Henning Engelke: Dokumentarfilm und Fotografie. Bildstrategien in der englischsprachigen Ethnologie 1936-1986 (= Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst; Bd. 4), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2007, 236 S., ISBN 978-3-7861-2546-4, EUR 49,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Michael Diers: Fotografie Film Video. Beiträge zu einer kritischen Theorie des Bildes, Hamburg: Philo & Philo Fine Arts 2006
Herbert Molderings / Gregor Wedekind (éds.): L'evidence photographique. La conception positiviste de la photographie en question, Paris: Éditions de la Maison des sciences de l'homme 2009
Martina Dobbe: Fotografie als theoretisches Objekt. Bildwissenschaft, Medienästhetik, Kunstgeschichte, München: Wilhelm Fink 2007
Boris von Brauchitsch: Kleine Geschichte der Fotografie, Stuttgart: Reclam 2002
Simone Förster: Masse braucht Licht. Arthur Kösters Fotografien der Bauten Erich Mendelsohn. Ein Beitrag zur Geschichte der Architekturfotografie der 1920er Jahre, Berlin: dissertation.de 2008
Bilder - als materielle Artefakte und innere Vorstellungen - sind von Beginn an ein Gegenstand der Anthropologie und Ethnologie gewesen. Untersucht wurden kulturgebundene visuelle Systeme, mediale Ausdrucksformen und Rezeptionsweisen. Außerdem dienen audiovisuelle Medien seit dem 19. Jahrhundert als wichtiges Aufzeichnungsinstrument in der ethnografischen Forschung. Zu diesen frühen und den rezenten Bildern in Ethnografie und Ethnologie liegt inzwischen eine Fülle an wissenschaftlichen Untersuchungen vor, seltener jedoch wurde die Rolle der Bilder in der Ethnologie unter einem wissenschaftshistorischen Aspekt betrachtet. In diesem Bereich ist die Studie Henning Engelkes angesiedelt. Er untersucht in seiner interdisziplinär angelegten Dissertation, die an der Universität Göttingen im Fach Kunstgeschichte angenommen worden ist, die "Bildstrategien" in einer wichtigen Phase ethnografischer Film- und Fotoproduktion. Dabei wirft er aus einer kunsthistorischen Perspektive Fragen nach der jeweiligen Bildästhetik auf, derer sich die Werke bedienen und die sie wiederum produzieren.
Den Beginn des Untersuchungszeitraums markiert das fotobasierte Forschungsprojekt "Balinese Character: A Photographic Analysis" von Margaret Mead und Gregory Bateson (1942). Mead und Bateson gelten als Pioniere in der Entwicklung einer Methode der Datenerhebung, die weitgehend auf Fotografien sozialen Verhaltens beruht - wenn die Ergebnisse aus heutiger Sicht auch eher fragwürdig erscheinen. Zu den weiteren Hauptquellen der Studie Engelkes gehören einige der einflussreichsten ethnografischen Filme. Ausführlich diskutiert werden die Werke von David und Judith MacDougall ("To Live With Herds" 1971, Turkana-Trilogie 1977-1981), John Marshall ("The Hunters" 1957), Ian Dunlop ("Desert People" 1966), Robert Gardner ("Dead Birds" 1964, "Forest of Bliss" 1986) und Timothy Asch ("The Ax Fight" 1974). Eine Besonderheit im Filmkorpus bildet die Arbeit der Experimentalfilmerin Maya Deren, die sich in den 1940er/50er Jahren mit Voodoo-Ritualen auf Haiti beschäftigt hat. Eine Fülle an weiteren Filmen aus dem Untersuchungszeitraum wird hinzugezogen. Dabei zeigt Engelke vor allem die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Werken auf. Der Abschluss des Untersuchungszeitraums wird durch den radikalen Umbruch in der Medienlandschaft der 1980er Jahre bestimmt. Die neue und leicht verfügbare Videotechnik und später die digitalen Aufzeichnungsmethoden führten zu signifikanten Transformationen in der Bildproduktion, -distribution und -rezeption. Auch das ethnografische Filmschaffen erfuhr durch die neuen technischen Möglichkeiten einen enormen Aufwind. Engelke widmet sich konsequent nur der Zeit vor der "digitalen Revolution" und liefert eine Standortbestimmung der englischsprachigen Visuellen Anthropologie am Vorabend der digitalen Bilderflut.
Vor der ausführlichen Analyse des Filmmaterials wird ein historischer Abriss zur Rolle der Bildmedien in der Ethnologie gegeben. Hier werden auch grundlegende theoretische Fragestellungen der Visuellen Anthropologie und ihre Vertreter vorgestellt. Themen sind beispielsweise die diskrepante Aussagekraft von Sprache versus Bild, die Frage nach den visuellen Repräsentationsweisen und den spezifischen Realismuskonstruktionen sowie die Bedeutung des Visuellen in der Wissenschaftsgeschichte der Ethnologie. Es werden wichtige filmische und fotografische Arbeiten sowie richtungsweisende Paradigmen der ethnologischen Teildisziplin thematisiert, die einen weitreichenden Einfluss auf die Fach- und Mediengeschichte, auch über die Grenzen der Ethnologie hinweg, ausübten. Vergleichend bezieht Engelke fotografische und filmische Arbeiten aus nicht ethnologischen Kontexten in die Diskussion ein, beispielsweise das Fotoprogramm der Farm Security Administration in den USA (1935-1944). Neben der innovativen Blickweise auf den Gegenstand weist Engelke sich durch fundierte Kenntnisse in der Geschichte der Visuellen Anthropologie aus, die seit den 1980er Jahren international eine neue Blüte erlebt.
Die Argumentation folgt einem weitgehend chronologischen Ansatz, der allerdings durch ein weiteres Strukturierungsmerkmal aufgebrochen wird: Ein Leitmotiv der Studie sind die ästhetischen Konzepte, derer sich die Filmemacher und Fotografen bedient haben, um die außerfilmische Realität im Medium als authentisch darzustellen. Hierzu werden drei Ebenen der Darstellung analytisch unterschieden, die sich gegenseitig durchdringen: Das stehende Bild, die Filmeinstellung, die Montage. Zu den grundlegenden Strömungen des ethnografischen Films, die Engelke ausführlich bearbeitet, gehören das Paradigma des "observational cinema" und Strategien, die an der Narrativität des Spielfilms orientiert sind (wie beispielsweise in Filmen von Marshall und Dunlop). Das "observational" oder "direct cinema" ging von einer Gruppe von Journalisten und Filmemachern in den USA aus und zielte auf ein filmisches Ideal, in dem das Filmteam möglichst wenig in die vorfilmische Handlung eingreifen, sondern ihr lediglich folgen sollte. Die typischen Merkmale sind die bewegliche Handkamera und der Einsatz von Synchronton. Engelke zeichnet schlüssig nach, wie durch die Wahl von spezifischer Bildästhetik und Narration unterschiedliche Formen der Authentisierung in den Filmen erreicht werden. Deutlich wird dabei auch, wie sehr die ästhetischen Konventionen einer Zeit zur Wahrnehmung des Realitäts- oder Authentizitätsgehalts filmischer Repräsentationen beigetragen haben.
Insgesamt handelt es sich um ein gut lesbares Werk zur Geschichte und Ästhetik des ethnografischen Films, das auch für eine Beschäftigung mit der Thematik außerhalb des hier gewählten regionalen und temporalen Fokus lohnenswert ist. Ebenso eignet sich das Buch gut zum Einstieg in die Visuelle Anthropologie, weil viele der relevanten filmischen Grundlagenwerke, die zu einem Kanon des ethnografischen Films gerechnet werden, vorgestellt werden. In der Diskussion der Querverbindungen zwischen den Werken liegt eine der Stärken des Buchs, das es aus film- und wissenschaftshistorischer Sicht sehr lesenswert macht. Einzelne Filmszenen werden detailliert wiedergegeben, wodurch die Nachvollziehbarkeit der Deutungen auch für Leser gewährleistet ist, die die besprochenen Filme nicht kennen. Der kunsthistorische Ansatz stellt eine Bereicherung in der fachinternen ethnologischen Diskussion dar. Die Werke der Visuellen Anthropologie werden zu Arbeiten der internationalen bildenden Kunst in Beziehung gesetzt. Dadurch gelingt dem Autor ein interdisziplinärer Ansatz, der vielfältige wechselseitige Bezüge zwischen den Bildwerken herausstreicht. Ein überdeutlicher Schwerpunkt liegt allerdings auf dem Bereich des ethnografischen Films, die ethnografische Fotografie hingegen nimmt nicht den Stellenwert ein, den man aufgrund des Buchtitels erwarten würde. Und auch die theoretische und historische Bearbeitung des Bereichs Fotografie in der Ethnologie bleibt nur auf wenige Werke beschränkt, die aber innerhalb des gewählten ästhetischen Ansatzes argumentativ mit den Filmen verknüpft werden.
Margrit Prussat