Stefan Breuer: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, 294 S., ISBN 978-3-534-21354-2, EUR 49,90
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"Völkisch", so schrieb der Sprachwissenschaftler und Philosoph Julius Goldstein Mitte der zwanziger Jahre "ist ein neues Lieblingswort der Zeit geworden". Tatsächlich tauchte das Wort 'völkisch' vor dem Ersten Weltkrieg nur selten im allgemeinen Sprachgebrauch auf. Um 1920 erfuhr es dann vor allem in Zeitungen einen rasanten Anstieg, bis es in der Zeit vor und nach dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft seinen Zenit erreichte. [1]
Stefan Breuer, der durch zahlreiche Studien zur politischen Geschichte der deutschen Rechten im 19. und 20. Jahrhundert, zur Konservativen Revolution der Weimarer Republik und zur Entwicklung von Nationalismus und Faschismus in Europa hervorgetreten ist, hat nun eine neue Gesamtdarstellung der Geschichte der völkischen Bewegung vom Kaiserreich bis zur Weimarer Republik vorgelegt. Der nicht zuletzt im methodischen Instrumentarium Max Webers geschulte Breuer gibt zunächst in seiner Einleitung einige Hinweise zur, wie er sich ausdrückt, "Differentialdiagnostik", indem er hervorhebt, dass der Fluchtpunkt einer jeden Beschäftigung mit der völkischen Bewegung im Nationalsozialismus liegen müsse, diese aber nicht mit dem völkischen Nationalismus gleichgesetzt werden könne. Die Bedeutung des Völkischen erschöpfe sich auch nicht in der Rekonstruktion einer spezifischen Weltanschauung. Entscheidend ist für Breuer, dass die völkische Bewegung im juste milieu verankert war. Darüber hinaus zeichnete sich die völkische Bewegung durch eine zwiespältige Haltung gegenüber der industriellen Zivilisation aus. Potenzielle Klientel der völkischen Bewegung sieht Breuer vor allem in den Verlierern der sozioökonomischen Veränderungen: Der bäuerlichen Bevölkerung auf dem Land und dem alten städtischen Mittelstand. Breuer bestimmt die völkischen Ideen als Momente einer Mittelstandsideologie, die erstens das Volk als ein handlungsfähiges Kollektiv, als ein ganzheitliches Organ, deutete und die zweitens von der Ungleichheit der Menschen innerhalb dieses Volkes ausging. Breuer spricht drüber hinaus von einem spezifischen völkischen Rechtsnationalismus, mit dem diese Ideologie verknüpft war. Unter diesen Voraussetzungen haben sich die Völkischen zu einer Gesinnungsgemeinschaft zusammengeschlossen und zu einer sozialen Bewegung formiert. In seiner Analyse dieser sozialen Bewegung legt Breuer die Schwerpunkte auf die politischen Artikulations- und Organisationsformen.
Im ersten Teil seiner Studie geht er der Entstehung und Entwicklung der völkischen Bewegung im Kaiserreich nach, wobei er sich jedoch unter diesem Begriff mit genau jener Bewegung beschäftigt, die in der historischen Forschung als antisemitische bezeichnet wird. Für diese zeigt er - eine beeindruckende Fülle von kleinen Schriften und Zeitschriften sowie Organisationen heranziehend - wie sie in der Reichgründungszeit aufgekommen war und sich in den Debatten um die Judenfrage zu einer politischen Bewegung formiert hatte. Daraufhin analysiert Breuer auch den politischen Misserfolg der Parteibildungsprozesse im antisemitischen Lager. In seiner Analyse der antisemitischen bzw. völkischen Bewegung geht Breuer den von ihm so genannten Interferenzen nach, den Aspekten, wo sich deren Ideen mit anderen Motiven überschnitten, wie zum Beispiel in der Kolonialbewegung, den verschiedenen Richtungen der Kultur- und Lebensreform oder den rassenhygienischen Strömungen. Prägnant arbeitet er unter dem Titel "Proletaroider Intellektualismus" anhand der Biografien zahlreicher Antisemiten die individuellen Brüche und sozialpsychologischen Motive heraus, die diese Intellektuellen in ihrer politischen Sozialisation geprägt haben und zeigt, wie oftmals ein Scheitern oder Abstieg als Schatten über ihnen lag. Dem entsprach häufig eine Neigung zu Extremen. Dieser Typus von Intellektuellen brachte immer wieder ein "Moment der Unruhe" (132) in die Bewegung, die damit über die konventionelle Mittelstandsideologie hinausging.
Ist der von Breuer geprägte Terminus "Proletaroider Intellektualismus" ungemein aufschlussreich für die Einsicht in die sozialpsychologischen Motive, die zahlreiche Intellektuelle zu Antisemiten werden ließen, so ist der von ihm für das Verständnis der spezifischen Form von Entwurzelung aufgegriffene Begriff des "Völkischen Existentialismus" wenig überzeugend. Das Entscheidende des Existenzialismus ist dessen radikaler Subjektivismus, sodass dieser Terminus für die Biografie von Angehörigen einer Bewegung, die sich auf ein organisches Kollektiv hin ausrichten, kaum angebracht ist.
Treffend wiederum schließt Breuer den Teil über das Kaiserreich mit der These von der gescheiterten Milieubildung ab. Tatsächlich war es der antisemitischen bzw. völkischen Bewegung im Kaiserreich nicht gelungen, ein in sich geschlossenes soziokulturelles Milieu zu bilden. Was diese Bewegung auszeichnete war vielmehr, wie Breuer schreibt, "das rasche Auftauchen und ebenso rasche Wiederverschwinden" ihrer Vereine oder Zeitschriften. Am Ende des Kaiserreiches war sie "auf dem Niveau des Meetings" (144) angekommen, wo sie dreißig Jahre zuvor mit den Antisemitentagen begonnen hatte. Breuer schließt daher diesen Teil mit der instruktiven Formulierung: "Die Annahme ist nicht unbegründet, dass sie [die Bewegung] ohne den Weltkrieg in der Marginalität verschwunden wäre." (144)
Den Weltkrieg behandelt Breuer daher im zweiten Teil als "Tiefpunkt und Neubeginn", der wiederum mit der Entstehung des "Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes" einsetzte. Für die Zeit der Weimarer Republik geht Breuer den ungemein breiten und vielfältigen Organisationsbildungen in dem sich nun auch terminologisch selbst als völkische Bewegung verstehenden Lager nach, wie dem Deutschbund oder den Deutschsozialisten, verfolgt zugleich die regionalen Entwicklungen und Besonderheiten und analysiert gleichfalls den Einfluss und die Präsenz der völkischen Bewegung innerhalb der parteipolitisch eher konventionellen Deutschnationalen Volkspartei. Da sich die völkische Bewegung immer wieder auch als eine Bewegung der Jugend stilisiert hatte, analysiert Breuer auch die völkischen Jugendorganisationen. Überraschende Einblicke bietet seine Darstellung der Position von Frauen innerhalb der völkischen Bewegung. Auch wenn diese in weiten Teilen von einem starken Antifeminismus geprägt war, kann Breuer doch auf eine große Zahl von Schriften völkischer Frauen verweisen, sodass er mit überzeugenden Argumenten die These vertreten kann, dass zum völkischen Denken "auch ein feministischer Strang" gehörte (235). Den Abschluss seiner Studie bildet die Rekapitulation der völkischen Bewegung innerhalb der NSDAP sowie der Ausklang derselben in der Ludendorff-Bewegung und der Deutschen Glaubensbewegung.
Wenn Breuer eingangs geschrieben hatte, dass jede Beschäftigung mit der völkischen Bewegung im Nationalsozialismus seinen analytischen Fluchpunkt haben müsse, so kann er abschließend paradoxerweise zeigen, dass sich Hitler schon Mitte der zwanziger Jahre gegen die Bezeichnung völkisch gewandt hat, er nicht in der völkischen Bewegung, sondern ausschließlich im Nationalsozialismus das politische Ziel sah und dass er sich in 'Mein Kampf' über die "völkischen Methusaleme" lustig gemacht hatte (243). Auch die NSDAP hat sich daraufhin entschieden von allen völkischen Gruppierungen distanziert. Wie Breuer zeigen kann, sind gerade die überzeugtesten Völkischen unter den Nationalsozialisten im 'Dritten Reich' eher gescheitert. Diesem Befund von Breuer entspricht das Ergebnis der eingangs zitierten Verlaufsstatistik des Terminus 'völkisch' aus dem Wörterbuchprojekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der zufolge der Begriff um 1930 seinen Höhepunkt erreicht hatte, bis 1940 aber massiv einbrach und unter das Niveau von 1920 sackte.
Wie diese Statistik ebenfalls zeigt, war der Begriff um 1900 noch kaum in Gebrauch und so wäre zu fragen, ob die von Breuer so ungemein dicht und prägnant analysierte soziale Bewegung des Kaiserreiches nicht treffender als antisemitische statt als völkische Bewegung zu bezeichnen ist. Zwar zeigen sich Merkmale völkischen Denkens - auch wenn der Begriff als solcher noch kaum verbreitet war - schon im Kaiserreich, unklar ist aber, ob das Völkische tatsächlich das entscheidende exklusive Merkmal dieser Bewegung war, ob dieser Begriff somit - um ein Argument Breuers aus einem anderen Kontext auf ihn selbst anzuwenden - "für differentialanalytische Zwecke" (224) tauglich ist. Vieles spricht dafür, dass das exklusive Merkmal dieser sozialen Bewegung im Kaiserreich eher im Antisemitismus zu sehen ist.
Analytisch wenig plausibel ist ferner, dass Breuer den in sich schon schillernden und höchst unpräzisen Begriff der Moderne als erklärenden Terminus heranzieht und darüber hinaus die von dem Soziologen Ulrich Beck für einen ganz anderen historischen Kontext formulierte Unterscheidung zwischen einer angeblich ersten und zweiten Moderne aufgreift.
Trotz dieser einschränkenden Bemerkungen handelt es sich bei der Studie von Breuer um eine überaus erhellende und materialreiche Darstellung einer sozialen Bewegung, die vor dem Ersten Weltkrieg zwar am Ende zu stehen schien, durch die Erschütterungen und mentalen Verwerfungen der Kriegserfahrung aber eine nachhaltige politische Durchschlagskraft erhielt.
Anmerkung:
[1] Vgl. dazu: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts, Verlaufsstatistik 'völkisch': http://www.dwds.de/?verteilung=1&corpus=1&qu=V%C3%B6lkisch
Ulrich Wyrwa