Mogens Herman Hansen (ed.): The Imaginary Polis. Symposium, January 7-10, 2004, Copenhagen: The Royal Danish Academy of Sciences and Letters 2005, 444 S., ISBN 978-87-7304-310-3, DKK 300,00
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Mogens Herman Hansen (ed.): The Return of the Polis. The Use and Meanings of the Word Polis in Archaic and Classical Sources (= Papers from the Copenhagen Polis Centre; 8), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007, 276 S., ISBN 978-3-515-09054-4, EUR 58,00
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Steven Johnstone: A History of Trust in Ancient Greece, Chicago: University of Chicago Press 2011
Silvia Montiglio: Wandering in Ancient Greek Culture, Chicago: University of Chicago Press 2005
Martin Zimmermann (Hg.): Extreme Formen von Gewalt in Bild und Text des Altertums, München: Utz Verlag 2009
Mogens Herman Hansen: The Tradition of Ancient Greek Democracy and its Importance for Modern Democracy, Copenhagen: The Royal Danish Academy of Sciences and Letters 2005
Mogens Herman Hansen / Thomas Heine Nielsen (eds.): An Inventory of Archaic and Classical Poleis. An Investigation Conducted by The Copenhagen Polis Centre for the Danish National Research Foundation, Oxford: Oxford University Press 2004
Auch nach dem Erscheinen des magistralen 'Inventory of Archaic and Classical Poleis' (Oxford 2004) publizierte das 'Copenhagen Polis Centre' weitere Sammelbände, die der Abrundung des Gesamtunternehmens dienen sollen. Der erste der beiden hier anzuzeigenden behandelt die Polis als Gegenstand der Vorstellung in der Antike. Einleitend umreißt Hansen gewohnt materialreich und lapidar die vier wichtigsten Modi von "imagination": Die Utopie, die Neugründung einer Polis als Apoikie oder durch Synoikismos, der ein gedanklicher Entwurf vorausgehen musste, die Idealisierung von Poleis in ihrem (angeblichen) früheren Zustand sowie abstrahierende Vorstellungen über die Entstehung der Polis im Rahmen von Kulturentstehungslehren. Wie nicht selten in dem gesamten Unternehmen ebnet die übersichtliche Rubrizierung Differenzen ein; man wird auch bei gutem Willen den Plänen für eine neue Kolonie angesichts der völlig verschiedenen kommunikativen und pragmatischen Kontexte keine "certain resemblance to an utopia" bescheinigen wollen, wenn man es nicht dabei bewenden lassen möchte, dass in beiden Fällen Rationalität und Rücksicht auf die Rahmenbedingungen (die sich der Utopist aber eben beliebig zurechtlegen kann) zu walten hatten.
Neun der folgenden Aufsätze behandeln einzelne Autoren bzw. Gattungen der griechischen Literatur. J. Haubold setzt sich in stimulierender Weise von den "secularising tendencies" in der Deutung der homerischen Polis ab, indem er nicht wie diese verschiedene im Text erkennbare Entwicklungsstadien mit den 'realen' Prozessen in den Dark Ages und der früharchaischen Zeit zu synchronisieren sucht, sondern eine "internal chronology of epic as cosmic history" rekonstruiert, von der Weltschöpfung (Hesiod, Theogonie) bis zu der Existenz einer Polis, die ihre durch die Launen der Götter verursachte Prekarität abzustreifen beginnt (Homer, Odyssee; Hesiod, Erga). Dem Abstieg vom Goldenen Zeitalter entspricht bereits in den Epen ein Fortschritt der institutionellen Entwicklung, von den starken Göttern und Kyklopen bis zu den der Gemeinschaft bedürfenden Menschen der Nachheroenzeit. Troja und das Achäerlager markieren in dieser Chronologie das letzte Hurra einer sterbenden Heroenzeit, während Ithaka, obwohl von der Krise der Helden und den Launen der Götter ebenfalls heftig erschüttert, für eine kommunale Zukunft gerettet wird - maßgeblich durch eine Gottheit, die nicht mehr asozial spielt, sondern sich erstmals in den Dienst der Versöhnung in einer Polis stellt. P. Easterling zeigt an ausgewählten Passagen, wie in der Tragödie immer wieder Bedrohungen der Polis von innen thematisiert werden; ihr (sehr allgemeiner) Schluss lautet (66): "Tragedy could sometimes do more than acknowledge the grim realities, by creating an image of potential value which went far beyond Athenian propaganda." A. Sommerstein deutet die beiden komplett neu konstruierten Gemeinschaften in den Vögeln und den Ekklesiazusen als monarchisch, weil jeweils nur eine Person das Sagen hat (Peisetairos bzw. Praxagora); diese Personen übten ihre Herrschaft jedoch im Interesse des durchschnittlichen männlichen Bürgers aus. Mit Blick auf das Publikum und die generelle Überlegung, dass gerade absonderlich erscheinende Fiktionen, um wirken zu können, wenigstens teilweise an eine wiedererkennbare Wirklichkeit gebunden sein müssen, leuchtet das ein. Mit den Entwürfen Platons in den politischen Dialogen (Politeia, Nomoi, Politikos) befassen sich J.-F. Pradeau und M. Piérat in ihren Aufsätzen. In der Politeia diene der Rekurs auf Begriffe und Phänomene der realen Poleis in ihrem Fieberzustand dazu, die Kritik und den eigenen Entwurf zu unterfüttern und letzteren plausibel erscheinen zu lassen. Noch stärker sei die Wirklichkeit in den Nomoi präsent, konkret etwa in den Zensusbestimmungen oder den Reflexionen über die Bestellung des Rates, auf einer allgemeineren Ebene im Gedanken der "constitution du juste milieu" (143). Beide Großwerke böten gedankliche Entwürfe einer geordneten Polis mit dem Ziel, die kranke Wirklichkeit zu heilen. Ergänzend untersucht J.-M. Bertrand Platons recht konkretes Bild der idealen Apoikie Magnesia. Hier erschien es durch die richtige Erziehung aller Bürger sogar risikolos, diesen das Recht der freien Rede einzuräumen - ein bemerkenswerter Seitenhieb auf Athen, das bei Platon ohnehin immer im Hintergrund steht. Gehaltvoll behandelt R. T. Long Aristoteles' Entwurf einer besten Polis. Die hoch entwickelte, Einsicht und Willen vereinigende und durch Erziehung sowie wiederholte Übung in Theoria gefestigte Rationalität der Bürger sollte es erlauben, mit wenig Institutionalisierung, wenig politischer Aktivität und möglichst ohne Krieg auszukommen; dazu sollten auch die gesetzten äußeren Bedingungen beitragen. Die 'polis kat' euchên' trug Züge einer idealen Universität, wie Long treffend bemerkt. Höchst aufschlussreich ist die Rekonstruktion von Aristoteles' Klassifizierung der politischen Ordnungen "by proportional merit"; aus ihr ließ sich die zunächst paradox erscheinende Bipolarität der Politie ableiten: Die Entscheidung beim Kollektiv mit seiner in der Summe überlegenen Weisheit zu belassen, die Ämter aber allein den im individuellen Vergleich kompetenteren Wenigen zu übertragen. Long behandelt auch die aristotelischen Begriffe von Tugend, Freiheit und Gerechtigkeit in weiterführender Weise - ein herausragender Aufsatz. Er wird ergänzt durch Hansens sehr knappe "Pedestrian Synopsis of Aristotle's Best Polis in Pol. 7-8". Er spricht diese als Aristokratie an, freilich ohne akzentuierte militärische Tugend und mit einem - in sich egalitären - Senioritätsprinzip. Die nur in Referaten späterer Autoren greifbare Politeia des Frühstoikers Zenon entpuppt sich in O. Murrays subtiler Rekonstruktion als virtuelle Republik der Weisen, verbunden durch Eros, Homonoia und naturgemäßes Leben in allen existierenden Städten. Zenons Entwurf muss in Vielem revolutionär, ja verstörend gewirkt haben, weshalb er später polemisch überzogen oder als Werk eines Kynikers vorgestellt wurde. Die Grundidee aber, nämlich eine vollkommene geistige Existenz im Hier und Jetzt und zugleich von diesem separiert, findet sich später in Augustinus' Idee von den zwei Städten wieder. Murrays knappe Studie verdient auch als methodisches Lehrstück viele aufmerksame Leser.
Zwei Studien behandeln einzelne Poleis bzw. Regionen. In "The Imaginary Spartan Politeia" konzentriert sich St. Hodkinson auf Autoren der klassischen Zeit. Es entsteht ein differenziertes Bild des keineswegs von Anfang an idealisierenden Spartadiskurses ("dominant dystopian images of the fifth century [...] more positive images that dominated the forth", 243), in dem zunehmend die "homonoia", d.h. die Abwesenheit von Staseis, in den Vordergrund rückte. Diese Disposition verschaffte sogar den Dreißig in Athen, die sich vorgeblich an Spartas Ordnungsmodell anlehnen wollten, zu Anfang eine gewisse Akzeptanz. Hodkinson kann zeigen, dass die Realutopie Sparta in klassischer Zeit durchaus den aktuellen, seit Lykurg angeblich unveränderten Kosmos meinte und deshalb keine Vergangenheitsutopie darstellte. Wie aber konnten die manifesten Defekte in der Realität Spartas übersehen werden? Hodkinson nimmt ein hohes Maß an Autosuggestion an; über persönliche Freundschaften zu Nichtspartanern sei das idealisierte Bild auch des zeitgenössischen Spartas dann verbreitet worden. Ein höchst gehaltvoller und lesenswerter Aufsatz. In einer gründlichen philologisch-quellenkritischen Interpretation kann P. Perlman wahrscheinlich machen, dass die Aussagen zur kretischen Verfassung bei Platon, Ephoros, Aristoteles und Herakleides allesamt auf einen einzigen 'Archetyp' zurückgehen, der in der Akademie anzusiedeln ist, dessen Autor und literarische Form freilich nicht näher bestimmt werden können. In dieser "Cretan Politeia" standen die Verfassungsziele (militärische Überlegenheit und Eigentumsschutz), die Gestalt des Minos als Oikist, Nomothet und Thalassokrat sowie die enge Verbindung der spartanischen und der kretischen Ordnung mit typischen Institutionen wie den Syssitien und der Paideia im Vordergrund. Als historischen Kontext dieser dann im 4. Jahrhundert so wirkmächtigen Konstruktion skizziert Perlman in einem Ausblick die Beziehungen zwischen kretischen und peloponnesischen Staaten in der Mitte des 5. Jahrhunderts. Da der realhistorische Befund die kretischen Poleis keineswegs als uniformes, dorisch geprägtes Konglomerat erwiesen hat, gibt der auch methodisch vorbildliche Aufsatz zugleich ein Beispiel, wie sich Entwürfe im Bereich der politischen Philosophie selbst dann, wenn sie einen hohen Empiriegehalt aufwiesen, verselbstständigen konnten.
Mit der Anlage einer Stadt lassen sich auf sehr konkrete Weise 'Vorstellungen' verbinden und die Forschung hat in der Vergangenheit die evidenten Regelmäßigkeiten - von den parallelen Straßenlinien in westgriechischen Apoikien bis zum orthogonalen Grundriss spätklassischer und hellenistischer Städte - immer wieder mit philosophischen sowie soziopolitischen Entwürfen verbunden (Pythagoras bzw. Egalitarismus und Demokratie). Fokussiert hatte sich die Debatte zuletzt um die von W. Hoepfner und E.-L. Schwandner postulierten Typenhäuser und "hippodamisch-pythagoräischen Stadtpläne". G. Shipley nimmt auf fast achtzig Seiten die spärlichen Zeugnisse unter die Lupe und kommt zu einem weitgehend negativen Ergebnis: Stadtplanung folgte keiner Ideologie, keinem politischen Prinzip; es gibt keinen Beleg für einen beabsichtigten oder gar erreichten Egalitarismus des Besitzes, standardisierte Häuser - sollte es sie gegeben haben - lassen sich nicht mit Demokratie verbinden. Hippodamos gehört in die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts, er hatte nichts mit der Neuanlage Milets nach den Perserkriegen zu tun, seine Tätigkeit als Stadtplaner und seine philosophisch-politischen Ideen sind zu trennen. Shipleys materialreiche Retractatio ist wertvoll, wenn auch viele Einwände nicht neu sind. Hoepfner und Schwandner waren seinerzeit erkennbar von Chr. Meier und dem Nachdenken über demokratische Bürgerstaatlichkeit in Antike und Moderne geprägt. Shipley hat eher ein angelsächsisches Paradigma im Kopf, in dem sich der "American dream" von "little boxes on a hillside" mit einer funktionalistischen Vorstellung verbindet: "Standard and modular housing had no inherent ideological values. [...] [...] practical, functional and economic considerations [...] played an important part in the evolution of Greek town planning." (385 und 386) Auch dieses Ergebnis kommt nicht ohne Prämissen aus. Der gehaltvolle Band schließt mit einem Namen- und einem Stellenindex; ein Sachindex fehlt leider.
Der zweite hier anzuzeigende Band bietet eine "posthumous republication of a series of studies", die bereits in früheren Bänden erschienen, hier jedoch überarbeitet und durch vier neue Beiträge ergänzt sind. Den Gebrauch des Wortes 'Polis' in den Quellen möglichst genau zu bestimmen war forschungspragmatisch ein sinnvoller Beginn, konnte man auf diese Weise doch u.a. herausfinden, welche Eigenschaften und Handlungen - z.B. Besitz einer Agora und Prägen von Münzen [1] - in signifikanter Häufigkeit mit der Qualität einer Siedlung als Polis korrelierten; das erlaubte es, beim Erstellen der Liste für das Inventory einen Ort auch dann als Polis zu identifizieren, wenn er durch einen Überlieferungszufall nicht so genannt wurde. Aber würden wir ohne dieses Verfahren etwa Metapont nicht als Polis klassifizieren? Hansen würde dem vermutlich die zahlreichen echten Zweifelsfälle entgegenhalten. Die einzelnen Beiträge versammeln und katalogisieren alle Belege aus archaischer und klassischer Zeit in den Inschriften, den Historiografen, den attischen Rednern, den Philosophen und Dichtern sowie bei Aineias Taktikos und Ps.-Skylax. In drei einleitenden Beiträgen verteidigt Hansen die Grundthese des ganzen Unternehmens, dass 'Polis' eine urbane Siedlung ('town') mit Staatsqualität ('state') bezeichne und daher korrekt als 'city-state' anzusprechen sei. Leistungen und Grenzen des ganzen Unternehmens sind zuletzt nach Erscheinen des monumentalen 'Inventory' benannt worden. [2] Wer alles durchgearbeitet hat und zugleich in Respekt vor der Semantik der Quellen verharrt, weil er hofft, dass ihm diese eine Geschichte erzählen, die einer subjektiven historischen Rekonstruktion überlegen ist, kann am Ende viele filigran beschriftete Schubladen füllen und sie in einer möglichst nützlichen Weise präsentieren. [3] Der mit zahlreichen Listen und einem Ortsindex versehene Band wird als Supplement zum 'Inventory' nützlich sein.
Anmerkungen:
[1] Hansen bietet 10f. eine Zusammenstellung.
[2] Vgl. U. Walter: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 184 v. 10.08.2005, 32; M. Meier: sehepunkte 5 (2005), Nr. 10 [15.10.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/10/7336.html; H. Beck: HZ 281 (2005), 420-423; R. Parker: CR 56 (2006), 380-384.
[3] Bezeichnend ist, wie Hansen mit einer Kritik von J. K. Davies umgeht (56); dieser hatte e.g. Thessalien als einen Staat, der keine Polis war, bezeichnet und damit natürlich im modernen Sinn die potenzielle und für kurze Zeit (unter Iason von Pherai) auch aktuelle Staatsqualität dieser Region unter dem Gesichtspunkt der Konzentration von Macht gemeint; Hansen hält dagegen, dass Thessalien kein Staat, sondern (zeitweise) eine "confederation" aus zahlreichen Poleis gewesen sei. Die Grenzen der objektsprachlichen Fixierung werden hier sehr deutlich.
Uwe Walter