheber einer tiefgreifenden wissenschaftlichen Umwälzung, die die Kunstwissenschaft von einer Hermeneutik des Textes zu einer des Kunstobjekts verwandelte. In der Geschichte der Kunst wird er nicht müde, seine Methode derjenigen seiner Vorgänger und Zeitgenossen gegenüberzustellen: Der historische Diskurs über die Kunst, der bis dahin auf die antiken Texte und die literarischen Beschreibungen der Künstler und ihrer Werke, mit einem Wort auf das schriftliche Erbe der Antike gegründet worden sei, stütze sich ab jetzt auf die direkte Beobachtung der Kunstgegenstände. Von einem kritischen Standpunkt aus sind die beiden letzten Register der vorliegenden Ausgabe insofern besonders interessant, als sie es ermöglichen, dieses Selbstverständnis zu relativieren. Schon auf den ersten Blick liefern sie einen quantitativen Nachweis dafür, wie abhängig Winckelmann von den schriftlichen Quellen der Antike für sein Verständnis der Kunst eigentlich blieb.

Jedoch ist die Geschichte der Kunst keineswegs nur aus dem Lesen und Exzerpieren bloßer Textquellen entstanden. Dafür liefert der einzelne Band des "Katalogs der Denkmäler" (Band 4,2) einen zwingenden Beweis. Aufgrund der zahlreichen Hinweise Winckelmanns auf direkt betrachtete Denkmäler oder auf Stiche von Kunstobjekten haben sich die Herausgeber entschlossen, die erwähnten antiken Objekte und archäologischen Befunde aller Art in einem eigenen Band katalogmäßig vorzulegen und zu erläutern. Eingeordnet werden diese Denkmäler nicht nach der chronologischen Abfolge des erläuterten Texts, sondern nach geografisch-historischen und gattungsmäßigen Kriterien (ägyptische und ägyptisierende, orientalische, etruskische und italische, griechische und römische Denkmäler, griechische Architektur, Skulptur, Reliefs, Malerei usw.), so dass schon aus dem einfachen Durchblättern des Katalogs ein durchaus sinnvolles Bild der Schwerpunkte von Winckelmanns visuellen Kenntnissen der antiken Kunst entsteht. Allerdings muss hervorgehoben werden, dass die Herstellung eines solchen Katalogs ein durchaus schwieriges, ja in manchen Punkten wissenschaftlich problematisches Unternehmen ist. Heute sind viele der in Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums zitierten Denkmäler auch den besten Archäologen unserer Zeit unbekannt. Benennungen, die im 18. Jahrhundert gängig waren, sind in Vergessenheit geraten, Sammlungen mit von Winckelmann erwähnten Gegenständen wurden aufgelöst, so dass der eigentlich antiquarische oder "archäologische" Kern des winckelmannschen Werkes nicht mehr vollständig nachzuvollziehen ist.

Zum Schluss muss unterstrichen werden, dass die beiden vorliegenden Bände zwei verschiedene, jedoch auch komplementäre Einsichten in Winckelmanns Geschichtswerk gewähren. Zu Recht weist der Katalogband darauf hin, dass Winckelmann kein "bloßer Theoretiker" war, wie Adolf H. Borbein im Vorwort hervorhebt (Band 4,2, 11), sondern sich in Rom mit einer Fülle von Denkmälern auseinandersetzte, zu denen er direkten visuellen Kontakt pflegte. Nicht selten erinnert aber auch der Kommentarband (Band 4,3) daran, dass Winckelmanns Verständnis der Kunst sich aus Quellen speiste, die jeder visuellen, konkreten Grundlage entbehrten.


Anmerkungen:

[1] Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums, Text: Erste Auflage Dresden 1764, Zweite Auflage Wien 1776, hg. von Adolf H. Borbein, Thomas W. Gaethgens, Johannes Irmscher (†) und Max Kunze (Band 4,1), Mainz 2002.

[2] Johann Joachim Winckelmann: Histoire de l'art dans l'Antiquité, traduction de Dominique Tassel, introduction et notes de Daniela Gallo, Paris 2005; Johann Joachim Winckelmann: History of the Art of Antiquity, introduction by Alex Potts, translation by Harry Francis Mallgrave, Los Angeles 2006.

Elisabeth Décultot