Thomas Fürst: Karl Stützel. Ein Lebensweg in Umbrüchen. Vom Königlichen Beamten zum Bayerischen Innenminister der Weimarer Zeit (1924-1933) (= Mainzer Studien zur Neueren Geschichte; Bd. 19), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2007, 524 S., ISBN 978-3-631-53262-1, EUR 79,50
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Der BVP-Politiker Karl Stützel (1872-1944), bayerischer Innenminister der Jahre 1924 bis 1933 unter Ministerpräsident Heinrich Held, gilt weithin als konservativer Ordnungspolitiker und als Garant innenpolitischer Stabilität im Freistaat. Vor allem die NSDAP wurde von ihm mit einer Politik der harten Hand zumindest zeitweise erfolgreich in die Schranken verwiesen - stichwortartig sind zu nennen das Uniformverbot von 1930 und das SA-Verbot von 1932. Nicht zufällig gehörte Stützel daher auch mit zu den ersten prominenten politischen Opfern des NS-Terrors nach der "Machtergreifung" in Bayern. In der Nacht vom 9. auf den 10. März wurde Stützel aus seiner Privatwohnung in das "Braune Haus" verschleppt und dort grob misshandelt.
Obwohl Karl Stützel die bayerische Innenpolitik der Weimarer Jahre stark geprägt hat - und zwar auch über das Feld der Polizei- und Sicherheitspolitik hinaus -, ist er von der landesgeschichtlichen Forschung kaum beachtet worden. Mit seiner nun vorliegenden umfassenden Studie über Stützel möchte Thomas Fürst diese Forschungslücke schließen, wobei das Hauptaugenmerk der Rolle Stützels bei der Bekämpfung des politischen Extremismus von links und rechts in den Jahren von 1924 bis 1933 gilt.
1872 als zweiter Sohn einer alteingesessenen Handwerkerfamilie im pfälzischen Speyer geboren, absolvierte Karl Stützel nach dem Besuch des dortigen königlich-bayerischen Gymnasiums ein Studium der Rechtswissenschaften in München, Berlin, Heidelberg und Erlangen. Nach dem Staatsexamen folgte der einjährige Wehrdienst, dann der juristische Vorbereitungsdienst als Assessor an verschiedenen bayerischen Dienstorten. Von 1914 bis 1918 amtierte Stützel, unterbrochen durch einen Kriegseinsatz an der Westfront, als Bezirksamtmann in Vilshofen. Im Frühjahr 1918 erfolgte die Abordnung in das Innenministerium zum Referat für Wohnungswesen, das im November dann dem neugegründeten Ministerium für soziale Fürsorge zugeschlagen wurde. Nach den Landtagswahlen vom 6. April 1924 schließlich trat Karl Stützel auf Vorschlag der Landtagsfraktion der Bayerischen Volkspartei als Innenminister in die Regierung Held ein.
Im Aufbau und in der Darstellung seiner Studie folgt Fürst im Wesentlichen der Chronologie. Anders als es der Untertitel der Studie "Ein Lebensweg in Umbrüchen" vermuten ließe, ist Stützels Lebensweg jedoch in weiten Teilen als durchaus typisch für einen bayerischen Karrierebeamten anzusehen. Da von Karl Stützel kein Nachlass überliefert ist, basiert die Arbeit vorrangig auf der umfassenden Überlieferung staatlicher Akten im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, ferner auf zahlreichen gedruckten Quellen, Periodika und Parlamentaria. Dieses Quellenmaterial vornehmlich amtlicher und behördlicher Provenienz bestimmt auch Charakter und Grundkonzeption der Arbeit: Es handelt sich um keine Gesamtbiografie, sondern vielmehr um eine um den politischen Lebensweg Stützels arrangierte Geschichte der Innenpolitik und inneren Verwaltung Bayerns zwischen 1918 und 1933 - ein methodisch legitimer und biografisch tragfähiger Ansatz, der durchaus innovatives Potenzial und materiellen historischen Erkenntnisgewinn bergen könnte. Dies wird etwa in jenen Abschnitten der Arbeit deutlich, in denen die unter Stützel in Angriff genommene Reform der Staatsverwaltung, der Finanzausgleich des Jahres 1925 sowie das Staatsvereinfachungsgesetz von 1928 oder (auf kommunaler Ebene) das Gemeindewahlgesetz von 1924 und die Neufassung der bayerischen Gemeinde-, Bezirks- und Kreisordnung von 1927 detailliert abgehandelt werden.
Die Fülle und die spezifischen Merkmale des von Fürst herangezogenen Quellenmaterials erweisen sich in der Gesamtschau freilich eher als Nachteil; die Studie ist über weite Strecken von konzeptionellen Unwuchten, weit ausholenden Exkursen und argumentativen Redundanzen geprägt sowie mit Details überfrachtet. Exemplarisch - weil besonders auffällig - sind die umfassenden Ausführungen zu den katholischen deutschen Studentenverbindungen, deren prägender Einfluss auf Stützels Weltbild behauptet wird, ohne dass es gelingt, hier einen stringenten Zusammenhang herzustellen (26-32). Lange, oft ganzseitige Zitate (z.B. 273f., 282f., 312, 316f.) erschweren den Lesefluss zusätzlich, ohne aber dabei von großem Gewinn zu sein, da zumindest einige der so ausführlich zitierten Quellen leicht zugänglich in gedruckter Form vorliegen.
Trotz der erschöpfenden Zitate bleibt das Bild Karl Stützels merkwürdig blass. Die Studie liefert das Porträt eines korrekten Beamten-Politikers, dessen Selbstverständnis und Amtsführung sich strikt an den legislativen Rahmenbedingungen orientierten und dessen oberstes Ziel stets die Bewahrung der staatlichen Autorität war. Zu Recht urteilt Fürst, Stützel sei mehr "Ministerialbürokrat als politisch fühlende Persönlichkeit" gewesen (18). Ob Fürst aber mit seiner Interpretation recht hat, Stützel könne allein aufgrund seines unpolitischen Amtsverständnisses und seiner Gegnerschaft zum politischen Extremismus als bedingungsloser, beharrlicher Verteidiger der republikanischen Staatsordnung und überzeugter Demokrat gelten (14, 19, 185), mag dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall wären hier kritische Nachfragen angebracht gewesen. So aber bleibt unklar, ob nicht möglicherweise formaljuristische Verfassungstreue mit demokratischer Grundgesinnung verwechselt wird. Die Persönlichkeit Stützels hätte es zudem verdient - und der analytischen Qualität der Arbeit wäre es zuträglich gewesen -, differenzierter im Kontext des politischen Katholizismus der Weimarer Zeit verortet zu werden, der in weiten Teilen - zumal in Bayern und der BVP - von autoritären Vorstellungen und antirepublikanischen Affekten geprägt war.
Befremdlich wirken schließlich die Defizite des Werks in der Rezeption des Forschungsstands sowie eine Vielzahl formaler Auffälligkeiten im Quellen- und Literaturverzeichnis. So findet die Monografie von Elina Kiiskinen über die Politik der DNVP (Bayerische Mittelpartei) - immerhin einem Koalitionspartner der BVP - keine Erwähnung. Ebenso bleibt im Zusammenhang mit den Ausführungen über die monarchische Option sowie über die von Teilen der Bayerischen Volkspartei erwogene Koalitionsbildung mit der NSDAP im Winter/Frühjahr 1933 der einschlägige Aufsatz von Wolfgang Dierker (erschienen 2002 in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte) ungenannt. Weiter wird der Beitrag von Dieter Albrecht aus dem Handbuch für Bayerische Geschichte nach der Auflage von 1974 zitiert, andere Beiträge aus dem Handbuch aber aus der Neuauflage von 2003. Ferner ist der vom Autor ausgewertete Akt mit der Signatur P 4423 aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv keinesfalls, wie in Einleitung und Quellenverzeichnis dargelegt, eine von Stützel persönlich zusammengestellte Zeitungsausschnittssammlung (22 und 494): Diese stammt vielmehr aus einer Sammlung, die der ehemalige Fotograf Friedrich Josef Maria Rehse seit 1914 angelegt hatte und die 1929 von der NSDAP als Grundlage für ein Parteiarchiv aufgekauft wurde. Die Zahl der formalen Unregelmäßigkeiten und Mängel - wiederholt falsche Schreibweisen von Autorennamen, unterlassene Nennungen von Reihentiteln und Herausgebern, die Auflistung veralteter Auflagen und streckenweise abenteuerlich unorthodox anmutende bibliografische Angaben zu Zeitschriftenaufsätzen - ist so groß, dass sie hier nicht im Detail aufgearbeitet werden können.
Der Gesamteindruck dieser Biografie ist somit zwiespältig. Die voluminöse Studie leistet durchaus einen Beitrag zur Geschichte der bayerischen Innenpolitik der Weimarer Zeit. Nachhaltig zu bedauern allerdings bleibt, dass ihr Wert aufgrund inhaltlich-konzeptioneller Inkonsistenzen, vor allem aber wegen vieler handwerklicher Nachlässigkeiten und Fehler deutlich geschmälert wird.
Oliver Braun