Stefan Hanheide: Pace. Musik zwischen Krieg und Frieden. Vierzig Werkporträts, Kassel: Bärenreiter 2007, 284 S., mehrere Abb., zahlr. Notenbeispiele, ISBN 978-3-7618-1770-4, EUR 14,95
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Ohne Zweifel gehören Krieg und Frieden ebenso zu den Grunderfahrungen der Menschheit, wie die damit verbundenen Empfindungen und Ausdrucksformen von Friedenssehnsucht und Kriegsabscheu, aber auch von Hass, Wut und Zerstörung. Von daher erscheint es verwunderlich, dass die schöpferische Korrelation zwischen diesen Gefühls- und Erfahrungswelten, also die Umsetzung des in Krieg und Frieden Erlittenen und Erlebten in Formen der darstellenden beziehungsweise tönenden Kunst bislang nur in Ansätzen verwirklicht wurde. Zwar konnte die "neue Kulturgeschichte" in Rahmenuntersuchungen zu historischen Erlebniswelten und Erinnerungskulturen einiges meist zum Bereich der bildenden Kunst erreichen, eine systematische oder exemplarische Darstellung der entsprechenden musikalisch-kompositorischen Produktion lag jedoch bislang nur in Ansätzen vor. Diese Lücke für den Bereich des Exemplarischen teilweise zu schließen, ist Anliegen des anzuzeigenden Bandes aus der Feder des Osnabrücker Musikwissenschaftlers und Kulturhistorikers Stefan Hanheide. Dem mit der Materie näher Befassten seit längerer Zeit kein Unbekannter mehr, hat Hanheide das interdisziplinäre Crossover zwischen Musikwissenschaft und Kulturgeschichte zu einem Hauptanliegen seiner Forschung gemacht und legt nach einigen speziellen und grundsätzlichen Untersuchungen [1] hier nun eine im Titel so bezeichnete Auswahl von "vierzig Werkportraits" zur musikalischen Rezeptionsgeschichte von Krieg und Frieden vor.
Der zeitliche Bogen spannt sich dabei von Dufays für den Band quasi programmatischer Motette Supremum est mortalibus bonum pax von 1433 bis zu Violeta Dinescus Wie Tau auf den Bergen Zions von 2003. Bekannte, im alltäglichen Konzertleben und auf Tonträgern durchaus häufig vertretene Werke, wie Schützens Da pacem Domine, Handels Musick for the Royall Fire=Works, F. Joseph Haydns Missa in tempore belli [Missa solemnis C-Dur, Hob. XXII:9] , Kurt Weills Berliner Requiem, Benjamin Brittens War Requiem oder Darius Milhauds Pacem in terris stehen neben völlig unbekannten und selbst der bewanderten Fachwelt einigermaßen fremden Werken vor allem der neueren Zeit. Die Darstellung ist in fünf große Gliederungsblöcke unterteilt ('Friedensrufe in der Frühen Neuzeit', 'Neuzeitliche Kriegserfahrungen', 'Der Zweite Weltkrieg als Gegenwart und Rückblick', 'Mahnmale für die Opfer des Nationalsozialismus', 'Gegen Krieg und Diktaturen nach 1950'), Ausgaben und Literatur werden jeweils am Ende des einzelnen Werkeintrags angegeben, die Anmerkungen stehen aber kurioserweise gesammelt am Ende. So viel zur äußeren Form.
Inhaltlich sollte der Leser stets zweier Faktoren gewärtig sein: zum einen, dass es sich bei Hanheides Studie um ein Pionierwerk handelt, welches zurzeit weder auf dem deutschen noch internationalen Buchmarkt eine ernstzunehmende Konkurrenz erfährt [2], zum anderen des im Titel deutlich unterstrichenen Charakters der Darstellung in Werkportraits. Jedes Portrait, sei es von Pinsel oder Schreibfeder entworfen, trägt unweigerlich die subjektiven, persönlichen Züge seines Meisters. Dies ist eine generelle Feststellung, welche hier keinesfalls pejorativ verstanden sein möchte. In der Tat bietet die Musikgeschichte ein so reichhaltiges Feld an einschlägigen Kompositionen, dass es der persönlichen Kriterien bedarf, um zu einer repräsentativen Auswahl zu gelangen. Hanheide hat dies souverän gelöst und - wie die obigen Angaben schon andeuteten - in einem spezifischen, schlüssigen Konzept dem Leser ein sprechendes Panorama geboten. Dass dabei der Schwerpunkt eindeutig auf der neueren Geschichte liegt, oftmals auch, in einer methodisch in der 'reinen' Historie nicht generell akzeptierten Ausweitung, der Kontext Krieg und Frieden auf Opfer von Gewaltherrschaft und (innerem) Terror appliziert wird und manche gerade der neueren Texte eindeutig der nicht immer ideell unumstrittenen 'Friedensbewegung' zuzuordnen sind, gehört eben zu jenen notwendigen Bearbeitungssubjectiva, welche hier nicht diskutiert werden können und müssen. Es gilt vielmehr hervorzuheben, dass alle vorgestellten Portraits in gut lesbarer, inhaltlich nachvollziehbarer Weise einem auch nicht fachlich übermäßig 'vorbelasteten' Publikum präsentiert werden, sodass der wünschenswerten weiten Verbreitung des Bandes keine immanenten Schranken auferlegt sind. Hanheide versteht es meisterhaft, musikwissenschaftliche Erkenntnis, geistesgeschichtlichen Kontext und persönliches Anliegen zu einem erfreulichen literarischen Ganzen werden zu lassen. Krieg und Frieden kommen gleichsam zu ihrem Recht, der nahe liegenden Versuchung einer reinen Kriegsmusikgeschichte ist der Autor ebenso wenig verfallen, wie jener der billigen Friedensapologetik.
Es ist hier nicht der Platz, jedes der vorgestellten Werke noch einmal zu besprechen. Natürlich könnte man im Einzelnen manches noch weiter hinterfragen, etwa ob Beethovens Fidelio wirklich als Kriegs- oder Friedensmusik zu deuten sei oder ob man sich hier nicht besser, wie in Haydns Fall, primär auf das dominante Bläser- und Pauken-Motiv im Agnus Dei der Missa Solemnis D-Dur konzentriert und auf eventuelle Entsprechungen in der besagten Oper verwiesen hätte (Hanheide löst es genau andersherum). So gehen die Ergänzungen des Rezensenten schon eher in Richtung eines weiteren potentiellen Bandes, welcher dann auch die hier im Gesamtvergleich etwas unterrepräsentierte frühere Zeit stärker berücksichtigen könnte: zum Beispiel findet sich im vorliegenden Werk keine einzige Choralkomposition, zu denken wäre an Antiphone wie Da pacem, Domine, welche wiewohl in der Behandlung des gleichnamigen Schütz-Werkes kurz erwähnt wird. Die Luther-Übersetzung dieses Verses, Verleih uns Frieden, wäre in ihrer langen Rezeptionsgeschichte ebenso einer eigenen Untersuchung wert, wie andere Vertonungen des hier von Sebastien de Brossard vorgestellten Canticum pro pace, etwa jene durch Marc Antoine Charpentier.[3] Aufgrund ihrer eindrücklichen musikalischen und textlichen Aussage wäre auch Telemanns Kantate von 1763, anlässlich des Hubertusburger Friedens entstanden, zu nennen.[4] Und warum wurde - für die spätere Zeit - Prokovjevs kongeniale monumentale Umsetzung von Graf Tolstois Meisterwerk Voijna i mir [Krieg und Frieden], uraufgeführt 1955, unerwähnt gelassen?
Doch dies sind alles marginale Erweiterungsvorschläge für eine Neuauflage beziehungsweise mehrbändige Perspektive des Werkes, welche dann auch den transzendental-spirituellen Aspekt des Krieg-Frieden-Paares (etwa die zahlreichen Vertonungen der Michaels-/Engelssturzhistorie) wie die reinen Kriegs- und Siegesmusiken näher berücksichtigen könnte.
Für heute wollen wir uns darauf beschränken, dem Leser nochmals ein interessantes, wichtiges und neuartiges Buch dringend ans Herz zu legen. Art, Sujet und Form der Darstellung lassen es ebenso wie die ansprechende verlegerische Aufbereitung zu einem Standardwerk werden, welches in keiner geistesgeschichtlichen Bibliothek, also auch nicht in historischen und philosophischen Instituten, fehlen sollte und auch einem breiten Publikum außerhalb der engen akademischen Grenzen - der sehr vernünftig kalkulierte Preis trägt dazu bei - als Einstieg in das Thema wärmstens empfohlen sei.
Anmerkungen:
[1] Stefan Hanheide: Friede als Gegenstand musikalischer Kompositionen, in: Wolfgang Augustyn (Hg.): Pax - Friede. Beiträge zu Idee und Darstellung des Friedens (= Veröffentlichungen des Zentralinstitutes für Kunstgeschichte 15), München 2003, 459-490; ders.: Die 'Krieges-Angst-Seufftzer' von Johann Hildebrand aus dem Jahre 1645: Lamento-Stil im Dienste der Friedenssehnsucht, in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 90 (2006), 19-32.
[2] Hier wäre allenfalls zu denken an: Ben Arnold: Music and War. A Research and Information Guide (= Music Research and Information Guide 17/Garland Reference Library of the Humanities 1581), New York/London 1993, welches aber ganz anders strukturiert ist und die Friedensmusiken weitgehend unbeachtet lässt.
[3] Marc Antoine Charpentier: Canticum pro pace Totus orbis personet tubarum clangore, H. 392 (ca. 1670).
[4] Georg Philipp Telemann: Sing-Gedicht zur feyerlichen Rede...bey dem Hamburgischen Friedens-Feste Gott, man lobet Dich in der Stille, TWV 14:12 (1763).
Josef Johannes Schmid