Rezension über:

Lindy Grant: Architecture and Society in Normandy 1120-1270, New Haven / London: Yale University Press 2005, 273 S., ISBN 978-0-300-10686-2, GBP 45,00
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Rezension von:
Stephan Albrecht
Institut für Kunstgeschichte, Universität Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Ute Engel
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Albrecht: Rezension von: Lindy Grant: Architecture and Society in Normandy 1120-1270, New Haven / London: Yale University Press 2005, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 11 [15.11.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/11/10582.html


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Lindy Grant: Architecture and Society in Normandy 1120-1270

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Die Architekturgeschichte des Mittelalters steckt in einer Krise. Das Feld scheint abgeackert: Der steinige Weg der Erforschung von Wandsystemen, Baufugen und Profilen, das mühevolle Studium der lateinischen Quellen scheinen keine Aussichten auf große geisteswissenschaftliche Entwürfe mehr zu versprechen. War in Zeiten des universitären Wachstums die Kathedrale zum Aushängeschild der institutionalisierten Kunstgeschichte emporgestiegen, so gehörte sie in den Zeiten der Rezession des Faches zu den ersten Bauernopfern. Die Konzentration auf die architektonische Form, einst als große Stärke der Kunst- und Architekturgeschichte geschätzt, verliert an Attraktivität, weil sie nur schwer den gestiegenen Bedarf der Bildwissenschaft an Sinnvermittlung und Sinnstiftung befriedigen kann. Unter diesen ungünstigen Voraussetzungen erschien 2005 Lindy Grants grundlegende Monografie über die gotische Architektur in der Normandie. Es ist ein wichtiges Buch, das eine große Lücke in der Kathedralforschung schließt.

Die geografisch-territoriale Konzentration auf die gotische Architektur in der Normandie rechtfertigt sich sowohl historisch als auch formgeschichtlich. Das mächtige Herzogtum der Normandie war zwar nominell dem französischen König als Lehen zugeordnet, tatsächlich aber praktisch selbstständig, mehr noch: ökonomisch und politisch der Krondomäne überlegen. Dies zeigt sich auch an der Architektur, die selbst nach dem Untergang des Herzogtums 1204 bzw. 1214 ihren eigenständigen Charakter beibehielt. Das Material selbst verlangt also geradezu diese geografisch-territoriale Perspektive. Eine methodische Reflexion über das jüngst wieder populärer gewordene Problem der Kunstlandschaft bietet das Buch jedoch nicht.

Während zu anderen Regionen Frankreichs, besonders zur Île-de-France, zu Burgund und Südfrankreich bereits vor vielen Jahren Überblicksdarstellungen erschienen sind, musste man auf die Bearbeitung der Normandie ungewöhnlich lange warten. [1] Diese Verspätung liegt in der Geschichte des Buches selbst begründet: Es handelt sich um die überarbeitete Fassung einer bereits in den 1970er Jahren begonnenen und 1986 abgeschlossenen Dissertationsschrift. Die lange Spanne zwischen Niederschrift und Veröffentlichung sieht man dem Werk an, im positiven wie im negativen Sinn: Es zeigt sich weitgehend resistent gegenüber wissenschaftlichen Moden, bisweilen wird es von der eigenen Rezeption überholt. Wer sich bisher mit der gotischen Architektur in der Normandie beschäftigte, musste das unbebilderte Manuskript in der Convey-Library studieren. Einige Aufsätze, die Lindy Grant in den letzten beiden Jahrzehnten zu Detailaspekten publiziert hat, erweckten die Neugier auf den Gesamttext. Das hat vor allem in den 1990er Jahren einige deutsche Forscher nach London gezogen. [2] Leider nimmt die Autorin zu diesen frühen Früchten ihrer eigenen Arbeit nicht mehr Stellung.

Bei dem Buch handelt es sich um eine klassische Monografie in der Tradition der 1980er Jahre. Sie hat in erster Linie eine kritische Aufbereitung und Gliederung des reichen Materials zum Ziel. Die knappen, einleitenden Abschnitte sind den historischen Voraussetzungen gewidmet: der politischen Verfassung, der Verwaltungsstruktur, der Sozialstruktur, der spezifisch normannischen Ausprägung von Frömmigkeit und der kleinen Schicht der Auftraggeber. Gerade bei der Frage der Auftraggeberschaft hätte man sich eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand gewünscht: Hier kommen vor allem Herrscherfamilien und Bischöfe als Stifter zur Sprache und die Autorin macht auf die markanten Unterschiede zur Île-de-France aufmerksam. Gerne hätte man mehr über die Rolle der Kathedralkapitel gewusst, die in der französischen Krondomäne als verantwortliche Bauträger ausgemacht wurden. Sind die Verhältnisse der Auftraggeberschaft in der Normandie also grundlegend verschieden? Der schillernde Fall des ehrgeizigen Bischofs Arnulf von Lisieux lässt diese Vermutung aufkommen (93). Hat das Folgen für die Architektur?

Den Hauptteil des Buches nimmt die Ausbreitung des Materials ein. Die Autorin geht dabei in erster Linie chronologisch vor, in Kombination mit der geografisch sinnvollen Unterteilung in die obere und die untere Normandie. Die Studie setzt ein mit einem kurzen Exkurs zur architektonischen Entwicklung in der Île-de-France im 12. Jahrhundert. Auch wenn immer wieder der Bezug zur Normandie hergestellt wird, erscheint dieser Abschnitt verzichtbar, zumal die Kenntnisse bei einer Publikation von diesem Anspruch bei dem Leser vorausgesetzt werden dürfen. Stattdessen hätte man gerne mehr über die romanischen Voraussetzungen in der Normandie selbst gewusst.

Die Architektur der Normandie oszilliert zwischen der Rezeption von Formen aus der Krondomäne, der beharrlichen Fortsetzung eigener Traditionen und - das macht die Bauten so faszinierend - der sehr eigenständigen Ausbildung eigener Systeme. Die Bauten sind nicht aus der Perspektive von Chartres, Reims und Amiens zu verstehen, sie verlangen nach einer eigenen Sichtweise. Statt Hierarchisierung im tektonischen System findet sich hier eine feine Gliederung durch Abstufungen im Ornament; statt Vereinheitlichung des Raumsystems Diversifizierung durch formale Markierung. Grant arbeitet diese Spezifika der normannischen Gotik überzeugend am Material heraus.

Die engeren Teile zur normannischen Gotik gliedern sich in sieben Abschnitte: zur ersten Auseinandersetzung mit der französischen Architektur 1120 bis 1160, zu bedeutenden Stiftungen einiger Kirchenführer 1160 bis 1170, zu den letzten Jahren des Herzogtums, zu den stilistischen Unterschieden in der oberen (Rouen) und der unteren Normandie (Caen) sowie zur Rezeption des Rayonnant. Den Analysen ist die Doppelqualifikation der Autorin als Historikerin - Lindy Grant ist Professorin für mittelalterliche Geschichte an der Universität Reading - und als Kunsthistorikerin anzusehen. Die Abschnitte zur Architekturgeschichte zeugen von exzellenter Sachkenntnis und scharfsinniger Beobachtungsgabe. Besonders die Erörterungen zu den großen Baustellen von St. Etienne in Caen (Chorneubau) und der Kathedrale von Rouen stellen den Wissensstand auf eine neue Grundlage. Auf unterschiedliche Weise setzen sich beide Bauten mit dem Architekturgeschehen in der Île-de-France auseinander und gelangen dabei zu völlig eigenständigen Lösungen. Bedauern muss man, dass die Autorin nicht mehr auf Dorothee Heinzelmanns 2003 erschienene Monografie zur Kathedrale von Rouen eingehen konnte, die ihrerseits von den Forschungen Grants profitiert hat. Mit guten Gründen wird dort nämlich die Chronologie zwischen der Abteikirche und der Kathedrale umgedreht, was eine Reihe von Thesen, besonders die Bedeutung von Canterbury für Caen, in Frage stellt.

Besonders wichtig ist die überzeugend herausgearbeitete Beobachtung, dass sich so etwas wie eine einheitliche, regionale normannische Gotik gerade in dem Moment herausbildet, als das Herzogtum zu Beginn des 13. Jahrhunderts seine Selbstständigkeit verliert.

Die Architektur steht ganz im Mittelpunkt dieses nahsichtig angelegten Buchs. Es liefert eine notwenige Grundlagenarbeit und erfüllt damit alle Ansprüche an ein 'Standardwerk'. Die Zurückhaltung in der Diskussion neuer methodischer Fragestellungen ist sicherlich auch durch die lange Entstehungszeit des Werks bedingt. Es bleibt ein Ansatz der 1980er Jahre. Für die Erforschung der normannischen Gotik ist das ein Glücksfall. Die Arbeit liefert eine Fülle von Materialien, die Anlass zu einer Reihe von Diskursen bieten dürften. Diese werden erst möglich durch die verlässlichen Vorarbeiten von Grant. Das Modell der Kunstlandschaft wäre zum Beispiel erneut auf den Prüfstand zu stellen, aber auch Suckales Modell der Stillagen kritisch zu hinterfragen. Ist die Kathedrale wirklich die Matrix der Diözese, der sich formal die übrigen Bauten unterordnen? Welche Rolle spielen Domkapitel bzw. Bischöfe als Auftraggeber? Welche Funktion haben praktische Faktoren wie die Verkehrswege (Seine) für die Verbreitung von Formen? Sind Formen überhaupt dazu geeignet politische Inhalte zu veranschaulichen? Genug Anlässe gibt es jedenfalls, sich dank der soliden Forschungsgrundlage durch das Buch von Lindy Grant erneut der Architektur der Normandie zuzuwenden.


Anmerkungen:

[1] Robert Branner: Burgundian Gothic architecture, London 1960; Jean Bony: French Gothic architecture of the 12th and 13th century, Berkeley 1983; Dieter Kimpel und Robert Suckale: Die gotische Architektur in Frankreich 1130-1270, München 1985; Christian Freigang: Imitare ecclesias nobiles. Die Kathedralen von Narbonne, Toulouse und Rodez und die nordfranzösische Rayonnantgotik im Languedoc, Worms 1992.

[2] Matthias Noell: Der Chor von Saint-Etienne in Caen. Gotische Architektur in der Normandie unter den Plantagenêt und die Bedeutung des Thomas-Becket-Kultes, Worms 2000; Dorothee Heinzelmann: Die Kathedrale Notre-Dame in Rouen. Untersuchungen zur Architektur der Normandie in früh- und hochgotischer Zeit, Münster 2003.

Stephan Albrecht