Richard Hunter: The Shadow of Callimachus. Studies in the reception of Hellenistic poetry at Rome (= Roman Literature and Its Contexts), Cambridge: Cambridge University Press 2006, xi + 162 S., ISBN 978-0-521-69179-6, GBP 15,99
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Richard L. Hunter untersucht in vier aufeinander aufbauenden Fallstudien, wie die griechische Dichtung des 3. Jahrhunderts v.Chr. im spätrepublikanischen und augusteischen Rom rezipiert wurde. Kallimachos, der hochgebildete alexandrinische Dichter und Dichtungstheoretiker, ist die Galionsfigur einer literarischen Ästhetik, die in der modernen Literaturwissenschaft als die "hellenistische" bezeichnet wird. Als beinahe übermenschlich groß wurde er in Rom wahrgenommen und seine Zeit - die Herrschaft der ersten drei Ptolemäer - galt als ein saeculum aureum, was die politischen Verhältnisse, die Dichtkunst und das Verhältnis von Dichter und Herrscher betraf (143f., vgl. Strabon 17,1,11-12).
Das Bild des "Schattens" des Kallimachos, das Hunter für das Verhältnis der späteren, römischen Dichter zu ihren griechischen Vorgängern wählt, beinhaltet eine Ambivalenz: Der Epigone steht im Schatten des großen Vorgängers, doch bietet dieser Schatten auch den geschützten Raum, in dem die eigene Kunst gedeihen kann ("shelter", 146). Hunters Reich der Schatten erstreckt sich - mit einem Wortspiel von "shade" und "shadow" - von den Callimachi manes des Properz (3,1) im ersten Kapitel zu den maiores [...] umbrae Vergils (Ekloge 1,83) im letzten Hauptabschnitt.
Hunters Buch will einer seit W. Wimmels "Kallimachos in Rom" (1960) zu beobachtenden Tendenz entgegenwirken, die den Einfluss des Kallimachos auf relativ wenige, programmatische Textpassagen begrenzt (2). Hunter knüpft dabei an eigene Vorarbeiten, insbesondere den "Roman epilogue" in dem zusammen mit M. Fantuzzi publizierten "Tradition and Innovation in Hellenistic Poetry" (Cambridge 2004, 444-485), sowie verschiedene Arbeiten zur griechisch-römischen Bukolik an. [1]
Bereits die Einleitung (1-6) verdeutlicht einen zentralen Aspekt des strukturorientierten Hunterschen Ansatzes: Es ist die für die politische und kulturelle Situation des ptolemäischen Alexandria charakteristische Spannung zwischen "alt" und "neu", die in der römischen Dichtung imitiert wird (3). Durch sie verhandeln die römischen Imitatoren ihr Verhältnis zum religiös und kulturell "Anderen".
Die vier Hauptabschnitte betreffen: (1.) das erklärte Selbstverständnis des Dichters ("In the grove", 7-41), (2.) die Rolle des Dionysos/Bacchus in der römischen Auseinandersetzung mit dem Fremden ("In the grip of the god", 42-80), (3.) die rhetorische Figur des Gleichnisses als Ort der intertextuellen Erkundung ("Nothing like this before", 81-114) und (4.) die Aneignung der griechischen Bukolik durch Rom ("The shadows lengthen", 115-140).
Deutlicher als ihre hellenistischen Vorbilder beschreiben sich die römischen Dichter in ihren Werken selbst als Priester, ihr Werk - mit typisch römischer Vorliebe für abgeschlossene Gärten - als einen "heiligen Hain" (Properz 3,1; Ovid Am. 3,1,1-14; Horaz Carm. 1,1,29-32). Auffällig ist neben dem Einfluss des kallimacheischen Aitienprologs das dionysische Vokabular im traditionellen Kontext der poetischen Inspiration. Hunter argumentiert überzeugend, dass hier nicht die Dichter des 3. Jahrhunderts, sondern die Bakchen des Euripides als Vorbild dienten. Schon bei Kallimachos scheint diese Tragödie als religiöser 'heiliger' Text gelesen worden zu sein. In diesem 'texte fondateur' ist Dionysos der Bringer eines neuen, fremden Kults, der paradoxerweise ebenso traditionell und eigen ist (denn der Gott ist bei Euripides ursprünglich doch wieder griechisch): Diese modellhafte Erzählung ließ sich auch für die Übernahme des Fremden in Rom fruchtbar machen. Der römische Dichter-Priester, der wie Properz die griechische Dichtung im Stil des Kallimachos nach Rom bringt, handelt wie der Stifter eines griechischen Heiligtums in Italien.
Es ist nicht immer einfach, diejenigen religiösen und politischen Dichtungen der Griechen zu identifizieren, denen in Rom besondere Bedeutung zukam. So hilft mitunter der Blick auf die weniger bekannten Textgattungen. In Elegie 1,7 feiert Tibull den Patron Messalla als Osiris-Dionysos in der Rolle des Kulturbringers, eine Rolle, die ihre Wurzeln in 'synkretistischen' hellenistischen Vorstellungen hat. Wenngleich Isis und Osiris in der erhaltenen 'großen' Dichtung des 3. Jahrhunderts fehlen, könnte Tibull doch Texte wie den Isis-Hymnus von Andros gekannt haben. Die Reise des Eroberers durch die Welt und generell die Teilung der Welt in einen eigenen und einen fremden Teil - dies sind Motive, die sich bei Tibull und gleichermaßen in den hellenistischen Isis- und Osiristexten finden. Sie entsprechen nicht zufällig einer ptolemäischen Grenz- und Expansionsrhetorik, für die es auch in Rom Verwendung gab.
Aus der hellenistischen Sprachtheorie - nicht aus dem religiösen Denken der Griechen - übernehmen die römischen Dichter den metonymischen Gebrauch der Götternamen (also 'Bacchus' für 'Wein', Properz 3,17). Mit dieser bei Kallimachos nicht bezeugten Strategie erfinden die Römer einen eigenen 'hohen' Stil und erzeugen in ihrer Dichtung eine griechisch scheinende fremde Welt.
So ist Dionysos/Bacchus für die römischen Dichter nicht nur der neue Gott der poetischen Inspiration, sondern ein facettenreiches Konzept. Die damit verbundenen Vorstellungen erweisen sich als hervorragend geeignet, die von Gleichheit und Differenz geprägte Beziehung der römischen Elite zur griechischen Welt auszuloten.
Gleichheit und Differenz sind also zentrale Motive dieser römischen Dichtung 'im griechischen Stil'. Mit diesem Schlüssel interpretiert Hunter im dritten Teil seiner Untersuchung die poetische Stilfigur schlechthin: das Gleichnis. Am Beispiel der längeren Gedichte des Catull (Carm. 64,65,68) zeigt Hunter die Motive und Techniken, die der römische Dichter aus der griechischen Tradition seit Homer - vor allem von Kallimachos - übernimmt. Gleichnisse und gleichnisartige Strukturen (Metaphern, 'Stundenbilder' und sogenannte parataktische Gleichnisse) interessieren ihn als Orte der intertextuellen Erkundung dort, wo Strategien der Übersetzung, Nachahmung und Anspielung am deutlichsten sichtbar werden.
Das vierte Kapitel widmet sich der Rezeption der griechischen Bukolik, insbesondere des Theokrit, in Rom. Auch diese Übernahme lässt sich als die Erweiterung des imaginierten Raums der Dichtung beschreiben. Vergils Hirtendichtung bewegt sich in einer bekannten, motiv- und figurenreichen literarischen Welt. Das vergleichsweise einfache soziale Modell im Hintergrund der theokriteischen Eidyllia, wo es genügt, Hirte zu sein, um zu singen, wird durch römische politische Realitäten konkretisiert. Für Vergils Hirten sind sozialer Status und sicherer Grundbesitz die Voraussetzungen für die Dichtkunst. Aber Hunter geht noch weiter: Die Landenteignung des Meliboeus (Vergil, Ekl. 1) ist ein Bild für die Übernahme der griechischen Dichtung durch Rom, das als klaronomos ('Erbe', 'Landeigner', vgl. Epitaphius Bionis 96) handelt. Die erste Ekloge enthält zugleich ein kulturelles (die imitatio des Griechischen) und ein mythisches Aition für die zweite Geburt der Bukolik in Italien. Das friedensstiftende Eingreifen des 'göttlichen Jünglings' (1,42-45) ist dabei die mythische Begründung. So liest Vergil das Politische wieder in sein Modell hinein, wobei er ebenfalls auf ein theokriteisches Vorbild, Eid. 17 und das Lob der pax ptolemaïca, zurückgreifen kann.
Das Buch Hunters ist eine argumentativ dichte, detailreiche und beeindruckende Studie über das Phänomen der interkulturellen Rezeption. Sie zeigt, dass nicht nur die modernen Kritiker, sondern auch die römischen Dichter einen wesentlichen Anteil an der Konstruktion dessen haben, was wir als "hellenistische" oder "alexandrinische" Dichtung bezeichnen (146). Hunter berücksichtigt dabei das gesamte intertextuelle Netz der Überlieferungen und Traditionsstränge von Homer bis Eustathius, neben der 'großen' Dichtung des 3. Jahrhunderts hat er stets auch die anderen Gattungen und Denktraditionen im Blick, die für die Vermittlung der griechischen Literatur nach Rom eine Rolle spielen. Dies erlaubt ihm - und auch das ist ein Verdienst dieses Buches - eine bessere Einordnung der Fragmente der nur lückenhaft überlieferten Aitia, des Hauptwerks des Kallimachos.
Anmerkung:
[1] Das vierte Kapitel übernimmt ausdrücklich große Teile aus Hunters Virgil, Eclogue I and the origins of pastoral, in: M. Fantuzzi / Th. Papanghelis (eds.): Brill's Companion to Greek and Latin Pastoral, Leiden/Boston 2006, 263-73. Auf verschiedene Weise grundlegend sind ferner R. Thomas: Callimachus back in Rome, in: A. M. Harder / R. F. Regtuit / G. C. Wakker (eds.): Callimachus, Groningen 1993, 197-215; Al. Cameron: Callimachus and his Critics, Princeton 1995; A. Schiesaro: Latin Literature and Greece, in: Dialogus 5 (1998), 144-49; J. E. G. Zetzel: Dreaming about Quirinus. Horace's Satires and the development of Augustan poetry, in: T. Woodman / D. Feeney (eds.): Tradition and Contexts in the Poetry of Horace, Cambridge 2002, 38-52. Nicht genannt wird dagegen B. Arkins: The Freedom of Influence. Callimachus and Latin Poetry, in: Latomus 47 (1988), 285-93.
Doris Meyer