Christiane Kohser-Spohn / Frank Renken (Hgg.): Trauma Algerienkrieg. Zur Geschichte und Aufarbeitung eines tabuisierten Konflikts, Frankfurt/M.: Campus 2006, 350 S., ISBN 978-3-593-37771-1, EUR 32,90
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Frank Renken: Frankreich im Schatten des Algerienkrieges. Die Fünfte Republik und die Erinnerung an den letzten großen Kolonialkonflikt, Göttingen: V&R unipress 2006, 569 S., ISBN 978-3-89971-300-8, EUR 69,00
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Kaum ein historisches Thema ist in Frankreich in den letzten Jahren so intensiv diskutiert worden wie der Algerienkrieg. "Das Ende der Amnesie" hatte schon 2004 ein viel beachteter und voluminöser Sammelband diagnostiziert und die "Wiederkehr der Erinnerungen" hat zu einer Flut von Veröffentlichungen aller Art geführt: Wissenschaftliche Werke, Memoirenbände, Zeitzeugenberichte, Essays, Pamphlete. Umso erfreulicher ist es, dass sich diese Debatten inzwischen auch in einigen deutschsprachigen Publikationen niedergeschlagen haben. Zwei von ihnen sollen hier vorgestellt werden.
Der von Christiane Kohser-Spohn und Frank Renken herausgegebene Sammelband "Trauma Algerienkrieg" geht zurück auf eine Tagung, die im Februar 2004 am Georg-Eckert-Institut in Braunschweig stattgefunden hat. Der Band wird eröffnet mit einem Beitrag von Frank Renken, der eine auch für Laien verständliche, gut lesbare und präzise Ereignisgeschichte des Algerienkrieges liefert. Es folgt ein erster Block von Beiträgen, die der französischen Erinnerung an den Konflikt gewidmet sind. Nacheinander wird die Rolle der Historiografie (Guy Pervillé), der Medien (Patrick Eveno), der Populärkultur und insbesondere des Rap (Dietmar Hüser), der Literatur (Mechthild Gilzmer) und der Schulbücher (Sandrine Lemaire) bei der Aufarbeitung des Krieges analysiert. Sehr plastisch kann gezeigt werden, wie sehr sich das Bild des Algerienkrieges in den letzten Jahren gewandelt hat. Zahlreiche inhaltliche Überschneidungen lassen die Lektüre allerdings bisweilen etwas beschwerlich werden: So tauchen die Schlüsseldaten dieser Transformation - 1999 die (gesetzliche) Anerkennung des Konfliktes in Nordafrika als "Krieg", 2000-2002 die Debatte um die Folter, 2003 die "année d'Algérie", 2005 der Streit um das Gesetz vom 23.2.2005, in dem die "positive Rolle" Frankreichs in den Kolonien als schulisches Lernziel festgeschrieben wird - in (fast) allen diesen Beiträgen auf. Es ist auch nicht zu übersehen, wie umstritten die Deutung der Ereignisse zwischen 1954 und 1962 in Nordafrika bis heute noch ist: Eindringlich hat Guy Pervillé die Historiker davor gewarnt, sich in den "Krieg der Erinnerungen", der in Frankreich zwischen den verschiedenen Erinnerungsgemeinschaften entbrannt ist, hineinziehen zu lassen. Sein Plädoyer für die "Ökumene der Historiker" mag ein wenig naiv erscheinen, ist aber angesichts der zahlreichen Versuche (nicht zuletzt auch des Staates), die Wissenschaft in den Dienst der Identitätsstiftung durch Erinnerung zu nehmen, unbedingt ernst zu nehmen.
Den zweiten inhaltlichen Block bilden sieben Beiträge zur algerischen Seite: Gilbert Meynier, der den "revolutionären" Anspruch der algerischen Befreiungsfront FLN kritisch überprüft, und Werner Ruf, der die Entwicklung des unabhängigen Algerien seit 1962 Revue passieren lässt (dabei allerdings die Erinnerung an den Krieg, die im Titel seines Beitrages angekündigt wird, mit kaum einem Wort erwähnt), wenden sich "realgeschichtlichen" Fragen zu. Die Beiträge der algerischen Autoren Fouad Soufi, Daho Djerbal, Tayeb Chenntouf, Hassan Remaoun und Mourad Bencheikh hingegen sind der Erinnerung an den Konflikt gewidmet, wobei gleich mehrere Beiträge besonders auf den Schulunterricht fokussieren (Chenntouf; Remaoun). Allein die Tatsache, dass inzwischen ein produktiver Dialog zwischen französischen (und anderen "westlichen") Autoren und algerischen Wissenschaftlern möglich geworden ist, zeigt, dass auch auf der anderen Seite des Mittelmeers die bisherige, monolithische Sicht auf den Krieg aufgebrochen werden konnte. Die Beiträge machen aber auch deutlich, wie begrenzt diese Erneuerung noch ist. Zwar sind einige "Tabus" der Nachkriegsgeschichte gefallen, in Forschung und Lehre wie im staatsoffiziellen Diskurs herrscht aber dennoch weiterhin ein weitgehend homogenes Bild vor, in dessen Zentrum der heroische Freiheitskampf des algerischen Volkes unter der Führung des FLN steht.
Einen letzten Block bilden zwei Beiträge, die sich mit der Rolle der beiden deutschen Staaten im Konflikt zwischen der französischen Kolonialmacht und den algerischen Nationalisten beschäftigen (Jean-François Kahn über die Bundesrepublik, Fritz Taubert über die DDR). So überzeugend diese Beiträge jeweils für sich genommen sind, so wirken sie im Kontext des gesamten Bandes doch wie Fremdkörper, denen ein erkennbarer Zusammenhang mit den übrigen Beiträgen fehlt. Ähnliches gilt für den abschließenden Beitrag von Hartmut Elsenhans, der "anstelle eines Fazits" in den Band aufgenommen wurde. Elsenhans' eigenwillige und originelle Interpretation des Algerienkonfliktes, die er hier in einer Kurzform wiederholt, ist bekannt; ihre Berechtigung ist hier nicht zu diskutieren. Ob sie aber geeignet ist, einen Band zu beschließen, dessen übrige Beiträge ganz anders argumentieren, erscheint mir zweifelhaft. Erneut drängt sich hier der Eindruck auf, dem ganzen Band hätte eine etwas straffere Konzeption gut getan.
Einen eigenständigen deutschen Beitrag zu der französischen (und algerischen) Debatte - und einen gewichtigen dazu - stellt das zweite hier anzuzeigende Buch dar, Frank Renkens aus einer Berliner Dissertation hervorgegangene Studie "Frankreich im Schatten des Algerienkrieges". Was er vorlegt, ist nicht weniger als eine Gesamtgeschichte der französischen Erinnerung an den Algerienkrieg, vom Ende des Konfliktes 1962 bis zu den Debatten der Gegenwart. Er schreibt diese Geschichte dezidiert als eine politische Geschichte, als eine Geschichte des Algerienkrieges im politischen Kampf der Meinungen und Interessen. Damit will er sich von dem "mainstream" der französischen Forschung (insbesondere von Benjamin Stora, dessen 1992 erschienenes und 1998 wieder aufgelegtes Buch "La gangrène et l'oubli" längst zum Standardwerk avanciert ist) abheben, deren "psychologisierenden" und "moralisierenden" Zugriff er harsch kritisiert und der er eine "tiefsitzende Sehnsucht nach der Stabilisierung einer im steten inneren Konflikt befindlichen Gesellschaft" unterstellt (21; ausführlich 425ff.).
Was Renken interessiert, ist die Geschichtspolitik, sind nicht die Erinnerungen der Einzelnen in ihrem sozialen Kontext oder die Spannung von "Geschichte" und "Erinnerung", sondern das öffentliche Aushandeln von Deutungen der Geschichte, das Prägen von Geschichtsbildern und deren machtbewehrte Durchsetzung. Um dies zu untersuchen, hat er sich für ein "akteurszentriertes" (31) Vorgehen entschieden: Im Zentrum der fünf großen, in sich jeweils weitgehend chronologisch angelegten Kapitel steht jeweils ein geschichtspolitischer Akteur oder eine Gruppe von Akteuren. Den Anfang macht dabei wie nicht anders zu erwarten Charles de Gaulle, der durch den Algerienkrieg den Weg zurück an die Macht gefunden hat, der maßgeblich für das Ende des Krieges verantwortlich war und der nicht weniger maßgeblich den Umgang mit dem Konflikt in der Nachkriegszeit prägte. Dies hieß vor allem: Über den Krieg in Nordafrika wurde ein Mantel des Schweigens gelegt; durch eine Reihe von Amnestien wurde verhindert, dass der Krieg (und der mit ihm einhergehende innerfranzösische Bürgerkrieg) ein juristisches Nachspiel hat; ein staatliches Gedenken an den Krieg analog zu den beiden Weltkriegen fand nicht statt. Im zweiten Kapitel kann Renken zeigen, dass diese "Verdrängung" des Themas durchaus auch im algerischen Interesse lag: Der Übergang von der "colonisation" zur "coopération", der insbesondere in den 1960er Jahren bedeutende finanzielle Transferleistungen nach Algerien bedeutete, sollte nicht durch die Erinnerung an die kriegerischen Auseinandersetzungen belastet werden. Tatsächlich ist die Vehemenz, mit der die algerische Regierung seit einigen Jahren ein öffentliches Schuldeingeständnis Frankreichs für die Kolonialzeit und die Kriegsverbrechen fordert, etwas Neues: Geschichtspolitik ist zum Gegenstand der Diplomatie geworden.
Der dritte Akteur, dem sich Renken widmet, ist die politische Linke aus Sozialisten und Kommunisten: Trotz ihrer Oppositionshaltung gegenüber den konservativen Regierungen de Gaulles und seiner Nachfolger waren auch sie nicht in der Lage, ein geschichtspolitisches Gegengewicht zu bilden. Dass dies der mehr als ambivalenten Politik geschuldet war, die beide Parteien in der Kriegszeit selbst verfolgt haben, kann Renken durchaus plausibel machen. Insbesondere die Sozialisten, an deren Spitze bis zum Tod Mitterrands fast ohne Unterbrechung Politiker standen, die im Algerienkrieg wichtige Regierungsämter innehatten, die 1956 die Intensivierung des Krieges mitgetragen und 1958 die Rückkehr de Gaulles an die Macht unterstützt hatten, fielen als Träger eines alternativen Geschichtsbildes aus.
Gleiches galt auch - allerdings aus anderen Gründen - für die Veteranen des Algerienkrieges: Zwar waren insbesondere unter den Wehrpflichtigen viele, die der Sache der "Algérie française" gegenüber grundsätzlich kritisch eingestellt waren und das militärische Engagement Frankreichs ablehnten; der Veteranenverband FNACA, in dem sie sich organisierten, nahm jedoch bald nach dem Krieg eine grundsätzlich unpolitische Linie ein und beschränkte sich darauf, die sozialen Anliegen seiner Mitglieder, d.h. vor allem die Gleichstellung mit den Veteranen der beiden Weltkriege, durchzusetzen. Erst in der Debatte um die Einführung eines Gedenktages für die Opfer des Krieges nahm die FNACA geschichtspolitisch Stellung, indem sie deutlich den 19. März, den Tag des Waffenstillstandes 1962, favorisierte. Bleiben die Anhänger der "Algérie française", die ihr Heil im Terror der OAS suchten und die de Gaulle den "Verrat" an den einstigen Idealen und Interessen nicht verzeihen konnten. Ihnen erkennt Renken einen gewissen Erfolg im Kampf um die Deutung des Konfliktes und seines Ausganges zu: Ihre Thesen zur Legitimität der französischen Präsenz in Nordafrika, zur Illegitimität des FLN und zum "verschenkten Sieg" der Armee seien nach de Gaulles Tod zunehmend auch in der gemäßigten Rechten salonfähig geworden; Jean-Marie Le Pens "Front National" seinerseits hat von seiner Verankerung in der Tradition der "Algérie française" und der OAS eh nie ein Hehl gemacht.
Renkens Analyse beruht auf der Auswertung eines breiten Korpus von (meist publizierten) Quellen. Weshalb das gaullistische Geschichtsbild die französischen Debatten über den zurückliegenden Krieg so lange dominieren konnte, kann Renken über weite Strecken überzeugend erklären. Dennoch bleibt nach der Lektüre des über 500 Seiten starken Bandes ein ungutes Gefühl zurück. Aus drei Gründen:
Die ausschließliche Konzentration auf die politische Dimension der "Vergangenheitsbewältigung" überzeugt nicht und lässt gar zu viele Fragen offen. Geschichtliche Ereignisse sind eben doch mehr als nur "Material" im ideologischen und tagespolitischen Kampf der Parteien und sozialen Bewegungen. Fragen der Generationalität, auch der Ethnizität werden gar nicht erst gestellt: So kommt es, dass Renken zur Erklärung der plötzlichen Erneuerung der Algeriendebatten in den 1990er Jahren zwar auf die (im Rückblick allerdings wenig dramatische) Zuspitzung sozialer Konflikte hinweist, das viel näher liegende Eingreifen der algerischstämmigen Migranten in die Debatten hingegen mit keinem Wort erwähnt.
Ärgerlich ist zweitens der ausgesprochen hemdsärmlige, oft polemische Umgang mit anderen Autoren, deren Aussagen und Thesen oft in verkürzter, zugespitzter oder grob vereinfachter Form wiedergegeben werden, um sie so leichter widerlegen zu können. Wäre Benjamin Storas "La gangrène et l'oubli" tatsächlich so krude psychologisierend, wie es Renken darstellt, wäre ihm wohl kaum ein derartig nachhaltiger Erfolg beschieden gewesen. Wenn man die (lohnende) Mühe auf sich nimmt, Stora zu lesen, wird man eines Besseren belehrt. Auch an anderer Stelle macht es sich Renken mit seinen oft ausgesprochen apodiktischen Urteilen zu einfach: Etwa wenn er die Machtübernahme de Gaulles im Mai 1958 (die seit langem Gegenstand einer kontroversen Debatte ist) konsequent als "Staatsstreich" bezeichnet und alle anderen Einschätzungen (immerhin folgte de Gaulles Regierungsbildung vollständig den Vorschriften der Verfassung) letztlich als reine Fortschreibung des de Gaulle-Mythos betrachtet.
Schließlich: Angesichts des großflächigen Abbaus von Lektorenstellen in den Verlagen muss man sich an flüchtig lektorierte Bücher gewöhnen. Eine Fehlerdichte wie im vorliegenden Band (Interpunktion, Grammatik, Stilistik) übersteigt jedoch das Maß des Erträglichen. Unglücklich ist auch der Umgang mit französischen Begriffen im deutschen Text: Renken benutzt diese stets mit dem Artikel des deutschen Äquivalents, er schreibt also "die parti socialiste" oder "das Algérie française". Das mag dem deutschen Ohr vertrauter klingen, bleibt aber dennoch falsch: "Le parti" ist nun einmal ein Maskulinum so wie "l'Algérie" ein Femininum ist und beide bleiben es auch in einem deutschen Textumfeld.
Fazit: Eine ambitionierte Studie, deren Potenzial jedoch leider nur zum Teil ausgeschöpft werden konnte.
Daniel Mollenhauer