Veronika Jüttemann: Im Glauben vereint. Männer und Frauen im protestantischen Milieu Ostwestfalens 1845-1918 (= L'Homme Schriften; Bd. 16), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, 483 S., ISBN 978-3-412-20129-6, EUR 59,90
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Westfalen scheint die Region zu sein, an der sich die Plausibilität der Milieu-Theorien am besten abarbeiten lässt. Die 1993 und 2000 vom "Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte" (AKKZG) vorgelegten Arbeitshypothesen wurden in einer Reihe von Studien für das katholische Milieu erhärtet und jeweils modifiziert. Mit der Bielefelder Dissertation von Veronika Jüttemann liegt nun die erste Studie vor, in der die Milieudefinition explizit für ein protestantisches Milieu abgearbeitet und ergänzt wird. Jüttemann verbindet Milieustandards mit der Untersuchung der Lebenswelt und fügt konsequent den Gender-Faktor mit ein, wobei sie gleichermaßen die Perspektive von Frauen und Männern berücksichtigt. Dieser innovative Ansatz, den die Autorin an schriftlichen Selbstzeugnissen illustriert, ermöglicht ihr die Korrektur mancher bisheriger Forschungsergebnisse. Die fünf Kapitel ihrer Studie gliedert Jüttemann in zwei Hauptteile. Im ersten Teil untersucht sie die geschlechtsspezifischen Dimensionen des kirchlichen Raums, um in einem zweiten Teil nach der religiösen Durchdringung der Lebenswelten von Männern und Frauen zu fragen.
Im ostwestfälischen Minden-Ravensberg setzte die Industrialisierung und Urbanisierung erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Dennoch blieb die dörfliche Lebenswelt weitgehend erhalten. Aus der Erweckungs- und Gemeinschaftsbewegung erwuchsen die Kräfte, die zu einer Intensivierung und Neugestaltung des kirchlichen Lebens unter politisch konservativen Vorzeichen führten. Die von Katechismus und Synoden vorgegebene geschlechterspezifische Aufgabenteilung setzte sich in den kirchlichen Vereinen fort, die in den Gemeinden zu "professionalisierten, diakonischen Dienstleistern" (89) wurden. Wie zentral Religion in Ostwestfalen war, zeigt sich nicht zuletzt in autobiographischen Niederschriften, die Jüttemann für ihre Studie ausgewertet hat und in denen die religiöse Praxis reflektiert wird. Jüttemann sieht in diesen Zeugnissen kaum Anzeichen für eine genderdifferente Betrachtungsweise, wohl aber eine Bestärkung der Milieustandards.
Die Durchsetzung der Milieustandards oblag in erster Linie den Pfarrern, die in der Mehrzahl aus dem regionalen Umfeld stammten und sich praktisch ausschließlich aus den höheren und mittleren Schichten der Bevölkerung rekrutierten, wobei ein Drittel aus Pfarrerfamilien stammte. Das männlich konnotierte Pfarrerbild wurde auf Gymnasium und Universität grundgelegt, in pastoraler und Erinnerungsliteratur weiter tradiert und auf Pastoralkonferenzen verinnerlicht. Dabei wandelte sich das Selbstbild vom aufgeklärten Sittenlehrer zum Seelsorger, zum Verkünder des Wortes und Vater seiner Gemeinde.
Das weibliche Pendant zum Pfarrer bildeten die Diakonissen. Unter Friedrich von Bodelschwingh entstand in Bethel die Diakonissenanstalt Sarepta, deren Mitglieder in den ersten Jahrzehnten etwa zur Hälfte aus den ostwestfälischen Gemeinden kamen, im Unterschied zu den Pfarrern jedoch eher die mittleren und unteren Schichten repräsentierten. Ein wichtiges Einsatzgebiet der Schwestern waren die Gemeindestationen. Von Sarepta aus wurde versucht, durch Selbst- und Außenkontrolle ein einheitliches Diakonissenbild zu realisieren. Die Abgrenzung zu den katholischen Ordensgemeinschaften und gleichzeitig die Stilisierung eines protestantischen Lebenskonzeptes für unverheiratete, religiös motivierte und sozial engagierte Frauen, deren Liebesdienst das weibliche Idealbild beim Aufbau des Milieus darstellte, zeigen sich auch in den Selbstzeugnissen.
Mit der religiösen Durchdringung der Lebenswelten beschäftigt sich Veronika Jüttemann im zweiten Teil ihrer Studie. Sie nimmt die Lebensbereiche Ehe und Familie sowie die Arbeit in den Blick. Gegen Bindungslosigkeit und Materialismus wurde die Ehe als Bollwerk gesehen. Christliches Familienleben konnte über Kirchenzucht kontrolliert werden. Der Typus von Ehe und Familie passte sich jedoch immer mehr den Realitäten einer sich pluralisierenden Gesellschaft an. Es gab das Modell des Arbeitspaars ebenso wie emotional gestiftete Partnerschaften. Die Kinder aus den wenigen konfessionell gemischten Ehen wurden mehrheitlich protestantisch erzogen. Religiöse Geschlechterbilder konstruierten auf männlicher Seite das Ideal des Hauspriester-Vaters, dem seine Frau als mütterliche Gehilfin zur Seite stand. In den Briefen und autobiographischen Schriften zeigte sich im 19. Jahrhundert die Stabilität dieser Ehe- und Familienentwürfe.
Der Stellenwert der Arbeit und sozialen Ordnung kontrastierte das protestantische Milieu sehr stark von den sozialdemokratischen Utopien. Die Umbrüche der Industrialisierung führten ab 1880 zu einer Akzentuierung der Arbeitsethik unter dem Aspekt des Ertragens und Durchtragens. Gegen Liberalismus und Sozialdemokratie wurde als eigentliche Ursache der sozialen und wirtschaftlichen Probleme die Abwendung vom Christentum angesehen. In der landwirtschaftlich geprägten dörflichen Atmosphäre fanden die Milieustandards zur Arbeit eine große Plausibilität. Unter den Bedingungen der Industriewirtschaft kam es zu einer stärkeren Kirchenferne und Distanzierung von traditionellen Frömmigkeitsformen. Die von Bethel ausgehende Innere Mission war, so Jüttemann, mehr als reaktionäres Beharren, sondern ein Beitrag zur Ausbildung moderner Sozialsysteme und Ausdruck von Lernbereitschaft des Milieus. In der Frage der Frauenarbeit zeigten sich jedoch die Reibungspunkte der Geschlechterbilder. Die traditionelle Aufteilung der Männerrolle als Familienernährer und der Frauenrolle als Hausfrau erwies sich als Selbsttäuschung des Milieus. Auch in der Arbeitssituation war die Frau nicht mehr nur Gehilfin des Mannes, sondern auch seine Konkurrentin. In den Selbstzeugnissen wurde die Arbeit als Teil der christlichen Bewährung beurteilt. Ehrgeiz und sozialer Aufstieg war annehmbar, wenn sie als Führung Gottes interpretiert werden konnten. Allerdings berichten Männer selbstverständlicher über ihre eigene Berufstätigkeit als Frauen.
Veronika Jüttemanns Studie zur protestantischen Lebenswelt Ostwestfalens ist eine Pionierarbeit. Die konsequente Anwendung der für den katholischen Bereich entwickelten Milieudefinition des AKKZG zeigt deren Übertragbarkeit auf ein protestantisches Milieu. Gleichzeitig macht Jüttemann auf Defizite dieser Definition aufmerksam. Die "lebensweltliche Verwurzelung kirchlicher Amtsträger und die religiöse Durchdringung zentraler Lebensbereiche der Gläubigen wie Familie und Arbeit" (410) müssen ergänzt werden. Dass beides in Minden-Ravensberg gelang, lässt wieder einmal Westfalen als die Region erscheinen, auf die Milieutheorien am besten anwendbar sind. Ein weiteres Resultat der Jüttemann-Studie betrifft die Kritik an der Theorie der Feminisierung der Religion im 19. Jahrhundert. Weder in einer höheren Kirchlichkeit und einem Übergewicht in den Vereinen noch in der Ausprägung geschlechtsspezifischer Frömmigkeitsformen lässt sich für Ostwestfalen eine besondere Dominanz der Frauen konstatieren. "Im Glauben vereint" leisteten vielmehr beide Geschlechter ihren Beitrag zum Aufbau und zur Stabilisierung des Milieus. Die unterschiedlichen Rollen des Mannes als Vater und Hauspriester und der Frau als Trägerin diakonischer Aufgaben ergänzten sich komplementär als Stützen des Milieus.
Modernisierung führt automatisch zur Säkularisierung und zum Bedeutungsverlust von Religion - diese scheinbar plausible These wird für das Kaiserreich wieder einmal eindrucksvoll widerlegt. Geschlechtergeschichte kann nicht ohne ausgeglichene Berücksichtigung von Frauen- und Männerbildern geschrieben werden. Die Milieutheorie lässt sich durch eine sinngemäße Ergänzung auf lebensweltliche Konzepte hin aktualisieren und fortschreiben. In diesen drei Bereichen liegt der wichtige Beitrag von Veronika Jüttemann zu den aktuellen Diskussionen in der Geschichtswissenschaft.
Joachim Schmiedl