Boaz Shoshan: Poetics of Islamic Historiography. Deconstructing Tabaris History (= Islamic History and Civilization. Studies and Texts; 53), Leiden / Boston: Brill 2004, XXXIV + 278 S., ISBN 978-90-04-13793-6, EUR 121,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Ina Eichner / Vasiliki Tsamakda (Hgg.): Syrien und seine Nachbarn von der Spätantike bis in die islamische Zeit, Wiesbaden: Reichert Verlag 2009
Elisabeth Özdalga (ed.): Late Ottoman Society. The Intellectual Legacy, London / New York: Routledge 2005
Abbas Poya / Maurus Reinkowski (Hgg.): Das Unbehagen in der Islamwissenschaft. Ein klassisches Fach im Scheinwerferlicht der Politik und der Medien, Bielefeld: transcript 2008
Rüdiger Lohlker: Dschihadismus. Materialien, Stuttgart: UTB 2009
Bernard Lewis: Die Juden in der islamischen Welt. Vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Liselotte Julius, München: C.H.Beck 2004
Martin Tamcke: Christen in der islamischen Welt. Von Mohammed bis zur Gegenwart, München: C.H.Beck 2008
Hamid Haji: Founding the Fatimid State: The Rise of an Early Islamic Empire. An annotated English translation of al-Qaḍī al-Nu'mān's Iftitāḫ al-Da'wa, London / New York: I.B.Tauris 2006
Die Chronik des Juristen, Theologen und Historikers Muḥammad aṭ-Ṭabarī (gestorben 310/923), die den Titel "Das Buch der Propheten und Könige (Kitāb ar-rusul wa'l-mulūk)" trägt, in der europäischen Literatur aber meist als "Annalen" zitiert wird, gehört zu den wichtigsten Quellen über die islamische Geschichte. Wie der Autor des hier zu besprechenden Werkes, Boaz Shoshan, aber richtigerweise bemerkt, ist dieser Titel irreführend, da er sich nur auf den ersten, weltgeschichtlichen Teil bezieht, der nicht annalistisch angeordnet ist (XXVIII). Der zweite, umfassendere und nach Jahren organisierte Teil behandelt die islamische Epoche vom Jahre 1/622 bis 302/915, in der es keine Könige und - mit der Ausnahme Muḥammads - auch keine Propheten gab.
Seit etwa einem Jahrhundert stützen sich Historiker der frühislamischen Geschichte vornehmlich auf aṭ-Ṭabarīs Annalen. Diese Quelle hat somit den weitesten Verbreitungs- und Wirkungsgrad innerhalb der Islamwissenschaften erzielt. Um so erstaunlicher ist es, dass es von wenigen Ausnahmen abgesehen, die meist die Quellen aṭ-Ṭabarīs betreffen, keine Studie zum Aufbau der Annalen, zur Autorenschaft aṭ-Ṭabarīs oder zu seinem Wirken als Sammler beziehungsweise Editor gibt. Boaz Shoshan hat jetzt Abhilfe geschaffen.
Dem Autor geht es nicht darum, die Annalen als historische Quellen zu nutzen, sondern - angeregt durch die Schriften Hayden Whites (IX) - um den Text der Annalen als literarisches Produkt und um aṭ-Ṭabarī als Erschaffer dieses Texts. "I am less concerned with what we can embrace or reject as factual - the past behind the text - [...] Rather, my interest is in the text about the past (XXV)." Mit Hilfe der Erzähltheorie ("narrative theory") möchte der Autor insbesondere die erzählerischen Elemente, die rhetorischen Strategien, die Arten, in denen Fakten wiedergegeben werden, und die versteckten Argumente und Ideologien - in seinen Worten kurz: "die Theorie der Poesie (poetics)" - untersuchen (XXIV). Das ist ihm aufs Trefflichste gelungen. Diese Analyse reiht sich damit in die neueren Studien ein, die einen literaturwissenschaftlichen Ansatz auf die Texte der islamischen Kultur übertragen.
Im zweiten Teil der Einleitung (XXVI-XXXIV) gibt Boaz Shoshan einen kurzen Überblick über aṭ-Ṭabarīs Annalen, der schon wichtige Informationen zum Aufbau des Texts enthält. Dazu gehört die Erkenntnis, dass aṭ-Ṭabarī im Gegensatz zu seiner Darstellung der islamischen Frühzeit in den letzten 100 Jahren seiner Annalen kaum noch Quellen (mit isnāden) zitiert und dass zudem aṭ-Ṭabarīs eigener Beitrag als "Schriftsteller/Autor" in demselben Teil deutlich hervortritt (XXXII).
Die Monographie ist in zwei Teile à vier Kapitel eingeteilt. Ein kurzes Schlusswort, eine ebenfalls sehr kurze "Auswahlbibliographie" und ein Index schließen das Werk ab. Teil 1 der Monographie stellt die wichtigsten Erzähltechniken dar, die in den Annalen verwendet werden. Unter dem kryptischen Titel "Tropen der Mimesis" (Tropen sind rhetorische Substitutionsfiguren, die sich auf die Semantik beziehen; Mimesis ist nach Aristoteles die "nachahmende Darstellung einer Handlung" zum Beispiel in Erzählungen und damit ein wichtiges Kriterium von Literatur) setzt sich Boaz Shoshan im 1. Kapitel zuerst mit Tayed El-Hibri auseinander, dem er vehement widerspricht und erklärt, dass der Anspruch der authentischen Wiedergabe in den Annalen eine Form der Mimesis ist, der dazu führt, dass historische Berichte so genau wie nur möglich geschildert werden (8). Diese Hauptthese belegt der Autor im gesamten weiteren 1. Kapitel, indem er unzählige Beispiele aus den Annalen zu detailliert beschriebenen Objekten und Räumen, zu Beschreibungen von Körpern, Gesten und trivialen Details und zu szenischen Beschreibungen aufführt (7-25). So hat beispielsweise die Information eines Augenzeugen bei der Schlacht von Karbalā', der zufolge der Neffe al-Ḥusains ein Hemd, ein Hüftgewand und ein Paar Sandalen trug, dessen eine (Sandale) gerissen war - "und ich erinnere, dass es die linke war" (19), keine andere Funktion als das Geschilderte durch starke Veranschaulichung authentischer erscheinen zu lassen, die Glaubwürdigkeit des Erzählers zu betonen und die Illusion zu vermitteln, dass der Leser unmittelbar anwesend ist. Boaz Shoshan geht aber noch weiter: Er liefert viele Beispiele dafür, dass der Verweis auf einen Augenzeugen ("Es ist als sähe ich ...", 35) oder auf vertrauenswürdige Quellen ("Laiṯ b. Sa'd überlieferte Buchstabe für Buchstabe", 42) auch nur Elemente nachahmenden Erzählens sind. Die mimetischsten Elemente sind dem Autor zufolge allerdings die wörtlichen Zitate. Das wird besonders deutlich, wenn selbst die Rede mythologischer Figuren wörtlich wiedergegeben wird. Dennoch nimmt Boaz Shoshan Abstand davon, alle Beispiele wörtlicher Rede als fiktional zu verwerfen. Er lässt diese Frage offen (48-49).
Im 2. Kapitel beschäftigt sich der Autor mit dem "flexiblen" Gebrauch der Zeit. Ein Erzähler (aṭ-Ṭabarī oder eine seiner Quellen) durchbricht den chronologischen Ablauf einer Erzählung bewusst, um durch Rückschau (analepsis) - zur Angabe von Kausalitäten - oder durch Vorschau (prolepsis) - zur Schilderung von prophetischen Vorhersagen - beispielsweise Ironie oder ideologische Inhalte zu transportieren.
Im 3. Kapitel zur Theologie und der Ideologie der Annalen geht Boaz Shoshan davon aus, dass diese sich an koranischen Modellen orientieren (89), da der Koran oft als Referenz benutzt wird. Ein weiteres theologisches Konzept in den Annalen ist, dass Gott als der Haupthandelnde angesehen wird (98ff). Am Ende versucht der Autor aṭ-Ṭabarīs Ideologie zu entschlüsseln, und zeigt an einem Beispiel, dass aṭ-Ṭabarī pro-abbasidische Positionen vertritt (105).
Im 4. Kapitel untersucht Boaz Shoshan die Methoden aṭ-Ṭabarīs bei der Komposition der Annalen und zeigt viele Stellen auf, an denen aṭ-Ṭabarī - indirekt aber dennoch deutlich - seine eigene Meinung in Form von Bewertungen wiedergibt. So sagt aṭ-Ṭabarī an einer Stelle, dass "die Bevölkerung die Grenzen des korrekten Verhaltens überschritten hätte" (118). Auch durch Einleitungen und Zusammenfassungen bestimmter Abschnitte, Anordnung und Auslassungen oder Charakterbeschreibungen nimmt aṭ-Ṭabarī Einfluss auf den Leser. Boaz Shoshan zeigt überzeugend, dass aṭ-Ṭabarī seine Quellen nicht neutral wiedergibt, sondern bewusst als Autor in die Darstellung eingreift.
In den folgenden Kapiteln des 2. Teils analysiert Boaz Shoshan vier ausgewählte historische Erzählungen aus der Frühzeit des Islam - den Saqīfah-Bericht über die Wahl Abū Bakrs, den Mord an 'Uṯmān, die Schlacht von Ṣiffīn und al-Ḥusains Märtyrium - entsprechend der im 1. Teil vorgestellten mimetischen Elemente. Anhand dieser Beispiele will er verdeutlichen, wie sich ein literaturwissenschaftlicher ("poetical") Zugang zu einem historischen Text von der klassischen (historischen) Herangehensweise unterscheidet (XI). An dem Saqīfah-Bericht (5. Kapitel) stellt der Autor die Struktur in den Vordergrund. Durch die Verteilung der Sprecherrollen entscheidet aṭ-Ṭabarī die Darstellung der Wahl Abū Bakrs und greift damit in den Inhalt der Erzählung ein (166). Am Beispiel des Mordes an 'Uṯmān (6. Kapitel) kehrt Boaz Shoshan die Rolle aṭ-Ṭabarīs als Autor hervor. Durch seine editorische Arbeit der Berichte von Saif b. 'Umar, dessen Position aṭ-Ṭabarī einnimmt, und al-Wāqidī äußert aṭ-Ṭabarī seine Meinung, der zufolge er den Mord als grausamen Akt an einem rechtschaffenen Kalifen verdammt (208). In seinem dritten Beispiel zur Schlacht von Ṣiffīn (7. Kapitel) zeigt der Autor vor allem das ironische Element in den Annalen, das darin deutlich wird, dass die muslimischen Partein, die vollständig auf Gott vertraut haben, letztlich als Verlierer vom Platz gehen (231). Am Beispiel von al-Ḥusains Märtyrium (8. Kapitel) will Boaz Shoshan belegen, dass die Überlieferung in den Annalen diejenige ist, die in späteren schiitischen Kreisen Verbreitung gefunden hat, und dass sie im Kern eine Tragik enthält, welche die Grundlage der modernen ta'ziyah-Spiele bildet (234).
Diese Monographie zeigt wie bereichernd es sein kann, die Annalen mit einem neuen - literaturwissenschaftlichen - Ansatz zu lesen. Auch wenn nicht alle gewählten Beispiele überzeugen, so gelingt es dem Autor dennoch vortrefflich, seinen Ansatz glaubhaft zu belegen. Die islamische Geschichtsschreibung besteht zu einem großen Teil aus Erzählungen, die man - wie Boaz Shoshan gezeigt hat - auch als solche untersuchen kann und sollte. Wie ich in meiner in Kürze erscheinenden Monographie zur Eroberung von Damaskus gezeigt habe, muss man dabei den historischen Ansatz nicht aufgeben, sondern kann beide Methoden miteinander kombinieren.
Zwei kritische Anmerkungen seien mir gestattet. Erstens tragen mache Namen im Arabischen den Artikel. Der sollte deswegen auch bei dem Gebrauch in den europäischen Sprachen wiedergegeben werden (aṭ-Ṭabarī/al-Ṭabarī anstatt Ṭabarī, wie Boaz Shoshan formuliert), zumal der Name aṭ-Ṭabarīs schon in der wissenschaftlichen Umschrift wiedergegeben wird. Zweitens erscheinen zahlreiche bibliographische Referenzen nur in den Fußnoten und nicht im Literaturverzeichnis. Dabei handelt es sich um Monographien der Autoren J. Barzun, L. Hunt, K. Creswell, P. Crone und vieler anderer, aber auch um Quellen wie die Sīrah Ibn Hišāms (160, FN 9). Selbst das Standardreferenzwerk, die Encyclopaedia of Islam, findet sich nicht in der Bibliographie. Nur eine vollständige Bibliographie ermöglicht es dem Leser, sich ein Bild über den intellektuellen Standort des Autors zu machen. Eine "Auswahlbibliographie" bleibt unzureichend, da sich niemand die Belege aus den Anmerkungen heraussucht.
Mit dieser Monographie liegt eine Untersuchung vor, die unser Verständnis von aṭ-Ṭabarīs Annalen deutlich vertieft. Nach der Lektüre der Poetics sieht der Leser die Annalen in einem anderen Licht. Boaz Shoshan sei dafür herzlich gedankt!
Jens Scheiner